„Montagsdemos“ in Frankfurt an der Oder: Irgendwie dagegen
Sie sind wütend, sie misstrauen dem Staat, dem „System“, der Demokratie. Und an Montagen trifft man sie auf der Straße. Bringt Reden da noch was?
E in paar hundert Menschen drängen sich um sechs leere Stehpulte in einer grauen Einkaufspassage. Ein Mann mit Anti-Habeck-Plakat ist dabei und rempelt Studentinnen mit Ukraineflaggen an. Gegenüber steht eine Frau mit russischem Georgsband neben der Zeichnung einer Friedenstaube. Sie alle starren angriffslustig auf die hell ausgeleuchtete Fläche in ihrer Mitte. Dazwischen sorgen Dutzende Securities und Polizist*innen dafür, dass die Aggressionen nicht in Gewalt übergehen.
Es ist ein Dienstag Mitte Oktober. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg sendet live aus dem Oderturm in Frankfurt (Oder) ein Gespräch zwischen Bürger*innen und Politiker*innen. An die Pulte treten Bundestagsabgeordnete wie Gregor Gysi von der Linken und Leif-Erik Holm von der AfD. Aus dem Publikum sprechen der Oberbürgermeister, Mitarbeitende der Tafel, Ehrenamtliche der Ukrainehilfe und andere.
Das Gespräch soll klären, warum momentan vor allem so viele Menschen aus dem Osten unzufrieden sind. Besonders emotional wird es, als es um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geht. „Es wird ja mit Russland gesprochen, aber diese Gespräche dürfen nicht zur Erpressung werden“, versucht die Berliner Grünen-Abgeordnete Antje Kapek die Regierungsposition zu erklären. „Scheinheilig!“, schreit darauf mehrmals hintereinander eine mittefünfzigjährige Frau, die mit gereckter Faust auf einer Bank steht.
Störungen wie diese kommen an dem Abend vor allem aus der Ecke vorne rechts. Dort stehen die „Frankfurter Freigeister“. Die Gruppe organisiert die Montagsdemos in der Oderstadt, wo sich seit Monaten die Stimmung aufheizt. Auch die schreiende Frau ist regelmäßig dabei, wenn Tausende Menschen trommelnd, pfeifend und schreiend vom altstädtischen Rathausplatz durch die Innenstadt in ein nahegelegenes Plattenbaugebiet und wieder zurück ins Zentrum ziehen.
Derartige Proteste finden aktuell nicht nur in Frankfurt (Oder) statt. Deutschlandweit rufen seit Juli linke und rechte Initiativen und Parteien zu einem „Heißen Herbst“ auf. Die Themen, gegen die demonstriert wird, reichen von Covid-19-Schutzmaßnahmen über Sanktionen gegen Russland bis hin zu Waffenlieferungen an die Ukraine und Existenzängsten aufgrund von Inflation und gestiegenen Energiekosten.
Die größten Proteste gibt es in Ostdeutschland. Nimmt man ganz Brandenburg, demonstrieren montags regelmäßig bis zu 10.000 Menschen. Die Demos in Frankfurt (Oder) gehören mit bis zu 2.000 Teilnehmenden dabei zu den teilnahmestärksten im Bundesland. Die taz hat die dortigen Entwicklungen über Monate begleitet. Wir haben mit Organisierenden, Teilnehmenden und städtischen Akteur*innen gesprochen. Was bewegt die Menschen zu diesen Demonstrationen? Was denken die Stillen, die den Lauten hinterherlaufen? Wo stehen die Linken, wo die Rechten? Und: Hilft Reden überhaupt noch?
Montag, 26. September, 18 Uhr. Vom verwinkelten Rathausplatz aus führen zahlreiche „Freigeister“ mit Trommeln, Megafonen und Plakaten zu Fuß oder im Lkw die Montagsdemo durch die Abenddämmerung. Auf den Demo-Bannern steht: „Ampel ausschalten“, „Freiheit statt Great Reset“, „Nordstream 2 einschalten“ und „Nordstream 3 planen“. Den Initiator*innen des Protests folgen über 1.500 Kritische und Zweifelnde, Ängstliche und Wütende, Schweigende und Brüllende. Alle sind irgendwie dagegen − gegen Corona, gegen die Regierung, gegen das demokratische System an sich. Auf der breiten Magistrale füllt der Demo-Zug eine ganze Fahrbahn.
Am Ende des Zugs spaziert Kerstin. Die 56-Jährige kommt regelmäßig, immer allein. Sie könne aus gesundheitlichen Gründen keinen Krach ertragen, sagt sie, auch keine politischen Reden und Nachrichten. Aber sie will ihre Unzufriedenheit zeigen. Nostalgisch sagt sie: „Ja, ich vermisse die DDR. Es war nicht alles gut, aber damals hatten wir keine Angst.“ Über Ängste spricht Kerstin besonders viel. Ihren Nachnamen will sie nicht in der Zeitung, vor allem nicht im Internet wissen.
Mit etwas Abstand beobachtet Günter, 62, die Protestmenge. Er trägt einen weißen Haarkranz, erdfarbene Kleidung und ein ledernes Notizbuch. Akribisch notiert er darin die Parolen des Protestzugs. „Man muss dem Volk aufs Maul schauen, hat Luther schon gewusst“, sagt er. Günter ist Parteimitglied der Linken. Er will die Protestierenden verstehen und wünscht sich, dass seine Partei in dieser Gemengelage die Initiative übernimmt. Auch Günter heißt in Wahrheit anders. Er will seinen Namen nicht nennen, weil er Angst vor der Verfolgung durch die rechte Szene hat.
Auf der Demo verrät eine schwarze Flagge mit dem Slogan „Widerstand lässt sich nicht verbieten“ in altdeutscher Schrift, dass auch Anhänger*innen der Reichsbürgerbewegung mitlaufen. Vereinzelt tragen AfD-Anhänger Partei-Pullover. „Klar, sind hier Rechte“, sagt Kerstin. „Aber auch Linke, Grüne und andere. Wir sind alle ganz verschieden.“
Das Motto der Demo lautet „Für Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung“. Schlagworte aus der Coronazeit 2021. Damals zu Hochzeiten der Pandemie formierte sich die Gruppe der „Frankfurter Freigeister“. Etwa ein Dutzend Personen, die via Telegram miteinander kommunizieren. Während der Lockdowns spazierten sie unangemeldet mit 150, einmal mit 800 Teilnehmenden durch die Stadt.
Mittlerweile haben sie sich professionalisiert, lassen Plakate bedrucken, organisieren Ordner*innen, besorgen Lautsprecher und Redebühnen. Einzelne „Freigeister“ stehen verschiedenen Parteien nahe, manche auch keinen. Die AfD ist präsent, aber nicht in der Organisation, nicht in den vorderen Reihen, nie mit dem ersten Redebeitrag. Im Unterschied zu Cottbus oder dem thüringischen Gera spielen rechte Parteien in Frankfurt (Oder) bislang keine tragende Rolle bei dem Protest. Der Verfassungsschutz beobachtet die „Freigeister“ nicht.
Die „Freigeister“ selbst sagen: „Das hier ist die bürgerliche Mitte!“ Und tatsächlich gehen Unternehmer und Physiotherapeutinnen, Handwerker, Angestellte, Familien und Rentner*innen auf die Straße. Kaum jemand von ihnen ist schon in finanziellen Schwierigkeiten. Aber viele fürchten sich davor oder sind wütend, dass sie wieder etwas verlieren könnten.
Die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung prägen die Stadt bis heute. Frankfurt (Oder), kreisfrei und Oberzentrum, ist noch immer eine der ärmsten Städte in Deutschland mit hohen Schulden. Seit 1990 ist die Bevölkerung um ein Drittel geschrumpft. Heute leben hier − eine Zugstunde von Berlin entfernt, direkt an der Grenze zu Polen − gut 56.500 Menschen.
Seitdem Anfang der 90er Jahre das renommierte Halbleiterwerk abgewickelt wurde, das zu DDR-Zeiten Tausende Arbeiter*innen in die Stadt geholt hatte, sind viele Versuche, neue Industrie anzusiedeln, gescheitert. Wohngebiete wurden abgerissen. 2018 wurde René Wilke, heute 38, zum Oberbürgermeister gewählt. Mit ihm wuchs die Zuversicht in der Stadt. Wilke ist Frankfurter, Linker, einer der jüngsten Oberbürgermeister Deutschlands und wird geschätzt für seine Bürgernähe.
Aktuell hofft die Stadt auf neuen Zuzug durch das Tesla-Werk bei Berlin. Und auf den Zuschlag für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation des Bundes.
In der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung ist Wilkes Partei, die Linke, mit zehn von insgesamt 46 Sitzen am stärksten vertreten. CDU und AfD liegen gleichauf mit jeweils neun Sitzen. Grüne und SPD beanspruchen sechs beziehungsweise fünf Sitze. Bei der Bundestagswahl 2021 siegte aber die SPD im Wahlkreis 63 Frankfurt (Oder)/Landkreis Oder-Spree mit knapp 30 Prozent, die AfD landete auf Platz zwei mit über 20 Prozent. Linke, Grüne und FDP erhielten zwischen sechs und 16 Prozent. Auf Landes- und Bundesebene wird, typisch für Brandenburg, viel SPD gewählt. Aber im Lokalen ist die Linke stark verankert. Die AfD legt seit Jahren zu.
Frankfurt erlebt eine sehr typische negative Nachwende-Entwicklung. Darum wird gerade hier an der Europa-Universität Viadrina seit Jahren zu Transformationsprozessen nach politischen Umbrüchen geforscht. In der Zeitschrift Konfliktdynamik vom Sommer 2022 schreibt ein Viadrina-Team konkret über Frankfurt (Oder), dass sich die Menschen hier in Krisenzeiten besonders rege an Politik beteiligten. Allerdings führe das auch immer wieder zu „Polarisierungstendenzen“ und „neuen Konflikten“. Konflikte, die sich zu Großdemos auswachsen können.
Zuletzt war das 2004 der Fall, als regelmäßig Tausende Leute gegen die Hartz-IV-Gesetze protestierten. 2022 gehen nun ähnlich viele zu den Montagsdemos der „Freigeister“.
Am 3. Oktober 2022 sind es schon 1.800 Menschen. Es ist der Tag der Deutschen Einheit. Weit im Voraus mobilisierten die „Freigeister“ zu einer Großdemo. Diesmal nicht, wie normalerweise, auf dem engen Rathausplatz, weil ihnen die Initiator*innen einer Oldtimer-Schau zuvorgekommen sind. Sondern auf dem breiten, begrünten Fußweg an der größten Kreuzung des Stadtzentrums. Klein wirkt der Protest dort zwischen den drei schmucklosen Shopping-Fassaden: Oderturm, Lennépassagen und Kaufland. Dabei müsste rein rechnerisch jede*r dreißigste Frankfurter*in hier sein.
Auch Kerstin, die sich die DDR zurückwünscht, ist wieder da. Sie sitzt allein am Rand der Kundgebung auf einer Steinplatte. Auf dem Schild auf ihrem Rücken steht: „Rente ab 65+ = Sklaverei“ und „WehrPflicht = Mord“. Passanten fotografieren sich vor Kerstins Rücken und winken ihr zustimmend zu.
Kerstin trägt farbenfrohe Kleidung und Brille, interessiert sich für Kultur und klassische Musik. Sie arbeitet in einer Bank, ist aber gerade bis Frühjahr 2023 krankgeschrieben. Zurück will sie nicht, Leistungsdruck und Mobbing hätten ihr das Arbeiten verdorben: „Der Gedanke an den Job bedeutet für mich Angst.“
Kerstin kommt aus einem Dorf nördlich von Frankfurt, lebte 30 Jahre in Berlin, zog in die Gegend zurück. „In Berlin sind mir die Menschen zu viel geworden, auch zu viele Ausländer.“ Einerseits, sagt sie, während sie langsam mit dem Demozug mitspaziert, ärgere es sie, wenn Montagsproteste als rechts bezeichnet werden. Andererseits: „Ach, sollen sie doch auch mich Nazi nennen, ist mir egal.“ Sie meint: „Es gibt überall gute Leute. Ich wünsche mir, dass die sich zusammentun würden − von Linken, Grünen und auch Rechten − und zusammen eine neue Mitte bilden.“
Kerstin will sich nichts vorschreiben lassen, auch nicht auf der Demo. Wenn es eng wird, trägt sie Maske: „Da werde ich auch blöd angesprochen. Aber das ist für mich Freiheit − meine Entscheidung, ohne Zwang!“ Als ein Redner gegen „Genderwahn“ wettert, ärgert sie sich: „Das finde ich nicht gut. Mein Bruder ist trans Mann, gerade frisch operiert!“
Dann dreht sie sich ganz weg, als derselbe Sprecher beginnt, vom Weltwirtschaftsforum zu erzählen, von dessen Gründer Klaus Schwab und dem angeblich bis heute währenden Einfluss der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild. Der Sprecher verbreitet damit antisemitische Propaganda des Dritten Reichs in moderner Auslegung. Diese auf den Montagsdemos populäre Erzählung besagt außerdem, dass im „Young-Leaders“-Programm, das Teil des Wirtschaftsforums ist, seit Langem die Regierenden der westlichen Welt auf ihre Arbeit zugunsten von USA und Nato vorbereitet würden.
„Das will ich alles gar nicht hören, das macht mich nur fertig“, sagt Kerstin. Sie trägt einen buddhistischen Ratgeber bei sich, den sie schon mehrmals gelesen hat. „Am liebsten würde ich in den Wald ziehen, in eine Höhle, aber das darf man nicht. Außerdem will ich die Natur nicht kaputtmachen.“ Kerstin zündet sich eine Zigarette an und spaziert um die Kundgebung herum. So wie sie sich von der Politik abwendet, wendet sie sich auch spontan von der Demo ab.
Bei vielen anderen Montagsdemonstrierenden aber funktionieren die Verschwörungsnarrative gut. Hunderte grölen zustimmend. Auch in Einzelgesprächen wird deutlich: Antiamerikanismus und tief sitzende Zweifel an Demokratie und Legitimität der deutschen Regierung sind hier Mainstream.
Im aktuellen Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung vom September wird diese Entfernung vom demokratischen System bestätigt. Demnach sind nur etwas mehr als ein Drittel der Ostdeutschen „mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland funktioniert“, zufrieden. Nicht einmal die Hälfte halten freie Meinungsäußerung, „ohne Ärger zu bekommen“, noch für möglich. In Westdeutschland hingegen ist das Vertrauen in Demokratie und Meinungsfreiheit um 20 bzw. 15 Prozentpunkte höher.
Auf den Frankfurter Montagsdemos bestimmen die Demokratiefeindlichkeit und der starke Antiamerikanismus auch die Sicht auf den russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Kreml-Propaganda füttert dieses Narrativ seit Jahren mit eigenen Medienkanälen sowie prorussischen Blogger*innen in Westeuropa. Bei den Systemzweifler*innen kommt das gut an.
Neben Bannern für „deutsch-russische Freundschaft“ sind russische Staatsflaggen zu sehen. Ein Fahnenträger erklärt sich solidarisch „mit dem russischen Volk“: „Die Menschen vor Ort tun mir natürlich leid“, sagt er, „auf beiden Seiten der Front.“ Schuld am Krieg seien aber die Nato und die USA, die Russland seit Jahren so sehr geopolitisch bedrängt hätten, dass Putin „sich nun eben verteidigen musste“.
In diese Erzählung mischt sich eine empathielose bis hasserfüllte Meinung über die Ukraine. „Warum sollen wir den Ukrainern helfen? Die sind nicht in der Nato, die würden uns auch nicht helfen“, sagen Redner. Und: „Die Ukraine ist das korrupteste Land der Welt, eine Militärdiktatur, ein ‚failed state‘ voller Neonazis und finanziert von den USA − was geht uns das an?“
Kerstin hat die Demo umrundet. Sie interessiert sich zwar nicht für weltpolitische Themen, aber sie wünscht sich mehr Aufmerksamkeit von der Politik vor Ort. Die Regierenden, meint sie, hätten den Bezug zu den Menschen verloren. „Das sieht man doch daran, dass der Bürgermeister nicht kommt.“ Wie sie sind viele Menschen in der Stadt enttäuscht, dass das „Stadtoberhaupt“ − manche nennen es gar „Stadtvater“ − sich den „Freigeister“-Protesten nicht stellt. Sie fragen: Warum versucht René Wilke nicht, hier die Stadtgesellschaft zusammenzuhalten?
In der ersten Oktoberwoche gibt es in Frankfurt (Oder) an fünf Tagen sechs Demonstrationen. Wilke spricht auf zweien: am Donnerstag zu besorgten und verärgerten Handwerker*innen der Region, unter ihnen viele Montagsprotestierende. Am Samstag besucht Wilke Schwimmer*innen, die den Erhalt des lange sanierungsbedürftigen Hallenbads fordern.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Eine Woche später sitzt René Wilke in seinem Büro im Oderturm mit bestem Blick über die Stadt. Sicher kann er von hier aus die Montagsdemo-Route verfolgen. Auf einem Stuhl an der Wand lehnt eine große Fotografie als Andenken von der Schwimmbad-Kundgebung. Wilke trägt Glatze und Brille. Seine wachen dunklen Augen stechen hervor. „Ich nehme aktuell eine große Anspannung und Unsicherheit wahr“, sagt er. Dabei wirkt er auch selbst angespannt und ein wenig unglücklich.
Wilke ist ein nahbarer Typ, Menschen sprechen ihn einfach an, wenn er in der Stadt unterwegs ist. „Die Leute haben bei mir nicht so viel Distanz. Manchmal ist das gut, manchmal weniger.“ Aktuell fühle er sich als Oberbürgermeister zu oft wie eine Projektionsfläche für Probleme, die nichts mit Kommunalpolitik zu tun hätten. Wut auf „die da oben“ spüre er oft. Und Morddrohungen bekomme er auch, zuletzt: Man gehöre „abgefackelt und bei lebendigem Leibe verbrannt“, so hieß es am Ende eines Beschwerdeanrufs wegen einer hohen Stromrechnung.
Angst habe er nicht, sagt Wilke. „Dafür habe ich zu viel Grundvertrauen.“ Aber gerade fallen viele schwierige Themen zusammen: Migrationsbewegungen, Polarisierungen rund um Corona und die Preissteigerungen. „Heilige Scheiße“, sagt Wilke und erschreckt sich. Solche Wörter benutzt er im Arbeitskontext normalerweise nicht. Aber er ist eben besorgt über die steigende Empörung in der Stadtgesellschaft.
In jüngster Zeit, sagt Wilke betroffen, beschwerten sich Bürger*innen auch wieder häufiger über Geflüchtete: „Da, wo das Eigene stärker unter Bedrohung gefühlt wird, bricht wieder eine Projektion hervor: 'Wem geht’s besser als mir, aber hat es weniger verdient?’ Solidarität scheint da zu enden, wo es mehr Opfer braucht, als man sowieso gern bereit ist zu geben.“
Das bestätigen auch Frankfurter Migrant*innen gegenüber der taz. Sie erlebten wieder mehr Anfeindungen im öffentlichen Raum, auch am Rande der Montagsdemos. Jüngst wurde da eine Familie rassistisch angeschrien, die am Straßenrand wartete, dass der Protestzug vorbeizieht.
Solche Vorkommnisse dokumentiert auch die Meldestelle für rechte Vorfälle des linken Vereins Utopia. Nicht nur strafrechtlich relevante, sondern auch Delikte wie rechte Graffiti, Sticker und Alltagsrassismus. Für 2022 sind der Meldestelle bis Mitte Oktober 34 Vorfälle bekannt. Davon einige in Verbindung mit den Montagsdemos: Journalist*innen wurden mehrmals beschimpft. Demonstrierende zeigten wiederholt Reichsfarben und Reichsbürgersymbolik. Redebeiträge beinhalteten antisemitische Verschwörungsmythen.
Die Montagsproteste seien, so ein Sprecher der Meldestelle gegenüber der taz, ein „Dammbruch“ für Frankfurt: „So große, nach rechts offene Demonstrationen finden erstmals seit Jahrzehnten praktisch ohne jeglichen Protest der Zivilgesellschaft statt.“ Rechte Symbolik und Rhetorik kämen hier gerade tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft an.
Ähnlich sieht es Oberbürgermeister Wilke: „Viele dort tun so, als ob sie politisch unbefangen wären, aber das ist nur Inszenierung.“ Zwei Treffen zwischen ihm und den „Freigeistern“ seien schon „schlimm verlaufen“. „Es war schwer, überhaupt eine gemeinsame Realitätsebene zu finden.“ Für Wilke ist die Trennlinie: Er hat Grundvertrauen in das demokratische System, die meisten der „Freigeister“ nicht.
„Gleichwohl laufen bei den Demos auch viele Leute mit, die ich gern erreichen würde.“ − „Und wie?“ − Wilke wird leise: „Wenn ich darauf eine Antwort hätte. Wir sind doch alle Suchende mit eingeschränktem Sichtfeld.“
Das Linken-Mitglied Günter dagegen hat eine Idee. Und keine Berührungsängste mit den Montagsdemos. Seit Wochen steht er jeden Montag etwas abseits und notiert sich Plakatsprüche und Sprechchöre. Dazu will er linke Argumentationen finden: „Zum Beispiel: ‚PCK statt USA‘ − klar, die Arbeitsplätze hier müssen wichtiger sein als Bündnisse oder Verabredungen mit den Vereinigten Staaten“, erklärt er.
Günter findet: Die Linke sollte die Herbstproteste anführen. Mit ihren Dienstagsdemos seit September haben sie das allerdings nicht geschafft. Einen Tag nach der Großdemo der Freigeister, am 4. Oktober, kommen wieder nur gut 30 Leute zu der Kundgebung seiner Partei. Bis Günter an diesem Tag seine vielen politischen Banner vorm Rathaus aufgehängt hat, ist der kleine Aufmarsch schon fast wieder vorbei. Günter fragt sich: Wie lange tut sich die Linke die Schmach dieser Mini-Demos noch an?
Ein Linken-Stadtverordneter sagt an diesem Abend: „Wir verachten die Montagsproteste nicht, wir respektieren sie.“ Ihre Teilnehmenden seien „potenzielle Verbündete“. Abwerben ja, aber teilnehmen nein. Günter dagegen will sich kommende Woche in den Montagszug mischen und Demonstrierende mit linken Argumenten überzeugen. Seine Parteigenossen sind skeptisch, verbieten tun sie es nicht.
Am folgenden Montag, den 10. Oktober, beschießt Russland in der Ukraine wieder mehrere Großstädte mit Raketen und Drohnen. In Berlin beschließt die Bundesregierung die ersten Entlastungspakete gegen steigende Energiepreise. Erstmals traut sich ein lokaler Bundespolitiker auf die „Freigeister“-Demo.
Mathias Papendieck von der SPD ist der im hiesigen Wahlkreis direkt gewählte Bundestagsabgeordnete. Er will an diesem Abend die Bundespolitik erklären. Besser: verteidigen. Er beginnt mit einer Rede um 18 Uhr auf dem Rathausplatz: „Wir haben mehrere Entlastungspakete geschnürt …“
Da wird er schon unterbrochen. „Wer’s glaubt!“, brüllt ein Mann. Die Menge buht, trommelt, pfeift, trötet durcheinander. „Lügner!“.
Rund 1.000 Leute stehen aufgebracht um den Politiker herum. Er ist allein gekommen, Sicherheitsleute hat er nicht.
Als Papendieck sagt „Wir stehen zur Nato“, schreitet ein Mann mit erhobener Faust auf ihn zu und schreit: „Ihr seid alles Verbrecher!“ Dutzende applaudieren und grölen mit. Ein „Freigeister“-Moderator mahnt: „Unser Motto ist, dass hier alle sagen können, was sie möchten, auch Herr Papendieck! Pfeifen könnt ihr ja, aber bitte so, dass er ausreden kann!“
Sprechchöre und erste Wortmeldungen folgen: „Wir sind das Volk!“ – „Ihr schiebt unsere Waffen in diese Ukraine da, wie sollen wir uns denn verteidigen?“ – „Mein Vorschlag: Wir schicken alle Politiker an die Front!“
Papendieck entgegnet ruhig, obwohl seine Rede in dem Tumult kaum zu hören ist: „Bezüglich der Bundeswehr: Es ist ja das Sondervermögen beschlossen worden …“ Wieder übertönen ihn Zwischenrufe: „Wir frieren nicht für euern Krieg!“ und „Zynischer geht’s nicht!“
Kerstin wollte Papendiecks Rede über die Regierungspolitik eigentlich nicht hören. Doch den „Freigeistern“ fehlten Ordner*innen. 50 müssen sie vor Demo-Beginn zusammenkriegen, um die Polizeiauflagen zu erfüllen. „Ich will’s ja nicht scheitern lassen!“, sagt Kerstin. Und steht dann doch in gelber Warnweste beim Politikerauftritt. Sie findet die Rede und die aufgeheizte Stimmung auf dem Platz schrecklich und ist froh, als der Protestzug startet. 1.300 Leute laufen an diesem Abend mit.
Darunter tatsächlich auch gut sichtbar Günter von der Linken. Er hat sich mit einem riesigen Banner eingereiht und mehrere helfende Hände zum Tragen gefunden. Auf dem Transparent steht: „Zurück zur Diplomatie gegenüber Russland. Frieden für die Ukraine und ihre europäischen Nachbarn. Keine Waffenlieferungen in Krisengebiete.“ Die Themen kommen auch hier gut an. Vergnügt unterhält sich Günter mit Mitdemonstrierenden.
Als der Demo-Zug nach einer Stunde wieder zum Rathausplatz zurückkehrt, steht dort noch immer Papendieck auf dem Platz und diskutiert. „Warum hört die Regierung nicht auf das eigene Volk, sondern erfüllt nur Forderungen aus dem Ausland?“, poltert ein „Freigeist“-Aktivist. Der SPD-Politiker erläutert geduldig, dass die Proteste durchaus die Politik beeinflussen, an Maßnahmen wie den Entlastungspaketen immer nachgebessert werde.
Fünf Diskutierende gehen mit ihm um 22 Uhr noch in die Kneipe am Platz. Sie sind die letzten Gäste, setzen sich an einen Tisch im ersten Obergeschoss. Vor bodentiefe Fenster mit Blick auf das Kopfsteinpflaster des nun leeren, dunklen Rathausplatzes.
„Ich war immer gegen’s Impfen, auch bei den Coronaspaziergängen dabei“, bringt eine ältere Frau das Pandemie-Thema noch einmal auf den Tisch. „Ich arbeite in der Pflege, musste mich doch impfen lassen.“ Später sei sie trotzdem an Corona erkrankt, leide nun unter Long Covid und bekomme keinen Therapieplatz. „Was hat mir das Impfen gebracht?“
Papendieck hört verständnisvoll zu: „Hätte man vor zwei Jahren über Coronamaßnahmen mit dem Wissensstand von heute entscheiden können, wäre das sicher anders ausgegangen.“ Er habe für die berufsbezogene Impfpflicht gestimmt, weil damals auch eine allgemeine Impfpflicht vorgesehen war. Und wegen seiner eigenen Corona-Erfahrung: „Ich bin zusammengebrochen, konnte wochenlang gar nichts tun. Ich habe verstanden, wie gefährlich das Virus ist“, erzählt er.
Um Mitternacht, nach sechs Stunden Diskussion ohne Pause, ist Schluss. Papendieck lächelt noch immer. Jetzt erleichtert. Seine beharrliche Strategie scheint aufgegangen zu sein. Fast freundschaftlich verabschieden sich alle in die Nacht.
In der folgenden Oktoberwoche sinkt die Teilnehmendenzahl bei der Montagsdemo weiter. Nur noch 1.100 Menschen kommen am 17. Oktober, 200 Menschen weniger als kurz zuvor.
Auch Günter von der Linken kommt nicht mehr. Sein Plan wurde von seinen Parteigenoss*innen gestoppt. Er war in der Vorwoche auf dem Titelbild der Lokalzeitung gelandet, mit seinem Banner direkt neben der Reichsbürgerfahne. Sein Linken-Kreisverband bat ihn daraufhin, nicht mehr mitzulaufen und das Banner nicht mehr zu zeigen.
Beim RBB-Live-Talk im Oderturm am 18. Oktober ist Günter aber wieder dabei, steht in einer der hinteren Reihen, während vorne die emotionale Diskussion zwischen den aufgebrachten Bürger*innen und den eingeladenen Politiker*innen beginnt.
Für die „Freigeister“ spricht der Maurer Lutz Kauliski, Demo-Anmelder vom September. Die Wut unter den Leuten erklärt er stockend, mit jedem Satz springt er zu einem anderen Thema: „Die Bürger sehen, dass am Ende des Monats von ihrem Erarbeiteten nichts mehr übrig bleibt.“ Die „Kriegsrhetorik“ ziele immer nur gegen Russland. „Wer fragt denn noch das Volk?!“ Ein Meer von Handykameras zeichnet seine Rede auf.
Auch René Wilke ist da. Gerade noch sagte er auf der Dienstagskundgebung der Linken zu kommunalen Nothilfen: „Für jedes Problem gibt es eine Lösung.“ Nun wirft er Gregor Gysi skeptische Blicke zu, als der sagt: „Die Linke hat ihre Identität als Partei der Ostdeutschen verloren und so der AfD das Feld überlassen.“
Für seine Forderung nach Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland bekommt Gysi noch Applaus. Als er sich jedoch nach rechts abgrenzt, brüllt Maurer Kauliski gut hörbar ohne Mikro: „Sie stigmatisieren uns!“ Der Journalist und Rechtsextremismus-Experte Olaf Sundermeyer wird dann schon ausgebuht, als er nur vorgestellt wird. Er ist hier eine Hassfigur, weil sich viele Montagsprotestler von ihm „in die rechte Ecke gedrängt“ sehen.
Die „Freigeister“-Protestler nutzen die Live-Sendung als Plattform für ihre Wutstimmungsmache. Die Moderierenden sind am Ende schockiert von der Aggression im Publikum. Günter sagt bedrückt: „Vielleicht sind wir der Wahrheit, dem echten Konflikt, hier aber doch ein Stück näher gekommen.“
Von einem Balkon über dem Talk-Podium ist indes zu sehen, dass die Wutstimmung von höchstens einem Drittel der Gäste ausging. „Das ist nur eine laute Minderheit“, sagt auch Experte Sundermeyer in der Sendung. Die „Freigeister“ dagegen sehen die unsichtbare Mehrheit auf ihrer Seite. „Sonst gäbe es doch Gegenaktionen, oder?“, fragt ein Aktivist, als die Gruppe nach der Sendung noch auf René Wilke trifft. Ohne Kameras sprechen sie respektvoller, laden den Oberbürgermeister wieder zur Demo ein. Er lehnt wieder ab, höflich, aber bestimmt.
Schon am folgenden Tag plant eine kleine Gruppe Studierender und jüngerer Linker einen Gegenprotest. Am 24. Oktober dann mischen sie in Kostümen und absurden Losungen die Montagsdemo auf. Für Sprüche wie „Heißer Tee statt Käsefüße“ bekommen sie sogar Applaus, bis die „Freigeister“ ihren Anhängern erklären, dass das eine Gegendemo ist.
Im November folgen neue Gesprächsformate in der Stadt: ein Diskursfestival über Ostidentität, ein Dialog mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, eine zweite Handwerker-Demo mit Wilke. In Berlin werden indes die Entlastungsmaßnahmen ausgeweitet. Das alles raubt den Montagsprotesten die Mobilisierungskraft.
Kerstin läuft noch manchmal allein am ruhigeren Ende mit. Und geht, wenn die Lauten vor ihr, der Stillen, zu radikal werden. Günter sucht weiter nach Anknüpfungspunkten für die Linke, während seine Partei ihre Demos aufgegeben hat und Einzelne montags bei Gegenaktionen mitmachen.
Bald kommen zu den „Freigeistern“ nur noch 500 bis 700 Leute. Zwei Drittel haben die Demos verlassen. In Frankfurt (Oder) jedenfalls zeigt sich: Reden hilft, den „Heißen Herbst“ zumindest ein wenig abzukühlen.
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