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Löhne und WirtschaftswachstumMythos namens Lohn-Preis-Spirale

Gastkommentar von Marcel Fratzscher

Lassen steigende Löhne Unternehmen pleitegehen? Im Gegenteil! Das deutsche Wirtschaftsmodell beruht auf gut bezahlter Arbeit.

Tag der Arbeit 2022 in Berlin: für einen fairen Lohn, Solidarität und gerechte Arbeitsbedingungen Foto: Stefan Boness/Ipon

D as Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale ist in aller Munde. Überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten, so die Befürchtung, könnten Unternehmen auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was zu einer schädlich hohen Inflation und im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation (eine hohe Inflation bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe. Was ist dran an diesem Mythos? Ein nüchterner Blick auf die derzeitige Realität zeigt eher das gegenteilige Bild: Die Lohn­ent­wicklung ist schwach, die Inflation wird von den Unternehmen und durch importierte Energie getrieben. Somit würde auch die konzertierte Aktion der Bundesregierung scheitern, wenn es ihr primäres Ziel wäre, Beschäftigte zu Lohnverzicht zu drängen.

Eine Lohn-Preis-Spirale kann unter zwei Voraussetzungen entstehen: Zum einen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften so große Macht in den Verhandlungen mit den Ar­beit­ge­be­r*in­nen haben, dass sie Löhne und Arbeitsbedingungen praktisch diktieren können. Die zweite Bedingung: Beschäftigte und Gewerkschaften orientieren sich bei ihren heutigen Lohnforderungen an der Inflation von gestern und nicht an einer für die Zukunft realistischen Inflationsrate. Wenn beide Bedingungen zutreffen, dann können Lohnerhöhungen die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit der Unternehmen übersteigen, sodass diese die höheren Lohnkosten in Form gestiegener Preise an die Kon­su­men­t*in­nen weitergeben.

Das wiederum könnte die Lohnerhöhungen weiter befeuern und zu einer exzessiven Inflation führen. Ein solches Koordinationsproblem zwischen Ar­beit­ge­be­r*in­nen und Ar­beit­neh­me­r*in­nen kann dann meist nur die Zentralbank brechen, die mit einer massiven Zinserhöhung die Wirtschaft in eine Rezession zwingt, mit enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wie Unternehmenspleiten und hoher Arbeitslosigkeit.

Vielmehr eine Preis-Preis-Spirale

Nie jedoch waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in Deutschland in den letzten 70 Jahren weniger gegeben als heute. Die realen Löhne und damit die Kaufkraft der Einkommen dürften mit durchschnittlichen Lohnerhöhungen von 4 bis 5 Prozent und einer Inflation von über 7 Prozent in diesem Jahr deutlich sinken. Vieles spricht dafür, dass die Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist. Denn einige große Unternehmen in Deutschland fahren hohe Gewinne ein und schütten Dividenden aus.

dpa
Marcel Fratzscher

45, leitet seit 2013 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität.

Das Wachstum der Produktivität ist weiterhin robust und der Anstieg der Lohnstückkosten eher moderat. Es scheint also, dass zumindest in manchen Branchen die Unternehmen das größte Stück des Kuchens für sich beanspruchen und ihre Beschäftigen zum Verzicht drängen.

Somit ist die Lohn-Preis-Spirale nicht mehr als ein Mythos. Mit einem moralischen Unterton, der implizit Beschäftigten und Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe Inflation gibt. Was heute existiert, ist vielmehr eine Preis-Preis-Spirale, bei der sich die über die Energiekosten importierte Inflation und von Unternehmen bestimmte Konsumentenpreise gegenseitig verstärken. Wenn überhaupt, dann könnte in Zukunft eine Preis-Lohn-Spirale entstehen, wenn denn die Löhne so stark steigen sollten, dass sie die Inflation der Konsumentenpreise übertreffen.

Nun befürchten Kritiker*innen, die Gewerkschaften könnten den Bogen in den kommenden Jahren überspannen. Aber dies ist eher unwahrscheinlich, auch weil die Macht der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen hat. Weniger als die Hälfte aller Beschäftigten sind heute über Tarifverträge abgedeckt. Zudem haben Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise der 2000er Jahre und nach der globalen Finanzkrise 2008 durchaus bewiesen, dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung von Krisen zu leisten bereit sind.

Lohnerhöhungen können aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht zu stark, aber auch zu schwach sein. Denn je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto höher ist auch der Schaden für die Wirtschaft. Umgekehrt können zu starke Lohnerhöhungen zu Beschäftigungsverlusten und Arbeitslosigkeit führen. Dies zeigt, dass langfristig die Interessen der Ar­beit­ge­be­r*in­nen und Ar­beit­neh­me­r*in­nen nicht gegeneinander stehen können.

Der zentrale, häufig jedoch vergessene Punkt ist ein anderer: Hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg bedingen einander. Die erfolgreichsten deutschen Unternehmen sind solche, die mit die höchsten Löhne und besten Arbeitsbedingungen in Deutschland und weltweit anbieten. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der globalen Wirtschaft ist in den allermeisten Fällen nicht durch geringe Löhne und niedrige Preise erklärt, sondern durch hohe Produktivität und exzellente Qualität von Produkten „made in Germany“.

Dies ist nur deshalb möglich, weil die Beschäftigten der deutschen Unternehmen hoch produktiv und motiviert sind. Nicht nur führt höhere Produktivität zu guten Löhnen, die Kausalität funktioniert eben auch in die entgegengesetzte Richtung. Hohe Löhne sind alles andere als hinderlich für das Wirtschaftsmodell Deutschlands – sie sind eine seiner Grundlagen.

Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft. Die Kosten von Pandemie, Krieg und Inflation sollten vor allem von den stärksten Schultern getragen werden. Die Bundesregierung sollte sich aus den Lohnverhandlungen heraushalten und nur anmahnen, dass Ar­beit­ge­be­r*in­nen und Ar­beit­neh­me­r*in­nen differenziert nach Branche und nach finanziellem Spielraum auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Und sie sollte ein Paket von Zukunftsinvestitionen als ihren Beitrag zur konzertierten Aktion beschließen, um das Wirtschaftspotenzial in den kommenden Jahren zu erhöhen, den Druck auf die Inflation zu reduzieren und mehr Wachstum und Einkommen zu ­generieren.

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11 Kommentare

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  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Lohn-Preis-Spirale, Preis-Preis-Spirale? Preis-Lohn-Spirale!



    Wind-Wind-Surreale:



    taz.de/Krise-bei-W...ndustrie/!5864110/

  • Es gibt in diesem Land grundsätzlich zu niedrige Abschlüsse.

    Höhere Abschlüsse wären manchmal aus mancherlei Sicht gut, um die Kaufkraft der Beschäftigten anzukurbeln, um neue Arbeitsplätze zu schaffen und um in Europa ein weniger extremes Deutschland zu haben, denn in anderen Ländern gibt es teilweise stärker Lohnzuwäche als hier. Wir haben den DGB, also eine einzige Gewerkschaftsbewegung und die nivelliert - naturgemäß.

    Sichtbar bei den Piloten oder Lockführern, die härter rangehen, dies auch können. Der Punkt ist aber, dass in fast allen Herstellungsbranchen die Produktivität schneller steigt, als die Löhne.

    Die Löhne werden ohne Not immer als sehr hoch beschrieben und betrachtet, Olaf Scholz ist erstmalig offenbar auch zu so einer Perspektive bereit.

    Dabei fordert die IG Metall mit 8 Prozent m.M. zu wenig. 10 oder 11 Prozent wären eigentlich eine bessere Forderung gewesen, weil die 8 Prozent sowieso nicht durchgehen. Wenn aber nur 4 oder 5 Prozent genommen werden und dann noch Bonbons dazu kommen, die nichts von Dauer bewirken, wäre es m.M. sogar zu niedrig.

    Unternehmen, die nicht zurecht kommen, überleben vielleicht noch ein Jahr, wenn die Gewerkschaften niedrig abschließen, aber dann oder nach eine weiteren Phase haben sie keine Chance und gehen unter. Manchmal schließen Gewerkschaften für solche Unternehmen Haustrarifverträge ab und am Ende haben die Leute weniger Arbeitslosengeld, niedrigere Ersparnisse und ne Menge Frust.

    Bei Tarifverhandlungen kann es schlecht um Wackelkandidatinnen gehen, das müssen schon Unternehmen sein, die wirklich funktionieren. Und mit unterdurchschnittlichen Abschlüssen wächst nur der Gewinn - zu Lasten der Arbeitnehmer. Volkswirtschaft ist das schlecht. Arbeitsplätze entstehen in diesem Land eigentlich nur ab +3,5 BIP, eher +4 BIP. Darunter entsteht selten was Neues. Dynamik ist aber langfristig auch erforderlich, es müssen neue Produkte entwickelt und verkauft werden. Mit Stagnation passiert gar nichts.

  • "Das deutsche Wirtschaftsmodell beruht auf gut bezahlter Arbeit."



    Na dann hat man mit der Agenda 2010 wohl bewußt alles falsch gemacht?



    Im Übrigen ist auch wieder im Artikel das Wachstums-Mantra zu finden, jedoch dürfte wohl langsam dem letzten einigermaßen logisch denkenden Menschen klar geworden sein, daß das der sichere Weg in den Abgrund ist. Im Westen also immer noch nichts Neues.

    • @Wurstfinger Joe:

      Das Mantra vom ewigen Wachstum und dem zugrunde liegenden Konsumdrang wurde den Leuten über Jahrzehnte von Medien, Politik, und Wirtschaft in die Köpfe eingetrichtert. Sich von diesem Dogma des Raubkapitalismus zu lösen ist für viele nicht einfach, da es mit "Wohlstandsverlust" und Neuorientierung verbunden wäre. Dazu sind viele nicht bereit oder Willens. Deswegen sind wir ja im Moment auch in einer Ära der Restauration. Zurück zu Nationalstaaten, imperialer Gedöns aus dem frühen 20. Jahrhundert etc. pp. 🤷‍♂️



      Zum Glück oder Pech, wie man's sieht, wird die Klimakatastrophe die Menschheit zum Umdenken zwingen, früher oder später.

  • Der drittletzte Absatz ist mir zu schwammig und an der Grenze zum Fake: Erst der Erfolg einer Idee und somit eines Produktes erlauben es, dass diese Firma höhere Löhne bezahlen kann! Keinesfalls in der hier geschriebenen Reihenfolge.



    Dass dann übrigens historisch erfolgreiche Branchen im Verhältnis zu anderen dauerhaft ungerechtfertigt höhere Löhne bezahlen sollte man auch mal thematisieren: Bergbau und Energiesektor. Eigentlich ist im Energiesektor mal Lohnverzicht angesagt.

    • @Tom Farmer:

      Sie reden von Startups, das wäre mir neu das diese schon im Tarifvertrag geschehen beteiligt sind.

      aber auch da, durch eigene Erfahrung, schafft man es nicht gute Arbeitskräfte zu erhalten, indem man mit Lohndumping agiert (ok außer im Osten unserer Politik, wo das ja laut den Politikern ein "Verkaufsargument" für die Ansiedlung von Wirtschaft ist...

      Also da sollten wir schon mal ehrlich sein. Das sind dann schon zwei paar Schuhe.

      Und hat demzufolge aber noch nichts mit "Fake" zu tun.

  • Auch eher arbeitnehmer:innenfreundliche Wirtschaftswissenschaftler:innen bleiben in ihren hübschen Gleichungen gefangen. Neben Theologie ist das wohl die unwissenschaftlichste Wissenschaft.



    Und die soziale Marktwirtschaft wird als Monstranz der Kapitalismusapologet:innen vor sich hergetragen.

  • Herr Fratzscher scheint die Produktivität von Unternehmen an den Auftragseingängen zu messen, nicht an den erfüllten Aufträgen. Wegen unterbrochener Lieferketten können in den Kernbranchen die Aufträge jedoch nicht in der gewohnten Zeit abgeabeitet werden. Die angebommene Stegerung der Produktivität steht daher nur auf dem Papier. Die angenommenen Gewinnsteigerungen wird es unabhängig von der Lohnentwicklung nicht gegben.

    Wenn Frau Fahimi jetzt sagt, dass Lohnsteigerungen keinen Einfluss auf die Inflation haben dann stimmt da nur für die bisherigen Tarifabschlüsse. Relevant wird erst der Zeitraum, ab dem sich der Energiepreis stabilisiert.

  • Eine starke Inflation wurde von bestimmten Experten lange Zeit auch als reiner "Mythos" beschrieben und ist nun augenscheinlich eingetreten - nicht nur wegen des Krieges, sondern auch aufgrund einer zu massiven Verschuldung in der EU, die von manchen ebenfalls immer als unproblematisch, ja sogar als alternativlos dargestellt wurde. Es ist nicht verkehrt, wenn sich unsere Gesellschaft bewusst ist, dass überzogene Lohnforderungen ein weiteres Problem darstellen KÖNNTEN und dies im Blick hat.

    • @Tom Berger:

      Das ist jetzt aber sehr allgemein gehalten. Und trotzdem nicht wirklich charmant. Das Inflationsproblem ist auch kein europ. Phänomen, sondern ein weltweites Problem.

      Was sind für Sie denn "überzogene Lohnforderungen"? Gilt das für alle Arbeitskräfte eines Unternehmens?

  • "Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft."

    Die soziale Marktwirtschaft gibt es seitdem das große Glückseligkeits-Schaufenster Westberlin nicht mehr Richtung Osten strahlen musste, nicht mehr.