piwik no script img

Nach der Wahl in der TürkeiDie Liebe zum Reis

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Der von Erdoğan geförderte Islamo-Nationalismus hat es der türkischen Opposition schwer gemacht. Für die Stichwahl stehen ihre Chancen eher nicht gut.

Eine Anhängerin von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Sonntag in Istanbul Foto: Francisco Seco/ap

Ich liebe Erdoğan!“ Der Satz hört sich in deutschen Ohren wohl an wie ein Witz, zumindest wie eine Übertreibung. Wer würde schon ernsthaft sagen „Ich liebe Merkel“? Tatsächlich gibt es aber in der Türkei Hunderttausende Menschen, die das ernsthaft behaupten.

Sie lieben und verehren ihren „Reis“, ihren Führer, ohne Abstriche. Eine bittere Erkenntnis aus dem Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahl ist, dass die Gruppe dieser bedingungslosen Er­do­ğan-Verehrer offenbar doch größer ist als zuletzt angenommen.

Einige Beobachter sprechen von einem in 22 Jahren Erdoğan-Herrschaft analog zum Kemalismus neu entstandenem „Erdoğanismus“, einem ideologischen Amalgam von Islam und Nationalismus, in dem diese AnhängerInnen voll aufgehen. Menschen, die ihr Selbstwertgefühl daraus beziehen, dass Er­doğan angeblich eine Türkei geschaffen hat, die sich vom Westen nicht mehr gängeln lässt, die militärisch stark ist, die ihre eigenen Regeln setzen kann.

Das wird unterstützt durch eine zweite Komponente, die von vielen Beobachtern unterschätzt wurde. Er­do­ğan geriert sich als der wahre Führer des sunnitischen Islam, der dort wieder ansetzt, wo die Türkei mit dem Untergang des Osmanischen Reichs diesen Status verloren hat.

Nicht nur Muslimbrüder haben für Erdoğan getrommelt

Erdoğan hat Istanbul zum Zentrum der Muslimbruderschaft gemacht, die gerade jetzt, wo sich abzeichnet, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad seine Macht wieder konsolidieren kann, für ihre Basis in Istanbul kämpft. Aber nicht nur die Muslimbrüder haben für eine Wiederwahl Erdoğans getrommelt, von den Taliban im Osten bis zu diversen libyschen Scheichs im Westen haben alle zu Erdoğans Wahl aufgerufen. Für seine Anhänger in der Türkei ein klares Zeichen, dass ihr „Reis“ tatsächlich der Führer der islamischen Welt ist.

Die Opposition hat diesem Islamo-Nationalismus die Rückkehr zur Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit entgegengestellt. Sie hat damit mehr Menschen erreicht als jemals zuvor seit Erdoğans Machtantritt. Sie kann etwas Neues anbieten, während Erdoğan nur mehr vom Alten verspricht. Die Jugend des Landes ist deshalb überwiegend auf ihrer Seite, doch es gibt viele Skeptiker, die der Opposition nicht zutrauen, eine stabile Regierung zu bilden.

Erdoğan hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen einmal einen bescheidenen Wohlstand gebracht

Denn außer denen, die Erdoğan lieben, und denen, die nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit streben, sind die meisten, die es zu gewinnen gilt, diejenigen, die erst einmal auf ihren Vorteil schauen. Notgedrungen sind das viele Menschen, die durch die Wirtschaftskrise in existenzielle Not geraten sind. Oppositionsführer Kılıç­dar­oğlu hat diesen Menschen versprochen, ihre Situation zu verbessern, die Inflation zu bekämpfen und die Preise damit wieder zu senken. Doch gute Wirtschaftspolitik ist schwer in massentaugliche Parolen zu bringen.

Erdoğan hat viele zum Wohlstand gebracht

Entscheidend ist, ob demjenigen Politiker, der sie verspricht, genügend Kompetenz dafür zugetraut wird. Erdoğan hat, durch welche Umstände auch immer begünstigt, vielen Menschen vor zehn Jahren einmal einen bescheidenen Wohlstand gebracht. Trotz seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre bleibt ein Rest von Vertrauen in den „Reis“, die Leute kennen ihn; Kılıçdaroğlu wäre da erst einmal ein Sprung ins Ungewisse. In unsicheren Zeiten ist Angst ein starkes Motiv, viele Leute wollen dann eben keine Experimente wagen. Dazu kommt das Jahr für Jahr größer gewordene Heer von Opportunisten, die durch das Erdoğan-Regime zu Jobs und Privilegien gekommen sind, die sie nicht verlieren wollen.

Außerdem sitzt der Präsident auch während der Wahl an den Hebeln der Macht. Immer mehr Indizien sprechen dafür, dass es in größerem Umfang zu Manipulationen gekommen ist. Für die Stichwahl in einer Woche sind das keine guten Aussichten. Die Opposition scheint ihr Potenzial ausgeschöpft zu haben und wenn sie Wahlbetrug in der ersten Runde nicht verhindern konnte, wird es ihr auch in der zweiten kaum gelingen.

Kılıç­dar­oğlu schwingt nationalistische Keule

Kılıç­dar­oğlu versucht nun, durch eine stärker nationalistische Ansprache noch Wähler des ausgeschiedenen dritten Präsidentschaftskandidaten, des Rechtsaußen Sinan Oğan, auf seine Seite zu ziehen. Das wirkt wenig überzeugend, eher wie aus Verzweiflung geboren.

Denn wenn er nun frühere Versuche Erdoğans, mit der PKK zu verhandeln, als Zugeständnisse an Terroristen geißelt, verschreckt er nur kurdische Wähler, und ob er mit dem Versprechen, sofort nach einem Wahlsieg alle Flüchtlinge abzuschieben, mehr Rechtsaußen-WählerInnen gewinnen kann, als andere zu verprellen, ist sehr fraglich. „Natürlich können wir noch gewinnen“, sagte einer der Architekten des Opposi­tions­bündnisses, „das käme aber einem kleinen Wunder gleich.“ In der Türkei ist allerdings alles möglich, wie jeder Beobachter hier schnell lernt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Es gibt Erdogan - Fans, das stimmt. Aber es gibt so viel Manipulationen, Einschränkungen und Repressionen, das die Situation in der Türkei eigentlich heute schon eine Diktatur ist. Demirtaş sitzt im Gefängnis, Kurden und Linke werden überwacht und weg gesperrt. Die Presse ist kontrolliert und zensiert. Viele Türken leben in Ruinen, weil ihre Häuser eingestürzt sind. Gebaut haben die Unternehmer mit Hilfe der AKP und der MHP. Die Regierung schürt Hass gegen Syrer, greift gleichzeitig die Kurden in Syrien und im Irak immer wieder an. Dieses Land ist nicht frei und es gibt dort keine freien und fairen Wahlen. Der Sieger steht fest. Und das stand er auch schon vor einem Jahr.

    • @Andreas_2020:

      Ja, so siehts wohl aus.



      Opposition haben in Diktatur kaum eine Chance.



      Und genau diese Chance muss die Opposition nehmen.

      Die Vergangenheit zeigt , dass genau das auch möglich und plausibel ist.



      Vielleicht schon am kommenden Sonntag!

  • Danke für diese interessanten Einblicke!



    Trotz Wahlkampfgeheul, das auch schon mal daneben geht, wünsche ich den Türkinnen und Türken eine Rückkehr zur Gewaltenteilung und Demokratie.

    • @Philippo1000:

      Ja, das wünsche ich ihnen auch SEHR!

  • 》Kılıç­dar­oğlu versucht nun, durch eine stärker nationalistische Ansprache noch Wähler des ausgeschiedenen dritten Präsidentschaftskandidaten, dem Rechtsaußen Sinan Oğan, auf seine Seite zu ziehen. Das wirkt wenig überzeugend, eher wie aus der Verzweiflung geboren.

    [...] und ob er mit dem Versprechen, sofort nach einem Wahlsieg alle Flüchtlinge abzuschieben, mehr Rechtsaußen-WählerInnen gewinnen kann, als andere zu verprellen, ist sehr fraglich《

    "Versucht nun" - das klingt, als sei es eine Last-Minute Strategie.

    Aber bereits im November 2022 berichtete www.hurriyetdailynews.com 》One of the first things to be done by the oppositional alliance when it comes to power will be establishing contact with the Syrian government for the return of 3.6 million Syrians back to their home country, the leader of the Republican People’s Party (CHP) has said《

    www.hurriyetdailyn...ernment-chp-178619

    Eine eindeutige Agenda, wie sie hierzulande nur die AfD propagieren würde.

    Was allerdings die Co-Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, nicht von einer Wahlempfehlung für Kılıç­dar­oğlu abgehalten hat:

    》Konkret rufe ich zur Wahl von @HDPgenelmerkezi unter dem Dach unserer Schwesterpartei @YesillerSol – sowie des gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu auf. Jetzt noch bis zum 9. Mai Stimme abgeben und für einen Wandel in der türkischen Politik sorgen《

    twitter.com/Ricard...54401921615110145?

  • Mit seinen Äußerungen zu Flüchtlingen und den Kurden in der Türkei offenbart Kilicardoglu, wes Geistes Kind er und die Parteien seines Oppositionsbündnisses sind.



    Da viele türkische Wähler leider immer noch der kemalistischen Indoktrination erlegen sind, die u.a. den türkischen Chauvinismus (auch gegen die ethnischen Minderheiten) propagiert, meint Kilicardoglu offenbar, Erdogan in Sachen Nationalismus noch überbieten zu müssen.



    Es wird ihm nicht helfen, denn der Zug der Zeit ist für den laizistischen Kemalismus längst abgefahren.



    Zu Zeiten des „Entwicklungsdiktators“ Atatürk mag diese Ideologie, die Autokratie und Modernisierung erfolgreich miteinander verbunden hat (die große historische Leistung Atatürks) - durchgängig demokratisch war sie übrigens nie -, für die Entwicklung der Türkei noch gestimmt haben. Heute hat der Islamo-Nationalismus (eine zutreffende Beschreibung, Herr Gottschlich) Erdogans die Oberhand gewonnen.



    Hat es zu Beginn der Herrschaft Erdogans vor 22 Jahren nicht berechtigte Hoffnungen auf Reformen und eine politische Lösung des Konflikts mit den Kurden gegeben? Meine These: nicht der türkische Islam ist das Problem, sondern die chauvinistische Erhöhung des Türkentums, in der die türkische Gesellschaft noch weitgehend gefangen ist. Und das betrifft die Anhänger Kilicardoglus genau so wie die Erdogans. Nur wird heute der „Reis“ von vielen Türken offensichtlich als das Original gesehen, was die Bewahrung des politischen Erbes Kemal Atatürks betrifft.

    • @Abdurchdiemitte:

      Ich und alle anderen Deutschen würden Angela Merkel genauso lieben, wenn sich unser Gehalt unter ihrer Herrschaft verdoppelt hätte. Dies und viele andere Verbesserungen sind in den ersten 10 Jahren unter Erdogan geschehen. Eine gewisses Verständnis für die verklärte Sicht auf Erdogan müssen wir leider versuchen zu verstehen!

      • @Nur—GE:

        Dass wirtschaftliche/materielle Gründe für die Wahl bestimmter Politiker eine nicht unerhebliche Rolle spielen, ist ja bekannt. Nur schließen sie politische Indoktrination, Hetze gegen den politischen Gegner usw. nicht aus.



        Gerade die schwierige ökonomische Situation der Türkei hätte Anlass zur Hoffnung auf einen Regierungswechsel machen müssen, denn Erdogan macht die Türken arm. Also spielt ideologische Verblendung - die ja nun schon seit Jahrzehnten andauert und schon den Kindern in den Schulen “eingebläut” wird - offenbar eine größere Rolle als lediglich materielle Interessen bei einer Wahlentscheidung.



        Das hat jetzt leider erneut Erdogan in die Hände gespielt.

    • @Abdurchdiemitte:

      Nunja , Atatürk war ja für die westliche Orientierung und Säkularisierung. Seit der Aufhebung des Kopftuchsverbits durch Erdogan vor 10 Jahren rotiert,der arme Atatürk im Grab.

      • @Nur—GE:

        Es kommt in der Beurteilung der Staatsideologie Atatürks immer darauf an, ob man den laizistischsten oder den nationalistischen Charakter dieser Doktrin stärker betont.



        Für viele Menschen in den ostanatolischen Gebieten, insbesondere für Kurden und andere ethnische und religiöse Minderheiten, hat der Kemalismus keine Wende zum Besseren gebracht. Im Gegenteil, in den Zwanziger- und Dreissigerjahren gab es mehrere bewaffnete kurdische Aufstände, die vom türkischen Militär derart brutal niedergeschlagen wurden, dass man sie durchaus als Genozid bezeichnen könnte.



        Die quasi-feudalen Strukturen und das Patronagesystem, unter dem vor allem die Dörfler litten, wurde von Atatürk eben nicht beseitigt, die Modernisierung kam in den Kurdengebieten der Türkei erst gar nicht an. Hierin liegt übrigens eine der Hauptquellen für den heutigen türkisch-kurdischen Konflikt.



        Der Sozialdemokrat Ecevit scheiterte in den Siebzigerjahren bekanntlich mit seinen Reformen, die u.a. die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung des Ostens vorsahen. Er sah den Kurdenkonflikt nicht als ein primär ethnisches Problem, sondern als eines von ökonomischer Unterentwicklung (womit er prinzipiell ja recht hatte). Aber er scheiterte mit seinen Plänen, 1980 kam der nächste Militärputsch - ironischerweise lässt sich sagen, dass Erdogan dem Land 22 Jahre innenpolitische Stabilität beschert hat (wohl auch ein Grund für seine Popularität) - und in den Achtzigerjahren auf kurdischer Seite die PKK mit ihrer Ethnisierung des Konflikts.



        Hierzulande wird in der Kritik der Zustände in der Türkei auch gerne vergessen, dass es sich bei der AKP nicht um eine radikal islamistische, sondern eher eher gemäßigte islamisch-konservative Partei handelt, die eben wegen dieser Ausrichtung viel Zustimmung unter der türkischen Bevölkerung findet.

        • @Abdurchdiemitte:

          Die AKP ist eine Partei, die nicht nur für eine islamisch-türkische Diktatur eintritt, sondern die auch umsetzt. Journalisten, Linke und Kurden sitzen in Gefängnissen.

          • @Andreas_2020:

            Wäre die Türkei eine Diktatur, hätte es keine freien Wahlen gegeben mit wenigstens der Aussicht auf einen Erfolg der Opposition.



            Wir können uns wohl darauf einigen, dass es sich hier um eine schleichende Aushöhlung demokratischer Prinzipien und Rechte handelt. Diese Entwicklung gibt natürlich Anlass zur Sorge und das nicht nur in der „fernen“ Türkei, sondern inmitten Europas. Und sie ist gefährlich, weil sie sich eben schleichend, Zug um Zug und manchmal kaum merkbar vollzieht. Die Übergänge von der Demokratie über autoritäre Systeme bis hin zu Diktaturen sind oft fließend und wenn die Menschen aufwachen, ist es meistens zu spät.



            So ist es auch mit der krmslistischen Ideologie, die u.a. Kilicardoglus CHP vertritt … nur weil sie Laizisten sind (und sich sogar als Sozialdemokraten bezeichnen), sind sie noch lange nicht lupenreine Demokraten. Darauf wollte ich lediglich hinweisen. Und nicht umsonst habe ich Atatürk einen Entwicklungsdiktator genannt, würdige zugleich aber die Fortschritte, die er der Türkei gebracht hat. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es also noch viele Grautöne.



            Linke, Kurden und Journalisten saßen in der Türkei übrigens zu allen Zeiten im Gefängnis und immer haben Oppositionelle für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie gekämpft, im Exil und in der Türkei selbst, unter oft schwierigen Bedingungen … jetzt, mit Erdogan und der AKP, sind die Verhältnisse leider nicht besser geworden, im Gegenteil. Da stimme ich Ihnen zu.