Nach dem Bootsunglück vor Griechenland: Die Küstenwache griff nicht ein
Mehrere Hundert Tote befürchtet. Die griechischen Behörden hatten das überfüllte Fischerboot mehr als 10 Stunden lang begleitet, statt einzugreifen.
Noch tief in der Nacht zu Mittwoch, um genau 2:04 Uhr Ortszeit, hatte der Kapitän eines mehrere Stunden zuvor herbeigeeilten Schiffes der griechischen Küstenwache seiner Einsatzzentrale mitgeteilt, dass das vom ostlibyschen Tobruk in See gestochene Fischerboot mit Kurs auf Italien mit mehreren hundert Flüchtlingen und Migranten an Bord zunächst eine Steuerbord-, dann eine steile Backbord- und schließlich eine weitere Steuerbordwende vollzog.
Sie war so stark, dass das Fischerboot kenterte. Die nautische Terminologie dafür lautet: „Flopping“. Zehn bis fünfzehn Minuten später sank das völlig überfüllte Schiff vollständig. Manche Flüchtlinge und Migranten auf den Außendecks sprangen oder fielen über Bord. Die Griechen starteten eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion.
Für das Gros der Bootsinsassen kam jede Hilfe zu spät. Informationen zufolge befanden sich zum Zeitpunkt des Bootsunglücks bis zu 750 Menschen an Bord des Fischerboots. Die insgesamt 104 Geretteten, darunter vier Personen, die direkt von der Unglücksstelle per Hubschrauber nach Kalamata geflogen wurden, waren ausschließlich Männer im Alter von 16 bis 40 Jahren. Laut Medienberichten stammen sie aus Syrien, Pakistan sowie Ägypten. Sie kommen in das Flüchtlingslager in Malakassa nördlich von Athen.
Empfohlener externer Inhalt
Es bleibt unklar, wie viele Schutzsuchende ums Leben kamen
Den übrigen Flüchtlingen und Migranten, maßgeblich Frauen, Kindern und Alten, wurde offenbar zum Verhängnis, dass sie sich während der gefährlichen Fahrt nicht auf dem Außendeck, sondern im Zwischendeck und Rumpf befanden. „An Deck des Schiffes waren die Menschen zusammengepfercht, das Gleiche vermuten wir auch für den Innenraum“, sagte ein Sprecher der griechischen Küstenwache.
Bisher sind 79 Tote geborgen worden. Wie viele Schutzsuchende ums Leben kamen, wird wohl nie geklärt werden. Denn das Ionische Meer zwischen Italien und Griechenland ist an der Unglücksstelle, 47 Seemeilen südwestlich der kleinen Küstenstadt Pylos im äußersten Südwesten des Peloponnes, bis etwa 5.000 Meter tief. Daher dürfte auch das gesunkene Fischerboot kaum zu bergen sein.
Der bis zu den bevorstehenden Parlamentswahlen am 25. Juni in Athen amtierende griechische Interimspremier Ioannis Sarmas ordnete am Mittwoch eine dreitägige Staatstrauer an.
In Griechenland ist derweil ein Streit darüber ausgebrochen, ob die griechischen Behörden nicht sofort nach der Lokalisierung des überfüllten Fischerbootes hätten eingreifen sollen. Wie Nikos Spanos, Admiral a. D. der griechischen Marine, im privaten Athener Fernsehsender „Open“ klarstellte, hätten die griechischen Behörden nach dem Eindringen des völlig überfüllten Fischerbootes in den von Athen kontrollierten Seeraum „sofort und unbedingt“ eingreifen müssen, um Menschenleben zu retten. Und dies, auch wenn sich das Fischerboot nicht in griechischen Gewässern befunden habe. Das sei, so Spanos, international eindeutig geklärt.
Die griechische Küstenwache hebt hingegen hervor, dass der Ansprechpartner auf dem Fischerboot jegliche angebotene Hilfe wiederholt abgelehnt habe. Ein Schiff der griechischen Küstenwache begleitete das Fischerboot nur – stundenlang.
Italienische Behörden hatten Griechenland bereits informiert
„Die Flüchtlinge und Migranten wollten nur eines, wie sie uns sagten: ‚Nach Italien weiterfahren‘. Obwohl sie unsere Hilfe ablehnten, blieben wir vor Ort, damit wir bei Bedarf zur Stelle sein konnten“, verteidigte Nikos Alexiou, Sprecher der griechischen Küstenwache, das Vorgehen der griechischen Behörden. „Jeder andere gewaltsame Versuch hätte ein anderes Ergebnis gehabt, da all diese Leute keine Hilfe wollten. Stellen Sie sich vor, wir hätten versucht, sie zu fesseln, sie umzuleiten, und die Menschen, die darauf bestanden, nicht nach Griechenland zu kommen, wären massiv anderswo untergebracht worden. Wir hätten einen Unfall verursacht, ohne die Möglichkeit zu haben, 104 Menschen zu retten“, fügte Alexiou hinzu.
Dabei hatten bereits am Dienstag um 11 Uhr die Behörden in Rom ihre griechischen Kollegen über die Existenz und Route des Fischerbootes informiert, wie Athen offiziell bestätigt hat. Um 15:35 Uhr habe ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache das Fischerboot definitiv lokalisiert. Die Griechen boten zwar ihre Hilfe an, griffen aber nicht ein. Somit verstrichen exakt 10 Stunden und 29 Minuten von der Lokalisierung bis zum unheilvollen Kentern des heillos überfüllten Flüchtlingsbootes.
Die Suche nach weiteren Überlebenden wurde zwar in der Nacht zu Donnerstag fortgesetzt, jedoch ohne Erfolg. „Weder Überlebende noch weitere Opfer wurden in der Nacht entdeckt“, sagte ein Sprecher der Küstenwache am Donnerstagmorgen. Rund 30 Gerettete mussten im Krankenhaus von Kalamata wegen Unterkühlung behandelt werden. Medienberichten zufolge seien derweil sechs der geretteten Männer verhört worden. Es soll sich dabei um die Schlepper handeln.
Unterdessen haben Angehörige der Vermissten den Hafen von Kalamata erreicht. Sie suchen nach Menschen, die sich an Bord des Fischerbootes befanden. Einer von ihnen ist Malek aus Syrien. Er lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Er erreichte am Donnerstagmorgen den Hafen von Kalamata, auf der Suche nach seinem 18-jährigen Bruder Mohamed. Sie hatten seit sechs Tagen nicht mehr miteinander gesprochen. Alles, was er wusste, war, dass er Syrien verlassen hatte, um nach Italien zu gehen, wie er erzählt. Marios aus Syrien, der in Zypern lebt, ist ebenfalls auf der Suche, nach seinem Neffen. Sein Neffe sei an Bord des Fischerbootes gewesen, wie er sagt. Was Marios schon weiß: Sein Neffe ist nicht unter den 104 Geretteten.
Der Kardiologe Manolis Makaris, der Gerettete im Krankenhaus von Kalamata behandelt, rief auf Bitten seiner Patienten verzweifelt wartende Familienangehörige in einem Ort in Ägypten an. „Offenbar stammen viele der verunglückten Flüchtlinge aus diesem Ort in Ägypten. Mir wurden viele Fotos von Bootsinsassen auf mein Handy geschickt. Die Absender wollten wissen, ob sie leben. Ich konnte ihnen nicht antworten.“ Er fügte hinzu: „Darunter waren viele Fotos von Kindern“.
Experten warnen schon seit Jahren davor, dass vor allem die Flüchtlingsroute über das zentrale Mittelmeer hochgefährlich sei. Im vorigen Jahr sind nach UN-Angaben in der Region mindestens 326 Menschen ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer sei jedoch hoch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit