Kriminologe über verfehlte Polizeigewalt: „Das kommt leider immer wieder vor“
Polizeieinsätze bei Menschen mit psychischen Problemen enden öfter mit Todesfällen. Tobias Singelnstein über strukturelle Probleme bei der Polizei.
taz: Herr Singelnstein, Dagmar R. starb vor wenigen Wochen im Krankenhaus, nachdem sie auf der Polizeistation Hamburg-Bergedorf einen Herzstillstand erlitten hatte. Sie war dort wegen eines psychischen Ausnahmezustands. Tode nach Polizeieinsätzen bei psychisch Kranken sind kein Einzelfall, oder?
Tobias Singelnstein: Nein, das kommt leider immer wieder mal vor. Insbesondere bei tödlichen Schusswaffeneinsätzen sind bei solchen Einsätzen Menschen in psychischen Ausnahmezuständen in besonderer Weise betroffen.
Juni 2020, Bremen-Gröpelingen: Ein 54-Jähriger wird von der Polizei erschossen. Juni 2021: In Hamburg-Winterhude feuert die Polizei sieben Schüsse auf einen Mann ab. Beide Opfer befanden sich in einer psychischen Notlage. Es ist wohl besser, in solchen Fällen nicht die Polizei zu rufen?
Das ist schwer zu sagen. Manchmal rufen Familienangehörige die Polizei, weil sie in Sorge sind, sich nicht anders zu helfen wissen. Mitunter wird die Polizei von BürgerInnen gerufen, die im öffentlichen Raum Menschen in psychischen Ausnahmesituationen wahrnehmen, ihr Verhalten nicht einordnen können. Die Polizei geht dann mit ihrer Perspektive und ihren Mitteln vor: Sie betrachtet das Geschehen durch die Brille von Recht und Ordnung, fokussiert auf Bedrohungslagen. Wie sensibel die BeamtInnen solche Situation handhaben können, hängt dann sehr davon ab, welche sozialen Fähigkeiten sie besitzen.
Die Polizei zielt also eher auf Kontrolle, weniger auf Hilfe?
Die meisten BeamtInnen würden sagen: Wenn jemand in einer psychischen Notlage ist, gilt es, ihm zu helfen, ihn zu schützen. Andererseits ist das Hauptaufgabengebiet der Polizei die Gefahrenabwehr, notfalls mit Gewalt. Die BeamtInnen sind also darauf trainiert, Bedrohungslagen zu erkennen und abzuwehren. Nun agieren Menschen in psychischen Ausnahmesituationen oft atypisch. Das macht es mitunter schwer, zu erkennen, ob statt Zwang eher Kommunikation und Deeskalation angezeigt sind.
46, lehrt Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Einer seiner Schwerpunkte ist die Forschung zu rechtswidriger polizeilicher Gewalt.
In welcher Tiefe wird das Thema in der Ausbildung behandelt?
Einsätze mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen sind nur ein kleiner Teilbereich, und der wird bislang nicht allzu ausführlich gelehrt. PolizistInnen werden immer nur in Ansätzen in der Lage sein, solche Situationen richtig einzuschätzen. Wir können aus ihnen keine psychologischen Fachkräfte machen.
Die Polizei darf Gewalt ausüben. Aber ab wann ist die rechtswidrig?
Sie darf Gewalt, als Ausnahmebefugnis, einsetzen, wenn polizeiliche Maßnahmen auf andere Weise nicht durchgesetzt werden können, wenn es also kein milderes Mittel gibt.
Aber das lässt sich danach ja leicht sagen: Es ging nicht anders oder wir wurden bedroht.
Theoretisch und juristisch ist das sehr klar. Aber die Praxis ist natürlich deutlich schwieriger, das sind ja komplexe soziale Interaktionen. Da lässt sich oft nicht genau sagen, ab wann und bis wohin der Gewalteinsatz zulässig ist.
Sie sagen, Grenzüberschreitungen und Missbräuche seien „Bestandteil des polizeilichen Alltags“. Wie kann das sein?
Die Polizei ist eine sehr große Organisation. Sie setzt jeden Tag Gewalt ein, hundertfach, vermutlich sogar tausendfach, um Maßnahmen durchzusetzen. Und das funktioniert in der Praxis nicht so klar und sauber, wie das Gesetz sich das vorstellt. Wenn wir wollen, dass Menschen zu Gewalt trainiert werden, notfalls Gewalt einsetzen, zieht das möglicherweise auch Leute an, die einen problematischen Umgang mit Gewalt haben. Oder die Praxis lässt sie abstumpfen. Und dann kann es zu Grenzüberschreitungen und Missbrauch kommen. Das ist die Ausnahme, aber es gehört zu einer Polizei mit Gewaltbefugnis dazu.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Mit einer stärkeren internen Fehlerkultur. Ein häufiges Problem bei der Aufklärung ist die mangelnde Identifizierbarkeit der BeamtInnen. Viele Betroffene sagen, dass sie keine Anzeige erstatten, weil sie die Einsatzkräfte nicht identifizieren könnten. Außerdem wird externe, unabhängige Kontrolle als Instrument diskutiert. Zwar gibt es teilweise bereits unabhängige Polizeibeauftragte, aber deren Möglichkeiten sind begrenzt.
Dass die Ermittlungen, wenn es zu Anzeigen kommt, von der Polizei selbst durchgeführt werden, ist ein Problem?
Der Interessenkonflikt liegt auf der Hand. Nicht unbedingt, weil die Ermittelnden bewusst privilegieren, Dinge unter dem Teppich halten, sondern weil sie die Beschuldigten anders sehen als andere Beschuldigte, weil sie ihnen kollegial verbunden sind.
Hinzu kommen Beweisprobleme?
Ja, wir sehen häufig Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen. Und die betroffenen BeamtInnen haben ein Interesse daran, sich vor Strafverfolgung zu schützen, wie andere Beschuldigte auch. Zudem gibt es in der Polizei eine starke Binnenkultur, was auch als „Cop Culture“ bezeichnet wird. Es herrscht ein starker sozialer Zusammenhalt. Das ist einerseits positiv und funktional. Aber er hat auch eine negative Seite. Die macht die Aufklärung oft schwer, wenn es zu Fehlverhalten kommt, weil man dann KollegInnen belasten müsste, denen man sehr verbunden ist. Insgesamt betrachtet muss man sagen, dass die Aufarbeitung dieser Fälle im Strafrecht nicht besonders gut funktioniert. Zudem blickt das Strafrecht auf individuelles Fehlverhalten und kann daher kaum strukturelle Probleme in den Blick nehmen.
Und die liegen vor?
Man kann das Ganze natürlich immer als individuelles Fehlverhalten werten, aber das wäre sehr verkürzt. Bei einer Berufsgruppe, die wir mit derlei Befugnissen ausstatten, handeln wir uns das Problem rechtswidriger Gewaltausübung automatisch ein, es ist also in der Struktur der Polizei angelegt.
Warum hört man dann so wenig von ihr?
Die Anzeigebereitschaft in diesem Deliktbereich ist sehr gering. Der absolute Großteil der Betroffenen entscheidet sich, keine Anzeige zu erstatten. Viele haben das Gefühl, in einem solchen Verfahren keine Chance zu haben, haben Angst vor negativen Konsequenzen, gehen von einem strukturellen Vorteil der Polizei aus oder haben Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird.
Ist das berechtigt?
Die Statistik zeigt, dass es nur in zwei Prozent der Verdachtsfälle zu einer Anklageerhebung kommt. Die Erfolgsaussichten sind also sehr gering.
Wie reagiert die Polizei auf Ihre Kritik?
Sehr unterschiedlich. Wir führen zum einen viele gute Diskussionen. Andererseits tut sich die Polizei leider oft auch schwer mit Kritik von außen. Die Bereitschaft, Fehlverhalten und Probleme gegenüber der Gesellschaft transparent zu behandeln, sind dann nicht sehr groß. Und die Führungsebene fürchtet schnell ein Imageproblem.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen