#MeToo bei der Linkspartei: Der Knall
Die Linke steckt in einem Sexismusskandal. taz-Recherchen zeigen: Vor den Vorfällen in Hessen gab es bereits Vorwürfe in Bayern.
F ür die meisten in der Linkspartei kam überraschend, was ihre Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow am Mittwoch veröffentlichte. Aus drei Gründen trete sie von ihrem Amt zurück, schrieb sie. Sie wolle zum einen mehr Zeit mit ihrem Sohn verbringen. Die Linke brauche zweitens Erneuerung. Und drittens habe der Umgang mit Sexismus in den eigenen Reihen eklatante Defizite der Partei offengelegt.
Empfohlener externer Inhalt
Das war’s. Damit war Susanne Hennig-Wellsow, die in Thüringen so erfolgreich mitregiert hatte, nach gut einem Jahr weg von der Bundesspitze der Linken. Wer bleibt, ist Janine Wissler, die Co-Vorsitzende. Die, die seit dem vergangenen Wochenende im Verdacht steht, sexuelle Übergriffe in ihrem Landesverband in Hessen nicht energisch bekämpft zu haben. Die, über der der Sexismusskandal eigentlich hereingebrochen ist. Und der ist weit größer, als es bislang öffentlich thematisiert wurde.
Die Linke steckt in ihrer tiefsten Krise. Bei den letzten Wahlen im Saarland und im Bund ist sie gescheitert. Die teils kruden Positionen zum russischen Angriff auf die Ukraine haben die Partei erneut ins außenpolitische Abseits gedrängt. Und jetzt erschüttert auch noch ein Sexismusskandal die Partei, die sich selbst als feministisch versteht.
Der Spiegel hatte am vergangenen Wochenende über mutmaßliche sexuelle Übergriffe und Grenzüberschreitungen von Politikern der hessischen Linken berichtet. Ein Fall sticht dabei besonders hervor: Von Herbst 2017 bis Sommer 2018 soll ein Mitarbeiter der Landtagsfraktion ein Verhältnis mit einer Frau gehabt haben, die noch minderjährig war, als sie sich kennengelernt haben.
Der Bericht
Am vergangenen Wochenende berichtete der Spiegel über mehrere MeToo-Vorfälle im hessischen Landesverband der Linken. Insbesondere Janine Wissler steht in der Kritik, da sie von den Vorfällen gewusst und nicht reagiert haben soll.
Die Folgen
Am Mittwoch trat Wisslers Co-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow von ihrem Amt zurück. Janine Wissler will vorerst Parteichefin bleiben. Funktionär*innen aus mehreren Bundesländern forderten am Freitag eine Urwahl der neuen Vorsitzenden. Am Wochenende will der Parteivorstand entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt die Parteispitze neu gewählt wird. Im Juni findet ein Bundesparteitag statt.
Als die Frau Schluss macht, steigt der Fraktionsmitarbeiter unangekündigt über den Balkon in ihre Wohnung ein und sie haben Sex. Am nächsten Tag schreibt er ihr in einer Mail, er habe die Nacht „crazy, romantisch, prickelnd“ gefunden. Die junge Frau leitet diese Mail an die damalige Landesvorsitzende Janine Wissler weiter. Sie sagt, sie habe mit Wissler danach zwei Mal telefoniert, die sei dem Thema aber ausgewichen.
Was damals in der Landtagsfraktion viele wissen, worüber Wissler und der Balkonkletterer aber nie offiziell reden: Wissler und er sind ein Paar. Der Spiegel schreibt von einem „strukturellen Versagen einer Partei, die mutmaßlichen Opfern lange keine geeignete Hilfe anbot“.
Janine Wissler reagiert noch am Tag des Erscheinens auf den Spiegel-Text. Die Parteivorsitzende schreibt, die Frau habe sie angemailt und mit ihr telefoniert. Aber: „In keinem dieser Kontakte wurde der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen Gewalt erhoben. Sie hat mich auch nicht um Hilfe gebeten.“ Wissler schreibt, sie habe damals die Beziehung mit dem Fraktionsmitarbeiter beendet und sei bestürzt über den Vorwurf, sie habe ihren ehemaligen Partner geschützt.
Nach dem Spiegel-Bericht trendet auf Twitter #linkemetoo. Beim linken Jugendverband Solid melden sich 60 weitere Betroffene von sexuellen Übergriffen, bundesweit. Die Vorsitzende von Solid, Sarah Dubiel, sagt, sie kenne keine Genossin, die noch nie sexistisch angegangen worden sei.
Auch Hennig-Wellsow wusste, dass Wiesbaden nicht der erste Fall von Sexismusvorwürfen ist. Ein anderer, bisher nicht öffentlich bekannter Fall hat die Bundespartei intensiv beschäftigt. Wegen dieses Falls hat der Parteivorstand eine Vertrauensgruppe gegründet, die Sexismusvorwürfe aufklären soll. Oder – so sehen es manche – die nur als Feigenblatt dient.
Ein Mitglied der Linkspartei zu einer mutmaßlich Betroffenen
Der Fall spielt in Nürnberg und beginnt im Jahr 2017. Mehrere Parteimitglieder werfen einem dortigen Stadtrat sexuelle Übergriffe und Grenzüberschreitungen vor. Sie beschuldigen ihn, sie ohne ihre Einwilligung berührt zu haben, am Hintern, am Oberschenkel, im Nacken. In einem Fall geht es um eine Affäre, in der emotional Druck ausgeübt worden sei.
Zwei der Parteimitglieder zeigen den Stadtrat an. Zu ihrem Schutz bleiben die Personen anonym. Aus juristischen Gründen wird auch der Beschuldigte S. hier nicht mit vollem Namen genannt. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen ihn eingestellt. Auf Anfrage der taz sagt er, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen.
Bild einer überforderten Partei
Die taz hat mit rund zwei Dutzend Personen in der Linken gesprochen, die mit diesen Vorgängen vertraut sind. Die Personen, die die Vorwürfe gegen den Stadtrat erhoben haben, äußern sich gegenüber der taz selbst nicht. Sie streiten noch vor Gericht mit ihm.
Die taz konnte jedoch interne Unterlagen sichten, Protokolle, Anträge, Mails und Stellungnahmen. Damit lässt sich nachzeichnen, um welche Vorwürfe es geht und wie die Partei mit ihnen umgegangen ist. Es ergibt sich das Bild einer überforderten Partei, die ihrem hehren feministischem Anspruch nicht gerecht wird.
Der Mann, dem die Vorwürfe gemacht werden, ist eine wichtige Figur in der Linken in Nürnberg. Er ist Stadtrat, war Direktkandidat für den Bundestag. Nach dem schlechten Ergebnis bei der Wahl im Herbst zog er zwar nicht in den Bundestag ein, ist aber erster Nachrücker aus Bayern. Im Vergleich zu den Fällen aus Wiesbaden sind die Vorwürfe aus Nürnberg weniger schwerwiegend. Aber wie im Wiesbadener Fall geht es nicht allein darum, was passiert ist. Es geht auch darum, wie sich Verantwortliche in einer Partei verhalten, wenn jemand sagt, dass etwas passiert sei.
Wird Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin? In der taz am wochenende vom 23./24. April 2022 schauen wir auf Frankreich vor der Stichwahl, auf die Wähler:innen von Le Pen und auf die, die ihren Wahlsieg am meisten fürchten. Außerdem: Die Linkspartei in der Krise. Und: Wie das „Missoir“ für Geschlechtergerechtigkeit beim Pinkeln sorgt. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Im Sommer 2020 wendet sich eine junge Frau, ein Mitglied der Nürnberger Linken, an eine Gleichstellungsbeauftragte des Landesverbands und berichtet von mehreren Fällen sexueller Belästigung in der Partei. Bei der Gleichstellungsbeauftragten entsteht der Eindruck, dass es mehrere Betroffene gibt.
Die beiden Gleichstellungsbeauftragten führen Gespräche mit der Frau und mit dem beschuldigten Stadtrat. Es geht zum Beispiel um ein Foto, auf dem der Stadtrat und eine mutmaßlich Betroffene zu sehen sind. Der Vorwurf: Während das Foto entsteht, habe S. seine Hand auf den Po der Betroffenen gelegt. Wäre das bewiesen, wäre es strafbar. Die Frau präsentiert eine Zeugin, die bestätigt, das gesehen zu haben. Der Beschuldigte streitet ab. Aussage gegen Aussage.
