Ampelkoalition zögert bei Long Covid: Kurzsichtig bei Langzeitfolgen

Laut Schätzung leidet jeder zehnte einst Corona-Infizierte an Long Covid. Der Forschungsbedarf ist groß. Doch die Regierung agiert allenfalls halbherzig.

Feldbetten mit Porträts von Betroffenen aus ganz Deutschland stehen vor dem Reichstag

Protest mit Feldbetten und Fotos von Betroffenen, die unter Long Covid leiden, 2023 Foto: Hannelore Förster/imago

BERLIN taz | Lange Zeit kannte Anna Brock das Gesundheitssystem vor allem aus der Perspektive einer Medizinerin. Doch in der Coronapandemie, nachdem sie sich selbst mit dem Virus infiziert hatte, ändert sich das schlagartig: Plötzlich wird aus der Ärztin Brock eine Patientin, die dringend Hilfe sucht – und diese nur schwerlich findet.

Doch der Reihe nach: Anfang 2021 steckt sich Brock bei einer Visite in einem Altenheim mit Covid an, 14 Tage lang ist die Internistin aus Filderstadt bei Stuttgart schwer krank. In Woche drei fühlt sie sich erholt, in der vierten Woche sind die Beschwerden wieder da, heftiger als zuvor: Brock ist erschöpft, leidet an Muskelschwäche, hat kognitive Aussetzer. „Ich wusste nicht mehr, dass man ein Messer braucht, um ein Brot zu schmieren“, sagt die 43-Jährige heute.

Als es ihr im Sommer endlich wieder gut geht, kommen die Beschwerden nach einer Corona-Impfung zurück. Es folgt ein monatelanges Auf und – vor allem – Ab. Später ist Brock krankgeschrieben und wird es zehn Monate lang bleiben. Die sonst so sportliche Frau schafft es kaum die Treppe hoch und zeitweise nicht einmal aus dem Bett.

Sie erlebt, was viele andere Long-Covid-Patienten (laut Fachzeitschrift Nature Reviews Microbiology folgt Long-Covid auf mindestens 10 Prozent der Covid-Infektionen) auch beschreiben: „Ich bin von Arzt zu Arzt ge­gangen und wurde nicht ernst genommen, nirgendwo mit spezielleren Diagnoseverfahren untersucht.“ Dennoch will sie niemandem einen Vorwurf machen: „Ich war ja auch nicht besser“, sagt Brock, „den Kollegen fehlte einfach das Wissen, die waren komplett hilflos.“

Tatsächlich gibt es für postvirale Erkrankungen weder bewährte Diagnoseverfahren noch Standardterapien. Zudem ist unklar, was Long Covid oder ähnliche PostVac-Symptome nach einer Impfung auslöst – und vor allem: was dagegen hilft. Andererseits gibt es längst Hinweise auf Krankheits­mechanismen und beinahe etablierte Off-Label-Therapien. Doch weil klinische Studien fehlen, kaum ein Arzt das Risiko eingeht, stehen sie den wenigsten zur Verfügung. Nicht selten bleiben Schwerkranke hilflos zurück.

13.000 Euro aus eigener Tasche

So wie Ärztin Brock zunächst. Am Ende ihrer Ärzte-Odyssee findet sie schließlich einen Ansatz. Als sie ihr Blut untersucht, entdeckt sie Autoantikörper, Antikörper also, die sich gegen eigenes Gewebe richten. Sie wagt einen experimentellen Therapieversuch: eine Immunadsorption, die die Autoantikörper aus ihrem Blut wäscht. Nach und nach geht es ihr besser, auch wenn es ein teuer erkaufter Erfolg ist: 13.000 Euro zahlt sie dafür, aus der eigenen Tasche.

Die wenigsten Betroffenen können sich das leisten. Dass die Studien zu Long Covid nur langsam vorankommen, ist aus deren Sicht ein politisches Versäumnis. In den USA hatte eine Regierungsbehörde bereits Anfang 2021 gut 1 Milliarde US-Dollar für die Long-Covid-Forschung angekündigt – Deutschland damals noch nichts.

Seither wird mehr gekleckert als geklotzt. Täglich appellieren Menschen in den sozialen Medien an Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, mehr Geld bereitzustellen. Weil die FDP-Politikerin für Grundlagen- und Therapieforschung zuständig ist, fordert die Betroffenenorganisation von ihr „eine massive Forschungsagenda“. Vor allem für biomedizinische Forschung habe der Bund bisher nur „einen sehr geringen Betrag“ bereitgestellt.

14 Millionen Euro sind es. Die ersten 4 Millionen Euro hatte das Bundesforschungs­ministerium (BMBF) im September 2021 als Teil einer 6,5 Millionen-Euro-Förderung für Long-Covid-Projekte freigegeben. Weitere 10 Millionen Euro folgten im vorigen Jahr – doch erst auf Beschluss des Bundestages, dem einiger öffentlicher Druck voranging.

Umso größer sind nun die Hoffnungen, die auf dieser Förderung ruhen. Sie reicht für sechs klinische Studien, verantwortet an der Berliner Charité. Dazu werden Mittel erprobt, die sich für andere Krankheiten bereits bewährt haben, zum Beispiel ein Medikament ­gegen Durchblutungsstörungen oder Entzündungshemmer wie Cortison. Im Idealfall gibt es im Jahr 2024 Notfallzulassungen für Mittel gegen Long Covid.

Bis dahin muss die Charité herausfinden, welche Arznei für welche der teils sehr verschiedenen Untergruppen von Long Covid geeignet ist – und welche bei der postviralen Multisystem­erkrankung ME/CFS. Auch ein Teil der am schwersten an Long Covid Erkrankten erhält diese Diagnose, doch ME/CFS hat schon lange vor der Pandemie zehntausende Menschen in Deutschland zu Pflegefällen gemacht – bis jetzt gibt es keine heilende Therapie und praktisch keine Forschung.

„Brauchen Therapiestudien an jeder Front“

Auch die Wirksamkeit der Immunadsorption soll an der Charité untermauert werden – jenes Verfahren, das Anna Brock half, wieder auf die Beine zu kommen. Sie sei grundsätzlich keine Freundin von Off-Label-Therapien, sagt die Internistin. Dennoch hält sie es für sinnvoll, zumindest einige etablierte Ansätze mit gut verträglichen und bei anderen Erkrankungen zugelassenen Medikamenten zu legitimieren, solange die Forschung nicht vorankommt. Vor allem dies müsse sich jedoch schnell ändern, meint sie: „Wir brauchen Therapiestudien an jeder Front.“

Deren Notwendigkeit hat auch die Bundesregierung offensichtlich erkannt. Was aber nicht heißen muss, dass man im Kabinett zwangsläufig an einem Strang zieht, wie ein kleiner Disput kürzlich bei Twitter zeigt: Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war mit dem Chef des Start-ups Berlin Cures zusammengetroffen, das den vielversprechenden Wirkstoff BC007 entwickelt hat.

Nach erfolgreichen Heilversuchen an der Uniklinik Erlangen strebt er die Zulassung als Long-Covid-Medikament an und kämpft um das nötige Geld für klinische Studien. „Werde auf [das] BMBF noch einmal zugehen zur Finanzierung einer Studie mit BC007“, twitterte Lauterbach nach dem Termin. Die Antwort kam ebenfalls per Tweet: Man habe längst eine Pilotstudie mit BC007 bewilligt, die nur noch nicht begonnen habe, weil „Berlin Cures­ den Wirkstoff nicht liefern konnte“, schrieb Forschungsstaatssekretär Jens Brandenburg (FDP). Und fügte süffisant an: „Das kann man bei uns auch vor solchen Terminen erfahren.“

Tatsächlich enthielt das Förderpaket aus dem September 2021 auch 1,2 Millionen Euro für eine „Pilotstudie“ der Uniklinik Erlangen mit BC007. Nur:­ Wie sie geplant ist, würde sie nicht ausreichen, um das Produkt anschließend auf den Markt zu bringen – größere Zulassungsstudien müssten folgen. Ging es Lauterbach also um weiteres Geld für eine richtige Zulassungsstudie in Regie des Unternehmens? Sein Sprecher lässt das auf taz-Anfrage offen. Im BMBF heißt es, es liege weder ein Förderantrag von Berlin Cures vor noch eine Anfrage aus dem Gesundheitsministerium.

So wirkt das Agieren des Bundes wenig koordiniert und eher zaghaft. Zwar fließt viel Geld in die Auswertung von Daten über akute Covid­verläufe, zudem will das BMBF jetzt neue Technologien für Diagnose und Unterstützung von Long-Covid-Betroffenen mit 6 Millionen Euro und die Ursachenforschung bei ME/CFS mit 2,2 Millionen Euro fördern. Ausgerechnet die Mittel für die teuren klinischen Studien aber bleiben knapp. Dabei sind sie die Voraussetzung für Arzneimittelzulassungen.

Sepp Müller, Unionsfraktionsvize im Bundestag, lobt gegenüber der taz einige gute Ansätze, fordert aber „ein schnelleres Handeln seitens der Bundesregierung“. Gemeinsame Initiativen von Gesundheits- und Forschungsministerium, die sowohl Long Covid als auch ME/CFS in den Fokus nähmen, seien „aktuell nicht erkennbar“. Der CDU-Mann fordert ein parteiübergreifendes Vorgehen.

Bedarf besteht auch in der akuten Versorgung von Long-Covid-Patienten. Die meisten Spezialambulanzen sind überlaufen, viele arbeiten nicht interdisziplinär und nehmen Menschen nicht an, die an den Folgen einer Impfung leiden oder schon vor der Pandemie an ME/CFS erkrankten. Von der Zusage des Koalitionsvertrages, ein Netzwerk von Kompetenzzentren für ME/CFS-Betroffene zu schaffen, war Gesundheitsminister Lauterbach zuletzt abgerückt.

Auch in die Versorgung fließen öffentliche Mittel nur langsam, zäh und oft regional. So bewilligte der Gemeinsame Bundesausschuss der Uniklinik Jena im November 5,8 Millionen Euro für drei Jahre, um 700 Long-Covid-Betroffene wohnortnah zu betreuen, mit Videosprechstunden und einer mobilen Ambulanz.

Dass das nicht viel ist, hat auch Lauterbach erkannt. Ende Januar machte er im Interview mit der Rheinischen Post überraschend eine Ansage und stellte 100 Millionen Euro in Aussicht, um „das optimale Versorgungskonzept für Menschen mit Long Covid“ zu suchen. Wann und wohin das Geld fließt, ist unklar. Auf taz-Nachfrage wollte das Ministerium keine Details nennen.

Anna Brock ist seit Oktober wieder als Ärztin tätig, zumindest in Teilzeit. Sie arbeitet in einer Privatpraxis im Rheinland – und hat sich unter anderem auf Post-Covid spezialisiert.

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