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Mitgliederzuwachs bei den GrünenBereit für die Neuen

Keine andere Partei gewinnt derzeit so viele Neumitglieder wie die Grünen. Diese wollen nun im Neuwahlkampf mitanpacken. Ein Ortsbesuch in Cottbus.

Auch musizieren darf man bei den Grünen: Auftritt beim Landesparteitag am Samstag in Cottbus Foto: Patrick Pleul/dpa

Cottbus taz | Zur Begrüßung gibt es einen Schal – in Grasgrün der Parteifarben, mit einer gelben Sonnenblume darauf. Auf der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen am Samstag in Cottbus wird er den Neumitgliedern um den Hals gelegt. Er soll sie warm halten, vor allem wohl im Januar und Februar. Dann, wenn sie mit den Brandenburger Grünen in den vorgezogenen Bundestagswahlkampf ziehen sollen.

Einen der Schals hat Oliver Krohn bekommen. Nachdem er sich schon bei den Landtagswahlen für die Grünen engagierte, ist er jetzt offiziell beigetreten. „Es ist eine angenehme Atmosphäre hier. Das erste Mal seit Langem, dass ich Hoffnung schöpfe“, sagt der Mittvierziger aus dem Landkreis Dahme-Spreewald. Zuvor war er eigentlich an der Linken interessiert, doch nach deren Zersplitterung orientierte er sich um. Für die Verkehrswende und für mehr soziale Gerechtigkeit ist Krohn jetzt hier und will auch beim kommenden Wahlkampf mit dabei sein: „Plakate hängen, Präsenz zeigen“.

Wie Krohn wollen sich derzeit viele politisch engagieren: Seit dem 6. November, dem Tag des Ampelkollapses, melden alle Parteien Zuwäche bei ihren Mitgliederzahlen. Laut Handelsblatt zählt die SPD derzeit 2.500 neue Online-Mitgliedsanträge, die FDP meldete Mitte November 2.000. Beim CDU-Bundesverband sind nach eigener Aussage mehr als 1.000 Anträge auf Mitgliedschaft eingegangen. Die meisten Neueintritte seien aber dezentral in den Kreisverbänden erfolgt. Bei den Linken sind es sogar 4.860 Mitgliedsanträge.

Nirgends jedoch ist der Zuwachs so stark wie bei den Grünen. 20.000 Neuzugänge bundesweit hat die Partei im November verzeichnet – ein Rekordmonat. Das spüren sie auch in Brandenburg. Hunderte sind in den vergangenen Wochen zu dem vergleichsweise kleinen Landesverband hinzugekommen. „Wir sind jetzt rund 3.300 Mitglieder“, verkündet Landesvorsitzende Alexandra Pichl stolz. Den Brandenburger Landesverband freut das besonders. Nach drei Wahlkämpfen für Kommunal-, Europa- und Landtagswahl sind die Batterien in vielen Kreisverbänden leer, die Landespartei seit September nur noch in der außerparlamentarischen Opposition.

Statements am besten in 10 Sekunden

Um Schwung für den Bundestagswahlkampf zu bekommen, setzen die Grünen am Samstag in Cottbus auf politische Schwergewichte wie die ehemalige brandenburgische Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Baerbock wird später noch mit rund 92 Prozent auf den Spitzenplatz der Brandenburger Landesliste gewählt. In ihrer Rede fordert sie mehr Anstand ein: „Wir werden uns an einem Wahlkampf, der darauf abzielt, den demokratischen Mitbewerber kleinzumachen und im Zweifel sogar mit Dreck zu bewerfen, nicht beteiligen.“

Während unten aus dem Saal der Baerbock-Applaus schallt, geht es oben im Foyer der Stadthalle noch um Grundlegendes: Wie mache ich Haustürwahlkampf? Wie spreche ich die Leute auf der Straße an? Rund ein Dutzend Menschen sind zum Wahlkampf-Workshop für Neumitglieder gekommen. Im Stuhlkreis sitzt ein typischer Querschnitt politisch Engagierter: Student:innen, Neurent­ne­r:in­nen und ein paar dazwischen. Sie sind hier wegen des Klimaschutzes, des Rechtsextremismus, der Ukraine oder der Wirtschaft. Die Werte und die Haltung, die die Grünen zeigten, seien authentisch, mit denen könne man sich identifizieren, sagt eine Frau. Andere nicken.

In den nächsten zwei Stunden üben sie, diese Werte auch rüberzubringen. Und das am Besten kurz und knackig, in 60, in 30 oder sogar nur zehn Sekunden. Im Gespräch mit Menschen, die noch nie Grün gewählt haben und jenen, die es schon lange tun. Persönlich bleiben, von sich selbst erzählen, damit sei man auf der sicheren Seite, so der Workshopleiter und versucht die Sorge zu nehmen, eine Frage nicht beantworten zu können.

Der ausgefüllte Mitgliedsantrag von Margit Schad und ihrem Ehemann Joachim Dietrich aus Erkner ist gerade mal einen Tag alt. Warum sie ausgerechnet jetzt eingetreten sind, wo die Grünen doch eigentlich viel Unmut für ihre Politik auf sich ziehen? „Ich wollte nicht weiter zugucken und jetzt ist eben Bundestagswahl“, sagt Schad. Sie sei zwar enttäuscht gewesen von der grünen Parteipolitik. Doch es zeige eben, dass die Grünen bereit seien für Kompromisse. Nur so könne man politisch erfolgreich sein. Erstmal will das Ehepaar jetzt den eingeschlafenen Ortsverband aufmischen.

Auch Henrik aus Cottbus will die Werte der Grünen nach draußen tragen. Der 16-jährige Schüler ist früher in Burg auf die Schule gegangen, hat dort Erfahrungen mit Rechtsextremismus gemacht. „Es geht um Zugehörigkeit“, so Henrik. Bei den Grünen zu sein, sei ein Statement.

Drohende Angriffe im Wahlkampf? „Bisschen nervös“

Ein Statement, dass aber nicht immer ungefährlich ist. Insbesondere Grüne, SPD und Linke hatten beim Wahlkampf im vergangenen Jahr immer wieder mit verbalen und körperlichen Übergriffen zu kämpfen. Auch das ist Thema beim Workshop. Die Tipps: direkte Ansprache, das Aufzeigen von Grenzen, wenn nötig die Polizei. Den 22-jährigen Eric Schade aus Wildau macht das „ein bisschen nervös“. Aber es sei ein kleiner Preis, verbal angegangen zu werden, wenn man für seine Werte offen einstehe, findet er.

Am Nachmittag gibt es dann noch eine kleine Überraschung für die Neumitglieder. „Annalena“ schaut bei ihnen vorbei, setzt sich zu den mittlerweile 20 Leuten. Die Außenministerin hat nur fünf Minuten, gleich ist ihre Bewerbungsrede dran. Zeit für zwei Fragen und ein paar Fotos. Neumitglied Henrik hatte sich da etwas mehr erhofft – er will einen Workshop zum Umgang mit Rechtsextremismus organisieren und wollte hören, was Baerbock ihm dazu rät. „Ich muss sie dazu auf jeden Fall heute noch mal sprechen.“

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