Irgendwann wird klar, dass es zunächst offenbar doch nur eine Betroffene gibt: die Frau, die die Vorwürfe selbst vorgebracht hat.
„Die Landesvorsitzende kam auf uns beide zu und hat uns gesagt, dass diese Frau nur für sich spricht“, sagt Simone Barrientos, damals Bundestagsabgeordnete und eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten. In ihren Augen hatte die Betroffene einen falschen Eindruck erweckt. „Dadurch ergab sich eine völlig andere Situation“, sagt Barrientos.
Ab da habe sich der Ton gedreht, erzählt eine Person, die die Aufarbeitung begleitet hat: Der Betroffenen und den Gleichstellungsbeauftragten sei unterstellt worden, sie hätten gelogen und würden eine politische Kampagne gegen den Stadtrat fahren. Die Gleichstellungsbeauftragten formulieren ein Statement: „Die Anschuldigungen haben sich nach sorgfältiger Prüfung wegen nachweisbarer Falschbehauptungen und Widersprüchlichkeiten als unhaltbar erwiesen.“ Damit scheint der Fall abgeschlossen.
Im Februar 2021 jedoch werden neue Vorwürfe bekannt. In einer Sitzung des Kreisvorstandes berichtet ein Parteimitglied von einer Affäre, die sie mit dem Stadtrat S. gehabt habe. Mehrfach soll er Grenzen überschritten haben. Sie berichtet von aggressivem Sex, dem sie nicht zugestimmt hatte, davon, wie der Stadtrat sie emotional unter Druck gesetzt habe.
Felix Heym, der Kreisvorsitzende der Linken Nürnberg, sagt, nach diesem Vortrag habe „eine sehr ernsthafte Stimmung“ geherrscht. Die Frau, die die Vorwürfe geäußert hat, beschreibt es ganz anders: Mehrere Teilnehmer*innen der Sitzung hätten ihre Erlebnisse verharmlost. Eine soll gesagt haben, auch sie habe schon „scheiß Affären“ gehabt, es sei nicht Angelegenheit der Partei, darüber zu urteilen. So steht es in einem Antrag auf Parteiausschluss gegen Stadtrat S., den die Frau und vier weiteren mutmaßlich Betroffene wenige Tage später einreichen.
Dieser Antrag gibt den Vorwürfen eine neue Dimension. Plötzlich ist da nicht mehr nur eine mutmaßlich Betroffene von Grenzüberschreitungen, sondern fünf: drei Frauen, zwei Männer. Ein Mann gibt an, er sei als Praktikant von dem Stadtrat „ungewöhnlich lange“ am Nacken und am Oberschenkel berührt worden. Ein anderer schreibt, der Stadtrat habe ihn ungefragt an den Nacken und Kopf gefasst. Gewehrt hätten sie sich nicht, aus Angst vor dem mächtigen Stadtrat. Einer der Männer zeigt die Berührung an, die Ermittlungen werden später eingestellt.
Nachdem die neuen Vorwürfe bekannt geworden sind, Anfang März 2021, tritt eine der beiden Gleichstellungsbeauftragten, Eva Kappl, zurück. Sie erklärt, dass sie den Druck, der mit der Aufklärung einhergehe, nicht mehr aushalte.
Anders als in der Einschätzung, die die Gleichstellungsbeauftragten nach den ersten Vorwürfen abgegeben haben, schreibt Kappl nun, sie könnte keineswegs mit Sicherheit sagen, dass alle Vorwürfe, die die Frau erhoben habe, Falschbehauptungen seien. Sie lehne es ab, dass Vorwürfe von Betroffenen generell abgetan würden, nur weil im Laufe des Verfahrens einmal Zweifel aufgekommen seien.
Der Rücktritt der Gleichstellungsbeauftragten, die neuen Vorwürfe – für den Landesverband passiert all das zu einer ungünstigen Zeit: Der Stadtrat S. hat gerade seine Kandidatur für den Bundestag bekannt gegeben, der Wahlkampf steht an. Einen Kandidaten mit Sexismusvorwurf kann sich die Partei nicht leisten. Aber kann sie sich den Verdacht leisten, Sexismusvorwürfe nicht ernst zu nehmen?
Einige im Landesvorstand argumentieren, man könne den Stadtrat nicht mehr für den Bundestag aufstellen. Das Risiko, dass die Vorwürfe öffentlich würden, sei zu groß. Andere berufen sich auf den offiziellen Beschluss der Gleichstellungsbeauftragten. Sie glauben, die Vorwürfe würden bewusst gestreut als politische Kampagne.
Es ist schließlich der Stadtrat selbst, der die Sache in der Partei bekannt macht. Anfang März 2021 treffen sich rund 70 Genoss*innen zur Aufstellungsversammlung für die Bundestagswahl. Einige Tage vorher schickt S. Whatsapp-Nachrichten an Parteimitglieder. Er schreibt, dass seit seiner Kandidatur Sexismusvorwürfe gegen ihn vorgebracht würden. Er habe sich allen Gesprächen gestellt. Es handle sich um Verleumdungen mit dem Ziel, seine Kandidatur zu verhindern.
Bei der Versammlung spricht er einige Vorwürfe an. Das berichten mehrere Personen, die dabei waren. Sie beschreiben seine Rede als aggressiv. Mehrere Redner*innen ergreifen für ihn Partei. Am Ende der Veranstaltung geht seine Ehefrau auf die Bühne, zeigt mit dem Finger auf die Frau, die die Vorwürfe erhoben hatte, nennt ihren Namen und ruft, sie solle sich schämen für ihre Lügen. Sie bekommt Standing Ovations.
Die mutmaßliche Betroffene beschreibt diesen Abend als schwer erträglich: „Würden wir im Mittelalter leben, hätte der wütende Mob auf der Versammlung meine Unterstützerin und mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt“, schreibt sie später in ihrem Antrag auf Parteiausschluss des Stadtrats.
Mit diesem 45-seitigen Antrag beschäftigt sich die Landesschiedskommission. Kurz nachdem er eingegangen ist, schickt ein Mitglied dieser Kommission eine Mail an die Frau, die die Vorwürfe erhoben hat: „Meint ihr im Ernst, dass die Landesschiedskommission parteiinterne Bettgeschichten recherchieren und bewerten soll? Ich weigere mich und finde eure detaillierten Ausführungen peinlich (…) Als ich in deinem Alter war, gab es die Devise: Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment.“
Man kann die Fälle aus Nürnberg und Wiesbaden als Generationenkonflikt lesen, so wie die SMS das nahelegt: Wokies gegen Boomer. Nur täte sich die Partei keinen Gefallen damit. In den vergangenen zehn Jahren sind 30.000 neue Mitglieder eingetreten, 20.000 davon unter 30. Wenn die Partei eine Zukunft haben will, dann sind es diese Mitglieder, die sie gestalten.
Die Landesschiedskommission bietet den Beteiligten in Nürnberg schließlich eine Schlichtung an. Der Landesvorstand offeriert den mutmaßlich Betroffenen eine Mediation – mit oder ohne den beschuldigten Stadtrat. Die mutmaßlich Betroffenen lehnen ab. Sie bleiben bei ihrer Maximalforderung: Der Stadtrat soll aus der Partei ausgeschlossen werden.
Einige im Vorstand empfinden diese Forderung als Affront: Die Hürden für einen Parteiausschluss sind hoch. Wieso sollte man ein wichtiges Mitglied ausschließen, zumal auf der Basis von Vorwürfen, die schwer zu beweisen sind? Für die Betroffenen hingegen sind die Angebote, die der Landesvorstand macht, nicht akzeptabel: Wieso sollten sie sich mit dem Mann zusammensetzen, den sie der Belästigung bezichtigen und der das bestreitet?
Ende März folgt wieder eine Versammlung zur Vorbereitung der Bundestagswahl – es sollen die Listenplätze für die Kandidat*innen vergeben werden. In kleiner Runde bespricht der Landesvorstand die anstehende Veranstaltung. Am Ende fragt jemand, wie man damit umgehen wolle, wenn auf der Versammlung, die per Livestream übertragen werden soll, jemand die Vorwürfe gegen den Stadtrat anspricht? Dann, soll darauf jemand geantwortet haben, müsse der Livestream eben leider kurz ausfallen. So berichten es Leute, die in der Besprechung dabei waren.
Aber niemand thematisiert die Vorwürfe am nächsten Tag. S. wird nominiert für Platz 6 der Landesliste. Zu dieser Zeit ist das ein aussichtsreicher Platz.
Vorwürfe weder strafrechtlich noch parteirechtlich relevant
Während mehrere Parteimitglieder dem Mann also Belästigung vorwerfen, nominiert der Landesverband ihn für den Bundestag. Die Partei habe sich dagegen gestellt, die neuen Vorwürfe aufzuklären, sagt eine Person, die die Aufarbeitung begleitet hat. Es sei darum gegangen, dass die richtigen Leute auf den richtigen Listenplätzen nominiert werden.
Die Verantwortlichen im Kreis- und Landesvorstand weisen das zurück. Der Kreisverband hatte nach den neuen Vorwürfen einen Juristen beauftragt, zu untersuchen, ob die Partei gegen den beschuldigten Stadtrat vorgehen muss. Die taz kennt den Inhalt des Gutachtens. Der Jurist kommt darin zu dem Schluss, die Vorwürfe seien weder strafrechtlich noch parteirechtlich relevant.
Im Mai 2021 stellt die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen gegen den Stadtrat ein. Es habe Aussage gegen Aussage gestanden, sagt Antje Gabriels-Gorsolke, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth. Eine Zeugin habe doch nicht bezeugen können, wie der Stadtrat der mutmaßlich betroffenen Frau auf den Hintern gefasst habe.
Im anderen Fall habe man die Vermutung des Anzeigenerstatters nicht nachvollziehen können, dass hinter Berührungen am Kopf oder im Nackenbereich eine sexuelle Motivation stecke.
Der Stadtrat selbst erstattet Anzeigen gegen die beiden Anzeigenerstatter:innen und zwei weitere Personen. Der Vorwurf: Verleumdung. Auch dieses Verfahren wurde eingestellt.
Der Fall aus Nürnberg zeigt das Dilemma von MeToo-Vorwürfen: Meist steht Aussage gegen Aussage, Zeugen und Beweise gibt es kaum, Widersprüche häufiger. Betroffene beschreiben oft, dass sie während der Belästigung versteinert waren. Es ist nicht verwunderlich, dass dabei Erinnerungen durcheinandergehen. Nur: Ab welchem Punkt werden Widersprüche so groß, dass sie Zweifel an der gesamten Erzählung zulassen?
Am Ende gilt oft „Im Zweifel für den Angeklagten“. Ein Freispruch ist das selten, an allen Beteiligen bleibt etwas kleben: am Beschuldigten der Verdacht, dass er doch nicht ganz sauber ist. An der Gegenseite der Verdacht, dass sie eine Schmutzkampagne fahren.
Über seine Anwältin fordert der Stadtrat die, die ihn beschuldigen, auf, Unterlassungserklärungen zu unterschreiben. Sollten sie weiter Falschbehauptungen verbreiten, drohten ihnen hohe Strafen. Auf Twitter lässt er Tweets blockieren, die die Vorwürfe gegen ihn erwähnen. Über das, was sie dem Stadtrat vorwerfen, können sie nun also nicht mehr sprechen.
Die Anwältin des Stadtrats ist selbst Genossin der Linken. Im vergangenen Sommer wurde sie in die Bundesschiedskommission der Partei gewählt, also in das Gremium, das über die Vorwürfe in Nürnberg auch informiert war und sich mit ihnen hätte befassen können.
