Neue Pisa-Studie: Elende Verhältnisse
Herkunft entscheidet weiter deutlich über Bildungschancen. Die Erklärungsmuster überzeugen nicht. Klar ist aber: Wichtige Reformen kommen zu langsam.
D ie Ergebnisse der Pisa-Studie 2022 lassen sich für Deutschland bündig zusammenfassen: Die Leistungen der Fünfzehnjährigen sind in den drei getesteten Kompetenzbereichen mittelmäßig. Und: Von Chancengleichheit ist das deutsche Schulsystem wie eh und je weit entfernt. Der sozioökonomische Status, einfacher: die soziale Herkunft, sowie die Zugehörigkeit zu einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte bestimmen in einem hohen Ausmaß den Erfolg oder den Misserfolg beim schulischen Lernen.
Beim Lesen liegen die Werte für Deutschland leicht oberhalb des Durchschnitts der OECD-Länder, die Leistungen in Mathematik und in den Naturwissenschaften zeigen ähnliche Werte. In allen Kompetenzbereichen haben sich die Leistungen aber verschlechtert. Damit hat sich der Trend, der schon 2018 beobachtet wurde, fortgesetzt: Im Lesen, in Mathematik und in Naturwissenschaften wurde ein Rückgang verzeichnet.
Klaus Klemm ist einer der bekanntesten deutschen Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Duisburg-Essen. Er war bis Ende 2006 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Pisa-Studien.
Diese Verschlechterung geht einher mit gleichbleibend eindeutigen Befunden zur herkunftsbezogenen Ungleichheit: Weder mit Blick auf die soziale Herkunft noch mit Blick auf die Migrationsgeschichte von Jugendlichen kann auch nur annähernd von Chancengleichheit gesprochen werden: Im Durchschnitt erreichen Kinder aus benachteiligten Familien im Kompetenzbereich Lesen 67 Testpunkte weniger als die aus der sozioökonomisch stärksten Gruppe.
Unter den 36 OECD-Staaten weisen lediglich sieben Länder eine noch stärkere soziale Ungleichheit auf. Ebenso stark ausgeprägt ist die Chancenungleichheit zwischen Jugendlichen ohne und mit Migrationsgeschichte. In unseren Nachbarländern Niederlande, Schweiz und Frankreich sind diese Unterschiede geringer.
Was die Erklärungsmuster für den Leistungsrückgang angeht, die aktuell zu lesen sind: Sie sind mehr oder weniger gut abgeleitete Vermutungen, aber wissenschaftlich wenig belastbar und unterscheiden sich allenfalls durch das Ausmaß ihrer Plausibilität. Ein Erklärungsansatz verweist darauf, dass sich der während der Coronapandemie weithin dilettantische Umgang mit Distanzlernen leistungsmindernd ausgewirkt habe. Dies sei der Grund dafür, dass der europaweit beobachtete Rückgang der Leistungen in Deutschland besonders stark ausgefallen ist. Erklären lässt sich aber der schon von 2015 bis 2018 gemessene Leistungsabfall so nicht.
Ähnlich verhält es sich mit dem Verweis auf den Lehrkräftemangel, der in den Jahren von 2015 bis 2018 weniger stark als jetzt war und daher den damaligen Leistungsrückgang kaum erklären kann. Jetzt betrifft der Mangel zunächst besonders Grundschulkinder; falls er Wirkungen haben wird, lässt er wenig Gutes für die nächste Pisa-Studie erwarten. Als weiterer Grund für den Leistungsrückgang wird regelmäßig auf das gegliederte Schulwesen Deutschlands verwiesen.
Schule für alle nicht per se besser
Denen, die sagen, ein Festhalten an der gegliederten Schulstruktur würde leistungssteigernd wirken, kann entgegnet werden: Das deutsche Gymnasium erreicht trotz seiner ausgewählten Schülerschaft beim Lesen mit 546 Testpunkten nicht den Wert des internationalen Spitzenreiters Singapur (561) – eines Landes, in dem die Kinder und Jugendlichen nicht nach ihrer Leistungsfähigkeit sortiert werden. Andererseits kann denen, die meinen, ein weniger untergliedertes System wäre leistungsstärker, erwidert werden, dass etwa Frankreich mit dem in der Sekundarstufe I ungegliederten System schwächere Durchschnittsleistungen als Deutschland erbringt.
Schließlich muss der Föderalismus regelmäßig als Hindernis für gute Pisa-Ergebnisse herhalten. Wenn er denn eine leistungsmindernde Wirkung haben sollte, so bleibt die Frage, warum er die Leistungssteigerungen von Pisa 2000 bis Pisa 2015 „zugelassen“ hat? Viel wichtiger indes ist ein anderes Argument gegen die Föderalismus-These. Ein Blick in die internationalen Befunde zeigt: Im klassischen Gegenmodell zum deutschen Föderalismus, im hoch zentralisierten Frankreich, erreichen die Jugendlichen im Kompetenzbereich Lesen 2022 insgesamt 474 Testpunkte. Die Jugendlichen in Deutschland hingegen kamen 2022 auf 480 Punkte. In Kanada, einem Land, das im Bildungsbereich mit dem deutschen Föderalismus durchaus vergleichbar ist, erreichten die Jugendlichen sogar 507 Testpunkte.
Wenn aber all die erklärenden Hinweise – Pandemie, Lehrkräftemangel, Schulstruktur, Föderalismus – nicht oder doch nur begrenzt tragen, was bleibt dann? Ohne vorschnelle Antworten anbieten zu wollen, darf doch festgestellt werden: Wichtige Vorschläge werden seit der ersten Pisa-Studie aus dem Jahr 2000 immer wieder formuliert und angekündigt – so etwa die Frühförderung im Vorschulbereich, Ganztagsschulen, die mehr als eine nachmittägliche Betreuung anbieten, gezielte Förderung von Kindern sowohl aus sozial benachteiligten Familien als auch aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte.
Langsamer als Schnecken
Diese Vorschläge wurden aber nie oder allenfalls zaghaft umgesetzt. Zwei Zitate belegen die Konstanz der elenden Verhältnisse: Am 4. Dezember 2001 formulierte Willi Lemke, damals Bildungssenator in Bremen und Vizepräsident der Kultusministerkonferenz (KMK), mit Blick auf die erste Pisa-Studie: „Vorrangig müssen wir die bisherigen Fördermaßnahmen und Lernstrategien für Schülerinnen und Schüler aus bildungsferneren Elternhäusern überprüfen und verbessern.“ Fast 20 Jahre danach, am 8. Dezember 2020, erklärte KMK-Präsidentin Stefanie Hubig als Reaktion auf die „Timss“-Studie (über Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften, d. Red.) von 2019: „Wir müssen (…) dafür sorgen, dass der Bildungserfolg unserer Schülerinnen und Schüler nicht von der Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern abhängt.“
Veränderungen im deutschen Schulsystem sind wohl noch etwas langsamer als Schnecken.
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