piwik no script img

Brandenburg und die Ukraine-FrageUkrainisches am Fluss

Manchmal ist in Frankfurt (Oder) noch die russische Fahne zu sehen. Mehr aber hat sich nicht nur mit den Geflüchteten die Ukraine ins Stadtbild geprägt.

Der Lebensstrom, dreisprachig und mit der Oder dazu ganz anschaulich Foto: Peggy Lohse

I mmer noch ziehen jede Woche Menschen mit Russland-Flaggen bei den sogenannten „Montagsdemos“ in Frankfurt (Oder) durch die Stadt. Je kleiner, desto radikaler. Ende Februar kam es bei einer Aktion zum Jahrestag des russischen Angriffs zu Ausschreitungen: Gegendemonstrierende, die sich in Gedenken der ukrainischen Kriegsopfer vor den Umzug auf die Straße legten, wurden von Demo-Ordnern angegriffen, weggeschleift, weggeschubst. Videos zeigen sie aus verschiedenen Perspektiven: Gewaltausbrüche, die das junge Ukraine-Netz in der Stadt einschüchtern wollen. Am Tag zuvor waren nämlich Hunderte Menschen in Solidarität mit der Ukraine durch die Doppelstadt gelaufen.

Also schauen wir uns mal an: Welche Rolle spielen Ukraine und Ukrai­ne­r*in­nen jetzt im Alltag der ostbrandenburgischen Kleinstadt?

Statistisch: Mehr als 1.200 ukrainische Staats­bür­ge­r*in­nen leben aktuell in der 58.000-Seelen-Stadt, meldete jüngst die Lokalzeitung. Mehr als 700 von ihnen kamen seit Februar 2022. Sie stellen mehr als zwei Drittel des Bevölkerungsanstiegs Frankfurts um fast 1.000 Menschen − eine feine Überraschung für die Stadt, die jahrzehntelang nur schrumpfte.

Akademisch: Die meisten Ukrainer*innen, die schon vorher hier lebten, sind mit der Viadrina verbunden. Die Universität unterhält lange Partnerschaften mit ukrainischen Hochschulen, nun hat sie geflüchtete Studierende und Lehrende aufgenommen und arbeitet an einem eigenen Ukraine-Zentrum. Und die ukrainischen Aka­de­mi­ke­r*in­nen wurden zu Mittlern zwischen Geflüchteten und Stadtgesellschaft.

Kulturell: Auf Frankfurter Fußwegen übersetzt ein dreisprachiges Straßenwörterbuch Ausdrücke wie Lebensstrom oder Geduld ins Polnische und Ukrainische. In leeren Ladenlokalen im Zentrum stehen ukrainische Gemälde mit Sonnenblumen, trauernde und kämpferische Porträts. Galerien stellen ukrainische Künst­le­r*in­nen aus, die seit Kriegsbeginn an der Oder leben. Im Staatsorchester spielen ukrainische Musiker*innen. Die Bürgerbühne am größten Theaterhaus der Stadt hat mit sechs Ukrai­ne­r*in­nen ein aufreibendes Laienstück über Krieg und Flucht gemacht, das so viel Anklang fand, dass bis Juni Zusatztermine geplant werden. Der deutsch-ukrainische Filmnachmittag füllte zuletzt einen ganzen Saal mit einer Doku über Militärfreiwillige im Krieg in der Ostukraine 2014. Kulturveranstaltungen in Frankfurt sind sonst selten so gut besucht.

Ehrenamtlich: Bei einem Vernetzungsabend im Januar treffen Dutzende lokale Ukraine-Engagierte aufeinander. Mu­si­ke­r*in­nen von Gymnasium und Musikschule spielen Benefizkonzerte. Im März kaufen Frank­fur­te­r*in­nen bei einer Ukraine-Kunstauktion für fast 6.000 Euro Werke von mehr als 20 regionalen Kunstschaffenden aus Brandenburg und Polen, auch darunter ukrainische Kreative.

Ein neuer Verein entstand aus den Hilfsaktionen am Frankfurter Bahnhof im Frühjahr 2022, als Tausende ukrainische Geflüchtete über Polen durch die Grenzstadt nach Deutschland kamen. Hunderte Frank­fur­te­r*in­nen engagierten sich da, bis das Rote Kreuz übernahm. Einige Aktive gründeten die „Blaue Brücke“, wo jetzt Bürokratieberatung, Sprachnachhilfe, therapeutisches Malen und ein Charity-Shop angeboten werden. Außerdem verwaltet der Verein die Spenden aus den Benefiz-Aktionen für die eigene Arbeit sowie regelmäßige Spendentransporte in ukrainische Kriegsgebiete.

Die Angebote in Frankfurt nutzen übrigens auch Ukrai­ne­r*in­nen aus Słubice. Dort leben zwar rund 3.000 von ihnen, aber Anlaufstellen fehlen.

All das ermöglichen die Aktiven genauso wie die anonymen, regelmäßig und großzügig Spendenden. Sie alle zusammen sind mehr und wirkungsstärker als jene, die trotzig russische Trikoloren spazieren tragen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Peggy Lohse
freie Autorin
Jahrgang 1988, freie Autorin, wohnhaft in Frankfurt (Oder). Themenschwerpunkte: Gesellschaft und Kultur jenseits von Berlin in östlicher Richtung. In der taz erkundet sie monatlich die liebenswürdigen Widersprüche der deutsch-polnischen Oder-Grenzregion (Kolumne grenzwertig) und berichtet aus der Ukraine.
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!