Julia Schramm, Mitglied des Parteivorstands und der Vertrauensgruppe
Im Juni vor der Bundestagswahl erreichen die Vorwürfe aus Nürnberg die Bundespartei. Sie werden aber nicht etwa durch bayerische Funktionäre in den Parteivorstand getragen. Die Betroffenen selbst vertrauen sich Vorstandsmitgliedern an. Eine trägt das Anliegen in den geschäftsführenden Bundesvorstand. Passiert ist erst mal nicht viel. Dafür treten die Parteivorsitzende Janine Wissler und Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler mit dem beschuldigten Stadtrat im Wahlkampf in Nürnberg auf. Da hätten sich manche mehr Distanz gewünscht.
Kurz vor der Bundestagswahl kommt doch noch Bewegung in die Sache. Eine der Betroffenen aus Nürnberg schreibt E-Mails an alle 44 Mitglieder des Parteivorstandes und fordert sie zum Handeln auf. Erst auf diesen Druck von außen wird der Nürnberger Fall in dem Gremium diskutiert und auf einer Klausurtagung im Oktober eine Vertrauensgruppe eingerichtet. Darin sollen fünf bis acht Personen aus dem Vorstand Opfern von Übergriffen, Machtmissbrauch und Diskriminierung innerhalb der Partei zur Seite stehen. Die Gruppe arbeitet ehrenamtlich, bekommt kein Budget und keine besonderen Befugnisse.
Die Gruppe widmet sich als Erstes den Vorwürfen in Nürnberg. Sie sprechen mit denen, die die Vorwürfe erhoben haben, und mit dem Kreisverband. Sie bitten auch den beschuldigten Stadtrat um ein Gespräch. Der antwortet auch, aber das Gespräch kommt nicht zustande.
Der Beschuldigte habe kein Unrechtsbewusstsein gezeigt, sagt Melanie Wery-Sims, rheinland-pfälzische Landesvorsitzende und Mitglied der Vertrauensgruppe. „So konnte schlicht keine Aufarbeitung passieren.“ Julia Schramm, ebenfalls im Parteivorstand und Teil der Vertrauensgruppe, sagt, S. habe sich „formaljuristisch nichts zuschulden kommen lassen“, aber auch keine Selbstreflexion gezeigt. Sie sagt weiter, die Gremien in Nürnberg hätten alles richtig gemacht. Eines aber ärgere sie. Schramm sagt: „Die sozialen Kosten tragen wieder einmal betroffene Frauen und nicht Männer. Von einer linken Partei erwarte nicht nur ich etwas anderes.“
Nach den Vorwürfen aus Wiesbaden und dem Rücktritt Hennig-Wellsows tagte am vergangenen Mittwoch der Parteivorstand. Er verabschiedete einen Beschluss, darin heißt es: „Wir bedauern die sexuellen Übergriffe in unserer Partei zutiefst und entschuldigen uns bei den Opfern“. Es folgt eine Reihe von konkreten Vorschlägen, wie der Vorstand künftig auf Sexismusvorwürfe reagieren will. Sie gehen zurück auf die Vertrauensgruppe: Es soll Ressourcen für ihre Arbeit geben, die Partei will bei Bedarf Psycholog:innen oder Anwält:innen bezahlen. Und vor allem sollen neue Sanktionsmöglichkeiten bei sexistischem Verhalten eingeführt werden, etwa die Entbindung von Ämtern in der Partei oder der befristete Entzug des Rederechts.
Die Verantwortlichen in Nürnberg betrachten die Vorwürfe gegen den Stadtrat S. als erledigt. Er wird nicht aus der Partei ausgeschlossen. Es gibt neue, extra geschulte Ansprechpersonen für Betroffene in Bayern, der Landesverband arbeitet an einer Richtlinie zum Umgang mit Sexismusvorwürfen.
Eine mögliche Maßnahme, die auch Linken-Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler dem Kreisverband Nürnberg empfohlen hat, sind geschützte Räume für Frauen, Frauenplena beispielsweise. Auf dem jüngsten Landesparteitag der Linken in Bayern, im Oktober 2021, fand ein solches Frauenplenum statt. Auf Antrag einer Parteigenossin wurde das Plenum ausgerechnet in diesem Jahr auch für Männer geöffnet, als Zuschauer, ohne Stimmrecht. Auch Stadtrat S. war unter den Gästen.
Mitarbeit: Luise Strothmann, Patricia Hecht
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste