Negativitätseffekt des Gehirns: Tagebuch der guten Dinge
Unser Gehirn neigt dazu, sich auf Negatives zu konzentrieren, das Positive aber zu vergessen. Unsere Kolumnistin hat eine Strategie dagegen.
E s gibt Zeiten, da fühlt sich vieles dunkel an, in diesem Jahr besonders. Menschen haben Angehörige verloren und erleben dadurch eine Dunkelheit, die sich so dicht und schwer anfühlen muss, dass sie unendlich erscheint. Menschen haben Existenzen verloren und werden noch lange damit beschäftigt sein, sich wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Menschen haben Strukturen verloren, an denen sie sich festhalten können, Menschen mit Depressionen, von Gewalt Betroffene, Eltern, Schüler*innen – die Liste ist lang. Nach einem solchen Jahr frage ich mich: Wenn so viel verloren wurde, was bleibt?
Ich führe seit einem Jahr ein besonderes Tagebuch. Ich schreibe alles hinein, was mich an diesem Tag beschäftigt hat, was ich erlebt, gesehen, gefühlt habe. Meine Einträge erfüllen eine Bedingung: Sie müssen positiv sein. Das heißt nicht, dass ich nur die guten Dinge aufschreibe und die schlechten weglasse; ich erkläre mir, Abend für Abend, was Gutes aus dem folgt, was ich als schlecht erlebt habe. Und ich halte jede positive Erfahrung fest, so klein sie auch sein mag.
Anfang des Jahres erholte ich mich langsam von langer, schwerer Krankheit; ich notierte in meinem Tagebuch nicht, dass ich noch immer nicht so leicht joggen konnte wie früher, sondern wie glücklich ich war, jeden Tag ein bisschen länger joggen zu können. Ich schrieb jenen Moment auf, in dem ich mich wieder im Spiegel anschaute, ohne Angst und Krankheit zu sehen, sondern ein Lächeln. Ich schrieb zu jedem Spaziergang, zu jedem Gespräch mit Freund*innen und Familie ein paar Worte auf.
Ich tue das, nicht weil ich mich abends neben meinen Traumfänger setze und mit Duftkerzen und mit Gong irgendein Ritual einleite (nichts gegen Traumfänger, Duftkerzen und Gong). Sondern ich tue das, weil ich mich schon länger mit dem Gehirn beschäftige und weiß, dass das Gehirn einer Art Wahrnehmungsstörung unterliegt: dem Negativitätseffekt.
Das Gute vergilbt
Das Gehirn hält an allem fest, das schlecht ist, das Angst macht. Aber es vergisst jene Dinge, die gut sind. Es wirkt auf Negatives wie Klett, auf Positives wie Teflon. Wir wissen noch Jahre später, was uns jemand Böses angetan hat, oft in erstaunlichem Detail, aber die zahlreicheren guten Momente, die wir mit dieser Person hatten, vergilben wie Fotos im Fotoalbum. Wir erinnern uns an das, was wir verloren haben, nicht an das, was bleibt.
Nein, Menschen, die Angehörige verloren haben, Existenzen und so vieles andere, kommen mit einem Tagebuch der guten Dinge nicht einfach aus dem Dunkel hinaus. Das Leid, das sie erleben, ist schwer und fest, es hebt sich nicht leicht. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Zeit, Zuneigung und Zuwendung. Dennoch sollten wir nicht vergessen: Wir haben dem Schlechten immer etwas entgegenzusetzen, so klein es auch ist. Wir haben zwar leider oft keine Kontrolle darüber, ob wir fallen. Aber wir entscheiden, wie wir landen. Wir entscheiden, was bleibt.
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