Long Covid bei Kindern: Das Kind muss an die frische Luft
Als die Tochter unserer Autorin an Long Covid erkrankt, beginnt für die Familie eine schwere Zeit. Wie aus dem „Wurm“ wieder Olivia wurde.
D ie Sonne scheint. Die Frösche quaken am Teich. Es ist ein wunderschöner Tag im Mai. Einer, an dem man einfach nur draußen sein möchte. Doch wir sind drinnen, die Vorhänge und Fenster geschlossen. Meine Tochter Olivia liegt im Bett. Seit Monaten. Sie kann nicht aufstehen, nicht mal sitzen oder den Kopf heben. Es ist, als würde eine unsichtbare, tonnenschwere Last sie erdrücken. „Ich bin kein richtiger Mensch mehr“, sagt sie. „Ich bin nur noch ein Wurm.“ Sie ist 13 Jahre alt und an Long Covid erkrankt.
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Ich habe keine Worte für den Schmerz, meine Tochter so leiden zu sehen, und noch weniger für meine Fassungslosigkeit darüber, dass sich in unserem Gesundheitssystem niemand verantwortlich fühlt, niemand bereit ist, ihr zu helfen. Das Kind soll einfach daliegen, tatsächlich wie ein Wurm. Und ich als Mutter soll keinen Stress machen, denn Stress schadet ihr.
Die Pandemiezeit war eine Herausforderung für mich und meine Familie. Olivias 15-jähriger Bruder Willi ist schwer geistig behindert, und als im Lockdown alle Hilfen wegfielen, wurde unser Alltag zur Zerreißprobe. Aber Anfang des Jahres waren wir sicher, das Schlimmste sei überstanden, obwohl wir uns mit Corona ansteckten: Wir kannten niemanden, der einen schweren Verlauf hatte, wir waren alle geimpft und die Kinder gingen zu dem Zeitpunkt seit einem halben Jahr wieder ziemlich normal zur Schule.
Nie hätte ich gedacht, dass unser persönlicher Corona-Albtraum da erst anfängt. Ein halbes Jahr erleben wir eine unfassbare Zeit, voller Schmerz und Verzweiflung, aber auch voller Liebe und Hilfsbereitschaft. Und am Ende, wie ein Wunder, findet unsere Tochter zurück ins Leben.
Alles beginnt in der ersten Januarwoche, als meine Familie sich mit dem Coronavirus ansteckt. Um Olivia mache ich mir am wenigsten Sorgen. Ich bin vielmehr beunruhigt, wie wohl ihr Bruder und unsere Eltern durch die Infektion kommen: Sie kommen gut durch.
Zwei Wochen nachdem Willi das Virus aus seiner Förderschule mitgebracht hat, kann er auch schon wieder hingehen. Olivia ist nach mehreren Tagen mit hohem Fieber noch zu groggy. Sie übt lustlos mit mir ein paar Englischvokabeln, chillt im Bett und schaut Youtube. Ich rechne fest damit, dass es ihr bald besser geht.
Aber es geht nicht besser, im Gegenteil. Die Party zum 13. Geburtstag fällt aus. Die geschenkten Lammfellstiefel bleiben unbenutzt auf dem Flur, und das neue 1.500er-„Harry Potter“-Puzzle müssen wir auf dem Boden machen. Auf einem Stuhl sitzen ist für Olivia zu anstrengend.
Der Kinderarzt beruhigt uns: „Das ist normal, Jugendliche benötigten oft viele Wochen, um sich von der Infektion zu erholen.“ Genervt denke ich an meine aufgeschobene Arbeit.
„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind
Ich besorge Vitamin D, eine Freundin bringt Proteinpulver, mein Mann Matthias presst frische Säfte. Draußen regnet es. Olivia verbringt viel Zeit auf dem Boden neben meinem Computer, während ich versuche zu arbeiten. Sie bastelt und hört Hörbücher: „Robinson Crusoe“, „Moby Dick“, je länger, desto besser. Zwischendurch spielen wir. Doch die Kalahasteinchen erscheinen Olivia plötzlich schwer, das Backgammonbrett riesig. Immer öfter krabbelt sie zurück in ihren Deckenhaufen, um sich auszuruhen.
Auch die zwei Treppen bis in mein Arbeitszimmer kann sie bald nur noch auf allen vieren bewältigen. „Ich bin so fertig!“, sind ihre häufigsten Worte. Nachmittags kümmere ich mich um Willi. Er findet es super, dass seine kleine Schwester jetzt so viel im Bett liegt, bereit zum Kuscheln. Nur, dass sie nicht mehr zu ihm ins Zimmer zum Murmeln kommen kann, findet er blöd.
Immer wieder spreche ich davon, dass wir an die frische Luft gehen sollten und dass Olivia nächste Woche hoffentlich ein paar Stunden zur Schule könne. Immer wieder antwortet sie, das sei alles viel zu anstrengend. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich bin ungeduldig.
Olivia erzählt von Albträumen, in denen ich sie zur Schule zwinge, wo sie sitzt und sich nicht bewegen kann. Der Kinderarzt nimmt Blut ab und sagt, ich müsse mir keine Sorgen machen, alles sei in Ordnung. Aber ich mache mir Sorgen, denn ganz offensichtlich ist nicht alles in Ordnung.
Es wäre mir lieber gewesen, man hätte etwas im Blut gefunden, das mir erklärte, warum mein Kind immer schwächer wird – so etwas wie Eisenmangel, wo es nur ein paar Tabletten braucht.
Im ersten Jahr der Pandemie, als es das Wort Long Covid noch nicht gab, hörte ich im Radio, dass sich in Schweden einige Kinder ohne Vorerkrankungen selbst nach leichten Infektionen nicht erholten. Ich fragte mich damals, ob es wohl eine Nachricht wert gewesen wäre, wenn das Problem nur kranke und behinderte Kinder betroffen hätte.
Auch ich stelle im Verlauf von Olivias Erkrankung fest, dass ihre gesundheitlichen Probleme deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen, wenn ich berichte, dass wir sonst 70 Kilometer im Monat zusammen joggen, dass Olivia noch im Sommer mit ihren Pfadfinderinnen drei Wochen durch den Wald gewandert ist.
„Ich funktioniere einfach nicht mehr“, weint mein Kind nun häufig. Sie ist ratlos über das, was mit ihrem Körper passiert.
Meine Befürchtung, Olivia könne Long Covid haben, wächst täglich. Aber ich spreche das Wort nicht aus. Als wäre es ein schlechtes Omen. Nur mit dem Kinderarzt würde ich gerne darüber reden, doch er wimmelt uns ab. Nach zwei Monaten höre ich auf zu arbeiten und beginne stattdessen zu googeln. Ich finde Artikel, in denen Ärzte Long Covid bei Kindern entweder als überschätztes Problem bezeichnen oder mutmaßen, dass es das gar nicht gibt.
Eltern, die sich in Facebook-Gruppen über Long Covid austauschen, erzählen etwas ganz anderes. Viele der dort beschriebenen Kinder gingen seit über einem Jahr nicht zur Schule, würden im Rollstuhl geschoben und verbrächten die Tage allein im Bett. Ich lese von schweren Konzentrations- und Schlafstörungen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Muskelschwäche und -zuckungen, Lähmungen, Schwindel und immer wieder von starken Schmerzen und extremer Erschöpfung. Die meisten sind nach der Infektion, einige nach der Impfung erkrankt. Selbst die leicht Betroffenen sind weit entfernt von einer normalen Kindheit. Über Rehas oder Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken erfahre ich, dass die Kinder kränker nach Hause kommen, als sie hingefahren sind.
„Pacing“ ist das Gegenteil von Kindsein
Über die Selbsthilfegruppen erhalte ich so viele, oft widersprüchliche, Informationen, dass ich überhaupt nicht mehr weiterweiß. Doch in einem Punkt sind sich alle einig: Das Wichtigste für die Erkrankten ist „Pacing“. Als ich das Wort google, habe ich die Hoffnung, es sei eine handfeste, medizinische Therapie. Aber es bedeutet nur, niemals mit den Kräften an die Grenze der eigenen Belastbarkeit zu gehen, sondern immer darunter zu bleiben. Das Gegenteil vom Kindsein.
Aber mir leuchtet ein, warum Pacing sein muss. Wann immer Olivia sich nur etwas zu sehr anstrengt, verschlechtert sich ihr Zustand. Ein sogenannter Crash.
Wir wechseln zu Willis Kinderärztin. Auch wenn sie, außer Globuli in Betracht zu ziehen, nichts tun kann, nimmt sie die Sache ernst, rät ebenfalls zur Schonung und überweist uns zu einem Herzecho, um eine Herzmuskelentzündung auszuschließen.
Ich höre auf, Olivia spanische Personalpronomen abzufragen oder zu versuchen, sie an die frische Luft zu zerren. Viele Stunden Häkeln, Puzzeln, SkipBo und zwei Staffeln argentinische Teenie-Telenovela später – für die Olivia im Leben vorher nie Zeit gehabt hätte – haben wir endlich das Gefühl, dass es langsam bergauf geht.
Doch nur ein einziger sonniger Nachmittag, an dem zum ersten Mal Schulfreundinnen kommen und Olivia im Bollerwagen durch die Siedlung ziehen, macht alles kaputt. Am Abend sagt Olivia, es sei der schönste Tag ihres Lebens gewesen. Am nächsten Morgen kann sie keinen einzigen Schritt mehr ohne Hilfe gehen, geschweige denn stehen.
Olivias Kopfschmerzen werden immer schlimmer. Ihr Herz rast selbst dann, wenn sie liegt, und gerät ständig aus dem Takt. Das macht ihr Angst – doch bis zu dem mühsam ergatterten Termin bei der Kardiologin sind es noch Wochen.
Ich fühle mich oft traurig, bin ungeduldig mit Matthias, und es fällt mir immer schwerer zu essen. Nicht mal der Kaffee schmeckt mehr.
Die Internetrecherche macht mir Angst. Ich lese, dass viele Eltern stark betroffener Kinder nicht von Post Covid oder Post Vac – also Long-Covid-Symptomen nach Impfung –, sondern von ME/CFS sprechen, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, einer Erkrankung, die schon lange bekannt, aber weitestgehend unerforscht ist. Viele Erkrankte verbringen ihr Leben im Bett in abgedunkelten Zimmern. Nach jeglicher Aktivität verschlechtert sich der Zustand. ME/CFS tritt meist nach Virusinfektionen auf. Es gilt als nicht heilbar. Schon vor Corona litten daran über 250.000 Menschen in Deutschland – unterversorgt, psychologisiert, ignoriert. Sie nennen sich „lebende Tote“. Ich muss das verdrängen.
Als Olivia Fieber bekommt, verbringe ich die Nacht bei ihr im Bett, ich mag sie nicht mehr alleine lassen. Es ist Mitte März, nach 8.000 gepuzzelten Teilen und über zehn Meter Stricklieselband gehen wir das erste Mal ins Krankenhaus. Keiner von uns kann sich zu dem Zeitpunkt vorstellen, wie viele Krankenhausaufenthalte folgen werden und wie viele Monate es dauern wird, bis Olivia wieder in ihr Kinderzimmer und ich in unser Ehebett zurückkehre.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich gehe davon aus, dass mein Kind Long Covid hat und man ihm im Krankenhaus helfen wird. Aber es geht nie um Therapie, sondern nur um Ausschlussdiagnostik. Untersucht wird alles Erdenkliche, und wird nichts gefunden, ist die Diagnose entweder eine psychische Erkrankung oder Long Covid. Dauern die Symptome mehr als drei Monate an, spricht man von Post Covid, bei weiter anhaltenden schwerwiegenden Symptomen vom Chronischen Fatigue-Syndrom.
Viele Mechanismen dieser Erkrankungen sind bis jetzt unerforscht. Doch in mehreren medizinischen Publikationen lese ich, dass es sich bei Post Covid um eine Autoimmunerkrankung handeln könnte. Im Blut der meisten Patienten finden sich bestimmte Autoantikörper, die körpereigene Strukturen angreifen. Aber im Krankenhaus scheint sich damit niemand auszukennen. Kann es sein, dass ich mehr weiß als die Ärzt:innen?
Bei einer der vielen Blutabnahmen traue ich mich, vorsichtig um die Bestimmung dieser Autoantikörper zu bitten. Die Ärztin lacht verächtlich. Mit den Worten: „Brauchen Sie Hilfe von uns oder wir von Ihnen?“, werde ich auf meinen Platz verwiesen.
Das Schlimmste im Krankenhaus ist die Belastung für Olivia. Sie baut weiter ab. Neben den anstrengenden Untersuchungen, den weiten Wegen und Wartezeiten herrscht eine ständige Unruhe. Weinende Kinder, telefonierende Eltern, piepsende Geräte, selbst nachts ein ewiges Rein und Raus, Wecken um 7 Uhr – Pacing unmöglich.
Weil auf Olivia nicht gehört wird, muss ich mein Kind vor unnötigem Stress schützen. Man sagt ihr: „Du musst keine Angst haben. Es ist nicht schlimm.“ Doch wer kann beurteilen, was für einen anderen schlimm ist? Wir erleben, dass körperliche Reaktionen wie Herzrasen oder Schwindel, die sich mit den durchgeführten Untersuchungen nicht erklären lassen, als Angststörung abgetan werden. Oft verzweifelt Olivia, weil man ihr nicht glaubt. Mich hält man für eine Helikoptermutter.
Vor Olivias Erkrankung hatte ich mal gelesen, es sei schwierig, bei Kindern „Long Lockdown“ von Long Covid zu differenzieren, denn Symptome wie Kopfschmerzen oder Erschöpfung träfen auf beide Gruppen zu. Das leuchtete mir damals ein. Aber dass mein völlig gesundes und munteres Kind so viele Monate nach dem Lockdown jetzt zufällig ab dem Tag der Infektion psychisch krank geworden sein soll, ergibt keinen Sinn.
Als eine Krankenhauspsychologin kommt, denke ich, sie will uns helfen. So hatte ich es erlebt, als unser Sohn Willi nach seiner Geburt lange sehr krank gewesen war. Die Psychologin fragt mich, wie es mir geht. Es tut mir gut, endlich mit jemandem über meine Angst und Erschöpfung sprechen zu können. Doch als ihre Mimik am Ende des Gesprächs von verständnis- zu vorwurfsvoll wechselt, ist es wie ein Schlag in mein Gesicht: „Als Mutter müssen Sie das schützende Dach der Familie sein“, sagt sie, als wisse sie plötzlich, wer „schuld“ an der Erkrankung meiner Tochter ist. Eine einfache Rechnung: behinderter Bruder + heulende Mutter = psychosomatisch krankes Kind.
Dabei sind mein Mann und ich sehr wohl ein gutes Dach für unsere Familie – auch wenn es mit Willi oft sehr anstrengend ist. Mein jetziger Zustand ist nicht Auslöser von Olivias Erkrankung, er ist die Folge. Mir wird klar, dass ich hier gegen viel mehr als nur dieses scheiß Long Covid zu kämpfen habe. Ich nehme mir vor, nie wieder vor einer Krankenhauspsychologin zu weinen.
Bis heute frage ich mich, was gewesen wäre, wenn Olivia wirklich keine körperliche, sondern eine psychische Erkrankung gehabt hätte. Denn auch bis wir einen Psychotherapeuten finden würden, sollte mehr als ein halbes Jahr vergehen. Er arbeitet mit Olivia heute an den traumatischen Erfahrungen ihrer Erkrankung.
Wir hatten Olivia im Rollstuhl ins Krankenhaus gebracht und schieben sie eine Woche später liegend wieder nach Hause, ohne jegliches Behandlungskonzept. Ich kann das nicht glauben. Vielleicht sind die Ärztinnen genauso ratlos wie wir. Ich weiß es nicht, denn niemand spricht mit uns.
Aber wozu musste Olivia durch diese unvorstellbar belastende Diagnostik gehen – sogar Nervenwasser aus der Wirbelsäule wurde entnommen –, wenn die Diagnose Post Covid schlussendlich überhaupt keine therapeutische Konsequenz hat?
15 Jahre nach der Geburt meines ersten Kindes ist nun auch mein zweites ein Pflegefall. Der Toilettenstuhl, das Pflegebett und eine Matratze für mich kommen ins Wohnzimmer. Den Rollstuhl stellen wir nach oben in Olivias Zimmer, sie kann nicht mehr sitzen, nicht mal mehr den Kopf heben. Ihr verlassenes Zimmer gleicht bald einer Abstellkammer. Ich vermeide es, die Tür zu öffnen. Es schmerzt zu sehr.
Draußen blühen die Apfelbäume. Olivia ist oft so schwach, dass ich sie füttern muss. „Ich fühl mich wie ein Sack aus Haut, in den man ein paar Organe gestopft hat“, sagt sie und bezeichnet sich selber als Wurm. Nur mit viel Hilfe kann der Wurm an die Kante seines Pflegebetts kriechen, um von dort auf den Toilettenstuhl gesetzt zu werden. Kniffelbecher oder Rommékarten kann er nicht halten.
Olivia schaut sich durch zwei alte Staffeln „Magisches Kochbuch“. An guten Tagen hört sie „Die drei???“ und bastelt ein wenig im Liegen. Ich nerve sie dabei unendlich mit meiner Sorge, sie könnte sich überanstrengen.
Manchmal tragen wir unsere Tochter auf die Terrasse, damit sie den Frühling sehen kann, aber es ist zu viel. Sie entwickelt eine extreme Geräuschempfindlichkeit und unerträglichen Schwindel nach den leichtesten Erschütterungen oder dann, wenn ihr Kopf nur ein wenig erhöht ist.
Immer wieder hat Olivia traurige und wütende Phasen, besonders an den Wochenenden, wenn ihre Pfadfindergruppe unterwegs ist. Sie will, dass ich sie aus allen Vereinen abmelde. Ich tue es nicht, obwohl ich selber auch alle Whatsapp-Gruppen für Eltern verlassen habe.
Schon lange ist bei uns nicht mal mehr ein halbwegs normaler Alltag möglich. Die Pflege zweier vollkommen unselbstständiger Kinder neben der Aufgabe, für Olivias medizinische Behandlung selber verantwortlich zu sein, ist erdrückend. Unsere wundervollen Eltern sind im Dauereinsatz bei der Betreuung von Willi. Zusätzlich hilft ein Pflegedienst.
Wenn Matthias nicht arbeitet, übernimmt er die Willi-Schicht und die Hausarbeit. Wir kommen kaum dazu, einen Satz miteinander zu sprechen, der nicht dringende Familienorganisation oder die Ergebnisse meiner Medizinrecherche betrifft. Sozialkontakte sind unmöglich – nicht einmal ein Spaziergang oder Kaffee mit einer Freundin ist mehr drin. Wir sind völlig aus der Welt gefallen. Aber die Welt lässt uns nicht fallen.
Wir werden getragen, nicht nur von Familie und Freunden. Sogar fremde Menschen – manche selbst betroffen – schicken uns Nachrichten, Briefe, Karten, Blumen, Bastelsachen bis hin zu Fresskörben voller Schokolade, ohne die mir alle meine Hosen vom Körper gerutscht wäre.
Olivias Freundin kommt jede Woche, legt sich zu ihr ins Pflegebett, ist einfach da.
Die Schule macht zum Glück keinen Druck. Olivias Lehrerinnen und Lehrer besuchen sie. Einmal bringen sie Post von der Klasse. Am Abend schaut Olivia alles andächtig durch: Manche Kinder haben philosophische Briefe geschrieben, andere schicken Witze und Cartoons. Es sind auch viele gemalte Bilder dabei und sogar „blöde Jungs“ haben sich richtig Mühe gegeben. Es ist einer der schönsten Tage dieser furchtbaren Zeit.
Auch mit unserer neuen Kinderärztin haben wir großes Glück, sie macht Hausbesuche und versucht Hilfe über die 130 Kilometer entfernte Post-Covid-Ambulanz zu bekommen. Aber auch dort will, kann oder darf kein ernsthafter Therapieversuch gestartet werden. Dabei weiß ich, dass man Medikamente ausprobieren könnte, auch wenn es noch keine zugelassenen Heilverfahren gibt. Off-Label-Use nennt sich das. Doch das traut sich keiner. Ich dränge, ich nerve, ich bettle, ich wirke hysterisch.Währenddessen verursacht Olivias Bettlägerigkeit immer neue gesundheitliche Probleme: verätzte Speiseröhre, Rücken- und Gelenkschmerzen, Verstopfung, Druckstellen.
Im Körper meines Kindes tobt eine Krankheit, und statt deren Ursache zu bekämpfen, bekommen wir Stützstrümpfe und den Rat, uns in Krankheitsakzeptanz zu üben. Die ganze Situation ist so unglaublich, dass es sich vollkommen irreal anfühlt. Es ist ein Albtraum.
Mittlerweile bin ich über Selbsthilfegruppen gut vernetzt. Durch die Veröffentlichung mehrere Kolumnen, in denen ich von Olivias Zustand erzähle, melden sich Ärztinnen und Wissenschaftler, die uns beraten. Betroffene organisieren eine Instagram-Aktion: Der Account @nichtgenesen soll Erkrankten ein Gesicht geben. Auch Olivias Bild ist dabei.
Anfang Mai bekommen wir die Anfrage eines Filmteams der ARD, das eine Dokumentation mit dem Wissenschaftsjournalisten Eckart von Hirschhausen zum Thema Long Covid dreht. Wir sagen zu. Olivia will gehört werden. Sie will nicht lautlos verschwinden aus dieser Welt.
Der Zustand bei uns zu Hause ist mittlerweile unhaltbar. Egal wie sehr Matthias und ich uns anstrengen, wir können nicht beiden Kindern gerecht werden. Wie soll unser wilder und lebensfroher Willi, der laute Musik über alles liebt und der, statt zu sprechen, nur einzelne Töne schreien kann, im selben Haus leben wie seine kranke Schwester, der jedes Geräusch körperliche Schmerzen verursacht?
Beide Kinder brauchen mich, aber ich kann mich nicht zerteilen. Ich bin bei Olivia am Bett, als Willi oben versucht, alleine aufs Klo zu gehen, und das ganze Bad mit Kot beschmiert. Während ich Willi bade und sauber mache, nässt sich Olivia fast ein, weil ich ihr leises Rufen und Weinen nicht höre, als sie zur Toilette muss. Wir stellen für Willi einen Antrag auf Heimunterbringung – bis heute schäme ich mich dafür.
Auch Matthias geht es immer schlechter. Er sagt, es sei der Krieg. Wie riesengroß seine Angst um Olivia ist, merke ich, als er ihr ein kleines Rudel Nagetiere in einem Terrarium neben ihrem Bett erlaubt.
Die Zeit vergeht langsam. Physiotherapie, Osteopathie, Nahrungsergänzungsmittel – alles ist anstrengend, und es ist kaum zu beurteilen, ob es Olivia mehr nutzt oder mehr schadet. Ich könnte vieles erzählen. Zum Beispiel von dem Tag, an dem es Olivia so schlecht geht, dass sie um Hilfe schreit und man uns im Krankenhaus gnadenlos abweist. Nie im Leben war ich so verzweifelt.
Auch wenn es noch keine durch Studien belegten Beweise zu den Krankheitsmechanismen von Post Covid gibt, schien mir die These der Autoimmunreaktion immer plausibel. Olivias Blut ließen wir daher in einem Speziallabor auf Autoantikörper untersuchen. Der Befund: positiv. Doch niemanden interessierte es, dass Olivias Immunsystem Antikörper produziert, die sie womöglich krank machen. Man schaut mich an, als hätte ich eine Hellseherin im Kaffeesatz lesen lassen.
Dabei lieferte das Ergebnis der Blutuntersuchung aus meiner und der Sicht vieler Wissenschaftler:innen einen Ansatz zur ursächlichen Behandlung: Die Autoantikörper simulieren im Körper Stresssubstanzen wie Adrenalin. Sie setzen sich auf die Rezeptoren des Herz-Kreislauf- und des Nervensystems und lösen so im Körper einen dauerhaften Ausnahmezustand aus – was auch die Fülle an Symptome erklären würde. Autoantikörper, das ist die gute Nachricht, lassen sich aus dem Blut entfernen.
Immer wieder lese ich von einem vielversprechenden Herzmedikament mit dem schönen Namen BC007, welches Autoantikörper bindet und mehrere Menschen mit Long Covid geheilt haben soll. Doch es ist noch nicht zugelassen. Ich bin sicher, nicht einmal mit einem bewaffneten Überfallkommando ließe es sich beschaffen, sonst hätten wir es vielleicht versucht.
Ein anderes Verfahren, das Antikörper mittels „Blutwäsche“ entfernt, nennt sich Immunadsorption. Seit vielen Jahren wird sie bei Multipler Sklerose und anderen Autoimmunerkrankungen erfolgreich eingesetzt. Doch ihre Wirksamkeit ist für Long Covid oder ME/CFS noch nicht mit Studien belegt, also müssen die Kosten von rund 15.000 Euro privat bezahlt werden. Viele Erkrankte, die das Geld aufbringen können, tun das. Niemand wertet die wissenschaftlichen Daten aus. Obwohl wir nicht wissen, ob es der richtige Weg ist, flehen wir Kliniken an, bei unserem Kind eine Immunadsorption durchzuführen. Ohne Erfolg. Niemand möchte ein Kind behandeln.
Olivia und ich sprechen und weinen viel, aber wir lachen auch und halten uns nachts im Arm. Eine Psychologin befindet, diese Nähe sei nicht altersgemäß für eine Teenagerin. Aber mit 13 nicht den Kopf halten zu können und den Po abgewischt zu bekommen ist es auch nicht.
Mein „Wurmi“ freut sich über blühende Äste von draußen, und ihr Papa filmt für sie mit dem Handy Insekten und Frösche am Teich. Olivia fertigt über viele Wochen ein Stickbild mit den Worten „Fuck Corona“. Sie spricht von ihrer Sehnsucht nach Sand und Gras unter ihren Füßen, wir träumen davon, was wir tun werden, wenn sie wieder im Rollstuhl sitzen kann.
Ein Arzt schickt mir eine aktuelle Studie zur Prognose des Chronischen Fatigue-Syndroms bei Kindern und Jugendlichen. Er möchte mir Mut machen: Mehr als die Hälfte werden wieder gesund, durchschnittliche Erkrankungsdauer fünf Jahre. Fünf Jahre!
Über Beziehungen, Familie und Freunde kommen wir plötzlich in Kontakt mit einem Nephrologen, der bereit ist, bei Olivia einen individuellen Heilversuch mittels einer Immunadsorption zu wagen. Wir fürchten eine weitere Verschlechterung, aber noch viel mehr fürchten wir, es könnte so schrecklich bleiben, wie es ist.
Ich lese, dass andere Ärzte vor der Immunadsorption warnen: Es könne zu Kreislaufproblemen oder Entzündungen an den Einstichstellen kommen. In Anbetracht von Olivias Zustand erscheint das lächerlich.
Als wir unseren geliebten Wurm vorsichtig auf die Liegefläche unseres VW-Busses betten und uns auf den Weg ins zwei Stunden entfernte Krankenhaus machen, sind die Bäume draußen schon lange grün. Meine Hoffnung in die Therapie ist groß. So groß, dass ich überlege, die Lammfellstiefel, die nun schon so lange unbenutzt im Flur stehen, mitzunehmen. Ich lasse sie zu Hause: Olivia wird nicht plötzlich aus dem Bett aufstehen, außerdem sind es 22 Grad.
An fünf Tagen läuft Olivias gesamtes Blut außerhalb ihres Körpers durch ein Gerät, das alle Antikörper herausfiltert. Aufgrund seiner Erfahrungen mit anderen Autoimmunerkrankungen ist der Arzt optimistisch, dass sich die Autoantikörper – anders als alle anderen Antikörper – nicht nachbilden werden. An jedem einzelnen Tag nimmt er sich mehr Zeit für Gespräche als alle Krankenhausärzt:innen bis dahin zusammen. Auch weitere Schritte in Bezug auf Medikamente diskutieren wir auf Augenhöhe. Als wir wieder abreisen, geht es Olivia nicht besser, aber auch nicht schlechter: Sie hat trotz der großen Anstrengung keinen Crash – ein gutes Zeichen.
In den folgenden vier Wochen kämpfe ich mit meiner Enttäuschung darüber, dass Olivia immer noch bettlägerig ist, und mit meinem Schmerz angesichts zweier verwaister Kinderzimmer und des leeren Küchentischs: Willis Platz ohne Krümel, das hat es nicht gegeben, seit er in eine Laugenbrezel beißen kann.
Immerhin kann Olivia wieder auf der Terrasse liegen, wenn auch unter Daunendecken, obwohl es mittlerweile heiß geworden ist. Sie hat etwas mehr Energie, wir müssen bei Besuch den Wecker nicht mehr auf 20 Minuten stellen, und ihre Bastelprojekte werden wieder größer. Wir flechten Körbe aus frischem Stroh. Auch Olivias Filmgeschmack macht Fortschritte: Nach Wochen mit lahmen Märchenverfilmungen sind wir nun in der zweiten Staffel „Star Trek: The Next Generation“.
Matthias und ich fahren für eine Nacht nach Berlin aufs Pearl-Jam-Konzert, während mein Bruder mit Olivia durchkniffelt. Sie kann den Würfelbecher wieder halten, und ich mag wieder Kaffee trinken.
Willi kommt übers Wochenende nach Hause, darf Olivia wieder umarmen und fährt vergnügt zurück in seine Gruppe. Und dann, ganz plötzlich, verwandelt sich der Wurm wieder in eine wundervoll normale Jugendliche. Von dem Tag, an dem Olivia den Kopf wieder heben kann, bis zum freien Sitzen – und damit auch dem ersten Gang zur richtigen Toilette! – sind es gerade mal zwei Wochen.
Wenige Tage später bearbeitet Olivia an der Werkbank ein Stück Holz mit einem Stemmeisen, und ich schiebe sie im Rollstuhl durch Wald und Feld. Dann erste Schritte mit der Physiotherapeutin, dann mit Krücken, sitzen auf einem normalen Stuhl, eine Fahrt im Auto zu Oma und Opa. Das erste Mal wieder schlafen im eigenen Bett, den Kleiderschrank öffnen – nichts passt mehr! Übernachten mit einer Freundin und endlich wieder Musik hören: „Clandestino“ von Manu Chao.
Ende Juli packen wir den Rolli ein und fahren in den Urlaub an die polnische Ostsee. Erste freie Schritte im Sand, baden im Meer, schlafen am Strand, Lagerfeuer, Gitarre. Ein Wunsch nach dem anderen geht in Erfüllung. Nach den Sommerferien kann Olivia schon wieder teilweise zurück in ihre alte Schulklasse, ohne Noten und Leistungsdruck.
Nie im Leben bin ich so glücklich gewesen! Doch fast täglich melden sich verzweifelte Familien bei mir, die unser Glück nicht haben – alle auf der Suche nach Hilfe. Ich erfahre Unglaubliches: Kinder werden aus Ratlosigkeit in Psychiatrien eingewiesen. Eltern, die das verhindern wollen, versucht man das Sorgerecht zu entziehen. Eine Mutter schickt mir einen Link zur Bild-Zeitung. Der Arzt einer Post-Covid-Ambulanz grinst mir entgegen. Unter der Überschrift „Long Covid ist vor allem oft Kopfsache“ rät er zu Psychotherapie und Sport.
Derselbe Arzt, Leiter der Neurologie einer Uniklinik, teilt auf Twitter Verleumdungen von Querdenkern, die implizieren, wir hätten uns für die Teilnahme an der ARD-Dokumentation von der „Lügenpresse“ bezahlen lassen: Olivia als Schauspielerin, um die Gebührenzahler mit Panikmache zu manipulieren.
Darunter zahllose Kommentare, in denen Menschen sich über uns die Mäuler zerreißen: Man sollte mir, dieser ekelhaften, medien- und profitgeilen Systemhure, sofort das Kind wegnehmen! Und falls Olivia wider Erwarten wirklich krank gewesen sei, wäre das ohnehin die gerechte Strafe für die „Giftspritze“ – womit die Impfung gemeint ist.
Wo kommt nur dieser Hass her?
Zum Glück spielt sich all das in einer Social-Media-Blase ab, die unser echtes Leben kaum berührt. Wenn Olivia davon hört, wird sie wütend. Sie sagt, sie wünscht ihre Krankheit niemandem – nur diesen Leuten würde sie sie gönnen.
Nach Ausstrahlung der Dokumentation Ende Oktober melden sich auch einige Mediziner öffentlich zu Wort. Manche ihrer Stellungnahmen lesen sich so, als empöre sie die katastrophale Lage der Erkrankten weniger als die Tatsache, dass Heilansätze gezeigt wurden, deren Wirksamkeit mit Studien noch nicht belegt ist.
Immerhin sollen zum Jahreswechsel endlich die ersten klinischen Studien zur Wirkung von Immunadsorptionen und einiger Medikamente bei Long Covid anlaufen. Aber Betroffene können unmöglich warten, bis die Ergebnisse vorliegen, das kann Jahre dauern.
Und wird bis dahin weiterhin nur behandelt, wer genug Geld, Wissen oder Beziehung hat? Das ist so ungerecht. Manche halten Berichte über Fälle wie unseren für „Panikmache“. Für meine Familie kann ich aber sagen: Alle meine Worte hier vermögen noch lange nicht die Panik und den Schmerz auszudrücken, die wir erlitten haben. Ich weiß nicht, wie viele Menschen das Post-Covid-Syndrom und ME/CFS betrifft, es fehlen Daten. Aber ich finde, es sollte uns alle angehen. Denn jedes Kind, das keine Freund:innen mehr treffen und nicht mehr zur Schule gehen kann, ist eines zu viel.
Meine Tochter hat ihr Leben zurück, nur der Spitzname „Wurmi“ ist geblieben. Wir bekommen diesen Herbst gar nicht genug von der Schönheit der Welt, die wir so vermisst haben: bunte Blätter, Äpfel, Steinpilze. Jeden Tag ist Olivia draußen und endlich ganz altersgemäß auch wieder ohne mich.
Die Lammfellstiefel passen noch.
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