Labour-Parteitag in Großbritannien: Klares Jein zum Brexit
In einer chaotischen Abstimmung setzt sich Jeremy Corbyn durch. Erst nach den nächsten Wahlen soll Labour Stellung für oder gegen die EU beziehen.
Die tatsächliche „Stop Brexit“-Verkörperung, Dauerdemonstrant Steve Bray, der schon vor einer Woche bei den Liberaldemokraten in Bournemouth vor deren Konferenzzentrum stand, ließ derweil den ganzen Tag lang vor einem Infostand mit EU-Fahne Selfies mit sich machen, neben Leuten mit roten T-Shirts und der aktuellen linken Pro-EU-Parole „Reform, Remain, Revolt“.
Dieser Montagnachmittag war entscheidend beim Jahresparteitag der größten britischen Oppositionspartei. Nicht etwa wegen der programmatischen Ankündigungen einer Viertagewoche, der Abschaffung der Armut und Reparationen für klimawandelgeschädigte Länder. Das Entscheidende war die Auswahl zwischen Composite 13 und Composite 14. Das waren keine chemischen Mixturen, sondern zwei gegensätzliche Anträge zur künftigen Brexitpolitik.
Beide Anträge beinhalteten die zentrale Forderung nach einem zweiten Referendum, bei dem die Briten zwischen einem „glaubwürdigen Deal“ zum Brexit und dem EU-Verbleib (Remain) wählen sollen. Doch während Composite 13, mitgetragen von der Irland-Gruppe der Partei, eine eindeutige Stellungnahme zugunsten des EU-Verbleibs forderte, lässt Composite 14, nach dem Vorschlag von Parteiführer Jeremy Corbyn, offen, wie sich Labour bei einer Wahl zwischen einem von einer Corbyn-Regierung auszuhandelnden Brexit-Deal samt Zollunion und dem kompletten Verbleib in der EU positionieren soll.
Das soll die Partei erst nach einem Wahlsieg entscheiden. Mit anderen Worten: Labour will in den nächsten Wahlkampf ziehen, ohne sich festzulegen, ob es für oder gegen den Brexit ist – das kommt erst später.
Der Streit spaltet die Partei
Die Kampagne „People’s Vote“, die für ein zweites EU-Referendum wirbt, hält das für fatal: Das werde Labour den Wahlsieg kosten, weil proeuropäische Wähler zu Grünen und Liberaldemokraten abwandern würden. Um Großbritannien zu verändern, darüber sind sich einig, müssten aber die nächsten Wahlen ein Erfolg für Labour werden. Die Frage des Brexits sei deshalb zentral.
Dieser Streit spaltet die Partei. Labours Nummer zwei Tom Watson sagte am Sonntag, dass seiner Meinung nach Labour eine „Remain-Partei“ sei – und positionierte sich damit gegen seinen Chef Corbyn. Auch Gordon McKay von Unison, Großbritanniens größter Gewerkschaft, die unter anderem viele Angestellte im Gesundheitswesen vertritt, sprach sich für eine starke Remain-Position aus. Linke Gewerkschaften hingegen stellten sich hinter Corbyn.
Die Delegierte Suzan King aus Glasgow behauptete, dass nur eine klare Remain-Haltung den Verlust von Rechten, Arbeit, Frieden und Chancen für Jüngere vermeide. Urte Macikere, eine jüngere Genossin aus Südlondon, stellte sich hinter Composite 13 mit dem Argument: „Brexit ist ein nationalistisches Unterfangen, das rechtsextremen Rassismus ansteigen ließ. Wir brauchen Corbyn, um die Freizügigkeit und Integration der europäischen Arbeiterklasse zu verteidigen und die imperialistische EU mit sozialistischen Reformen zu führen – nicht Sozialismus in einem Land, sonden internationalen Sozialismus.“
Auch Schattenaußenministerin Emily Thornberry und Schattenbrexitminister Keir Starmer stellten sich hinter die Remain-Festlegung.
Am Ende nützte es nichts. Per Handzeichen wurde abgestimmt. Sitzungsleiterin Wendy Nichols stellte fest, Composite 13 sei durchgefallen. Oder vielleicht auch nicht. Denn erst tuschelte sie mit der neben ihr sitzenden Labour-Generalsekretärin der Partei Jenny Formby, die hörbar sagte: “Es ist verloren … es ist klar verloren. Sehr klar verloren.“ Worauf Nichols verkündete: „Entschuldigt, ich dachte, es war in eine Richtung, aber Jenny dachte was anderes. Der Antrag hat verloren.“
Nach weiteren Beschwerden korrigierte sie sich: „Der Antrag ist angenommen.“ Dann wurde sie von Formby zurechtgewiesen und kehrte zur Feststellung zurück, Composite 13 habe verloren. Anhänger von Composite 14 begannen „Oooh Jeremy Corbyn“ zu singen. Ihr Antrag wurde per Handzeichen angenommen.
Beim Verlassen der Kongresshalle am Montagabend lagen die Reaktionen der Delegierten zwischen Euphorie und Enttäuschung. Hoffmann Wattua aus Sheffield-Hallam, wo eventuell eine Nachwahl zum Unterhaus ansteht, gibt sich zufrieden. „Man muss die Parteiführung stärken und mit dieser Stellung kann ich Menschen in Sheffield, die für den Brexit stimmten, zur Wahl Labours überrreden.“ Deeba Sayed aus London, Vertreterin sozialistischer Anwälte, hätte eine klare Remain-Position gewollt und behauptet, sie könne vor der Presse nicht sagen, was sie denke.
Der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan hält die Abstimmung sogar für illegitim, da die Entscheidung nicht der Mehrheit aller Labourmitglieder entspreche, die den Brexit stoppen wollten. In Meinungsumfragen liegt der Prozentsatz der Labour-Mitglieder, die in einem Referendum für den EU-Verbleib votieren würden, bei 88 Prozent.
Jahrzehntelang vergessene Arbeitergegenden
Wer nach Hintergründen für die Nichtpositionierung Labours zum Brexit sucht, bekam sie auf Nebenveranstaltungen erklärt. Zum Beispiel von Chris Peace, Labourkandidatin für Nordost-Derbyshire, wo vor drei Jahren 62,8 Prozent für den Brexit stimmten. Sie erzählte von Arbeitergegenden, die seit Jahrzehnten vergessen wurden.
John Trickett, Labour-Abgeordneter aus Hemsworth in Yorkshire, betonte: „Labour half ihnen einst mit Sozialwohnungen, dem nationalen Gesundheitssystem, Schulen für alle, aber als Labour diese Werte vernachlässigte, vernachlässigten sie auch diese Gemeinschaften. Im Lichte von Zerstörung durch Drogen, Suizid und industriellen Zerfall war die Floskel Take Back Control der Leave-Kampagne unwiderstehlich.“
In einer anderen Veranstaltung sprach Lisa Nandy aus Wigan ähnlich. „Als Cameron ein Referendum ausrief, traf ich mich mit über 100 Gewerkschaftsvertreter*Innen, um darüber zu sprechen. Ich war fast platt von ihrer starken Brexit-Position. Hier ist viele Jahre lang nicht miteinander gesprochen worden.“
Ihr Vorschlag: offene Gespräche und Kompromisse und keine Polarisierung. Das spricht für Corbyns Mittelweg und Composite 14.
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