Ein Polizist steht in einem Zimmer aus gittern, ein Stuhl ist umgeworfen

Ist man besonders fahrlässig mit den Opfern umgegangen? Illustration: Oliver Sperl

24 Todesfälle in Gewahrsam:Wie fahrlässig handelte die Polizei?

Die taz hat 24 Fälle untersucht, bei denen Menschen, die von Rassismus betroffen waren, in Gewahrsam ums Leben kamen. Eine Dokumentation.

17.7.2020, 19:07  Uhr

Die Ermordung von George Floyd in Minnea­polis durch vier Polizisten hat in Erinnerung gerufen, dass in mehrheitlich weißen Gesellschaften Rassismus in der Polizei ein Problem ist. Und Deutschland ist da keine Ausnahme.

Rassismus ist alltäglich und durchzieht die gesamte Gesellschaft – natürlich betrifft er auch die Polizei. Weil diese durch das Gewaltmonopol eine herausgehobene Machtposition hat, sollte besonders genau hingesehen werden, wenn Menschen in ihrer Obhut sterben. Diese Fälle müssen penibel aufgeklärt werden. Das dient letztlich auch der Polizei – und dem Vertrauen der Bevölkerung in die Institution.

Racial Profiling ist Alltag. Selbst nichtweiße Polizeibeamte wie der Pressesprecher der Berliner Polizei, Thilo Cablitz, erfahren am eigenen Leib, dass sie aufgrund ihrer Hautfarbe als verdächtig eingestuft werden, wenn sie in Zivil unterwegs sind. Cablitz hat vor zwei Wochen in einem taz-Interview im Berlinteil davon erzählt. Bundesinnenminister Horst Seehofer möchte dennoch keine Studie zu Racial Profiling in Auftrag geben, obwohl das Gremium des Europarats gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri) genau das empfohlen hatte. Seehofer sieht aber keinen Bedarf. Dabei verstößt Racial Profiling gegen den Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz.

Laut einer 2017 veröffentlichten Erhebung der europäischen Grundrechteagentur wurde ein Drittel der Schwarzen Menschen in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren von der Polizei kontrolliert. 42 Prozent von ihnen glauben, dass sie nur aufgrund ihrer Herkunft angehalten wurden. Das ist der fünfthöchste Wert in der Europäi­schen Union.

In der Erhebung der Europäischen Grundrechteagentur wurde deutlich, dass besonders häufig Menschen mit einem nordafrikanischen oder subsaharischen Migrationshintergrund angaben, von der Polizei wegen ihrer Herkunft kontrolliert worden zu sein. Minderheiten mit einem russischen Migrationshintergrund glaubten in der Regel nicht, dass sie wegen ihrer Herkunft kontrolliert wurden. Das zeigt, dass Hautfarbe eine Rolle spielt.

Seit vielen Jahren arbeiten zivilgesellschaftliche Initiativen daran, dieses Problem in Deutschland öffentlich zu thematisieren. Zu diesen Gruppen zählt etwa die Antirassistische Initiative (ARI) aus Berlin, die in der vergangenen Woche die nunmehr 27. Aktualisierung ihrer Chronik „Bundesrepu­blikanische Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ vorlegte.

Geflüchtete, so schreibt die ARI, seien polizeilichen Aktionen in besonderem Maße ausgesetzt, sei es durch sprachliche Barrieren oder an „Orten der Isolation – Haftzellen, Flüchtlingslager oder Abschiebeflugzeuge –, in denen Gewalt ausgeübt wird“. Tötungen oder schwere Verletzungen würden mit „Notwehr“ gerechtfertigt, Ermittlungen gegen PolizistInnen schnell eingestellt. Das liegt auch daran, dass es keine unabhängige Stelle für Ermittlungen gibt – gibt es Vorwürfe gegen die Polizei, ermittelt sie gegen sich selbst. Das ist ein strukturelles Problem.

Wir möchten dieser Debatte mit journalistischen Mitteln begegnen und sie mit Fakten unterfüttern. Deshalb haben wir etwa 40 Fälle aus den vergangenen fünf Jahren genauer untersucht, bei denen Menschen, die von Rassismus betroffen waren, in Polizeigewahrsam umgekommen sind.

24 Fälle dokumentieren wir hier ausführlicher. Sie zeigen, wie schnell ein Mensch sterben kann. Durch die Fälle zieht sich ein Muster aus Überforderung, Schlampigkeit und Gleichgültigkeit der Behörden. Und leider fehlt es auch viel zu oft an Aufklärungswillen.

In die Sammlung aufgenommen haben wir Fälle, bei denen Menschen in Haft, Sicherheitsgewahrsam oder bei einem Polizeieinsatz umgekommen sind. Nicht gelistet sind Menschen, die selbst eine Feuerwaffe hatten, Geiseln genommen oder außenstehende Dritte auf andere Weise willentlich in Lebensgefahr gebracht haben. Wenn die Menschen mit einem Messer bewaffnet waren, tauchen sie jedoch in der Dokumentation auf. Oft ist die Existenz des Messers zumindest zweifelhaft, und außerdem kann man davon ausgehen, dass die Polizei in der Lage ist, Menschen mit einem Messer zu entwaffnen, ohne sie zu töten.

In die Dokumentation aufgenommen wurden alle Todesfälle von Menschen, die von Sicherheitsbehörden als fremd wahrgenommen werden – sei es aufgrund ihrer Hautfarbe oder aufgrund dessen, dass sie kein Deutsch können. Darunter fallen Menschen mit Migrationshintergrund, ausländische Staatsbürger und People of Color.

Die Gruppe „Death in Custody“ hat uns ihre Vorrecherche zum Thema zur Verfügung gestellt, wofür wir uns herzlich bedanken. Die 2019 gebildete Gruppe hat sich zum Ziel gesetzt, alle Fälle in Deutschland zu dokumentieren, in denen Menschen, die von Rassismus betroffen sind, seit 1990 in Gewahrsam gestorben sind. Bislang hat sie 161 Fälle in ihre Chronologie aufgenommen.

RedakteurInnen, KorrespondentInnen und AutorInnen der taz haben die Fälle untersucht und weitere Informationen gesammelt. Wir hoffen, damit dazu beizutragen, dass die Aufmerksamkeit, die der Tod George Floyds auf die Probleme auch in unserem Land gerichtet hat, wach bleibt. Christian Jakob und Steffi Unsleber

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Yaya Jabbi, 19. 2. 2016, Hamburg

Am 15. Januar wird der 21-jährige Yaya Jabbi aus Guinea-Bissau in einer Seitenstraße der Hamburger Reeperbahn festgenommen. Die Polizei findet 1,65 Gramm Marihuana bei ihm. Eine Kleinstmenge, die weit unter dem Eigenbedarf liegt – jedenfalls bei weißen Menschen. Die Polizei geht davon aus, dass Jabbi dealt, und steckt ihn in Untersuchungshaft. Wegen seiner Verbindungen zum Ausland bestehe Fluchtgefahr, urteilen die Haftrichter*innen. Einen Monat nach seiner Inhaftierung ist Jabbi tot. Am 19. Februar finden ihn Mit­ar­bei­te­r*in­nen der Justizvollzugsanstalt aufgehängt an der Gardinenstange seiner Zelle.

Für die Behörden ist der Fall abgeschlossen: Yaya Jabbi hat sich in seiner Zelle erhängt, ein Gutachten bestätigt den Suizid. Die Obduktion wird damals von Klaus Püschel durchgeführt, dem Leiter des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bei der Untersuchung stellt der Gerichtsmediziner keine Anzeichen von Fremdeinwirkung fest.

Püschel ist auch aus anderen Kontexten bekannt: Von 2001 bis 2006 verantwortete er den Einsatz von Brechmitteln bei mutmaßlichen Dealern. Während eines solchen Einsatzes stirbt der Nigerianer Achidi John. 2015 lässt Püschel die Genitalien von Geflüchteten vermessen, um ihr Alter zu bestimmen.

Nach Yaya Jabbis Tod will die Familie ihn so bald wie möglich beerdigen, so kommt es zu keinem zweiten Gutachten. Aber seine Angehörigen und Freun­d*in­nen glauben nicht an einen Suizid. Sie beschreiben Jabbi als fröhlichen Menschen. Auch das Suizidscreening in der Untersuchungshaft habe keine Anhaltspunkte für eine Suizidgefahr ergeben, schreibt die Ini­tiative Remember Yaya Jabbi unter Berufung auf die Justizbehörde auf ihrer Website. Mit der Initiative kämpft der ­Bruder des Verstorbenen, Abou Jabbi, gegen dessen Vergessen. Katharina ­Schipkowski

Holen Sie sich Unterstützung, wenn Sie selbst oder Menschen in Ihrem Bekanntenkreis Suizidgedanken entwickeln. Ihnen stehen zahlreiche Hilfsangebote zu Verfügung.

Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfreie – und auf Wunsch anonyme – Beratung an: 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder 116 123. Unter www.telefonseelsorge.de können Sie außerdem mit Seel­sor­ge­r*in­nen chatten.

Amos Thomas, 13. 7. 2016, Erharting bei Mühldorf am Inn

Der 62-jährige Amos Thomas soll aus einem Altenpflegeheim in Erharting, Oberbayern, in die Psychiatrie gebracht werden. Er leidet an einer chronischen Schizophrenie und hat die Wahnvorstellung, er sei Gott.

Thomas stammt ursprünglich aus Liberia und ist 1993 nach Deutschland gekommen, hier lebt er mit einer Duldung. An dem besagten Morgen soll er sich aggressiv verhalten haben, deshalb werden für den Krankentransport zwei Polizeibeamte hinzugezogen. Als es zu dem tödlichen Vorfall kommt, befinden sich in dem kleinen Raum neben Thomas sein Mitbewohner, DRK-Mitarbeiter, Heimpersonal und die Polizisten. Thomas geht mit einem Messer auf einen Polizisten los und verletzt ihn am Bein. Daraufhin wird er erschossen.

Der Fall kommt zur Staatsanwaltschaft Traunstein. Ein Jahr später teilt sie in einer Pressemitteilung mit, dass „keine Ermittlungen gegen eine bestimmte Person eingeleitet“ worden seien. Ihrer Auffassung nach sei der Schusswaffengebrauch rechtmäßig gewesen, da einer der Beamten durch den Messerstich so schwer verletzt worden sei, „dass konkrete Lebensgefahr bestand“. Nach dem Messerangriff hätten beide Beamte ihre Dienstwaffe gezogen „und gaben insgesamt vier Schüsse ab“.

Thomas war sofort tot.

Michael Gaertner war der rechtliche Betreuer von Amos Thomas. Er sagt: „Amos konnte aggressiv werden, war aber letztlich harmlos. Wenn er austickte, konnte ich ihn runterholen.“ Patrick Guyton

Hussam Fadl, 27. 9. 2016, Berlin
Ein Plakat mit Hussam Fadl Portrait, dahinter eine Kundgebung gegen tödliche Polizeigewalt

Warum haben die Polizisten geschossen? Sie geben an, Hussam Fadl habe ein Messer gehabt. Zeu­g:in­nen widersprechen Foto: Christian Ditsch/imago

Hussam Fadl lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Geflüchtetenunterkunft in Berlin-Moabit, als es am Abend des 27. September 2016 zu einem Polizeieinsatz kommt. Die Po­li­zis­t:in­nen sind angerückt, um einen Mann festzunehmen, der Kinder in der Unterkunft sexuell missbraucht haben soll – darunter auch die sechsjährige Tochter von Hussam Fadl.

Der Verdächtige sitzt bereits im Polizeiwagen, als Fadl auf das Auto zuläuft, er soll aufgebracht gewesen sein. Dann schießen drei Polizisten insgesamt viermal von hinten auf ihn. Wenige Zeit später stirbt er im Krankenhaus.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt: Warum haben die Polizisten geschossen? Die Polizei gibt an, Fadl habe ein Messer bei sich gehabt. Doch es gibt Zeug:innen, die dem widersprechen. Auf einem später sichergestellten Messer sind keine Fingerabdrücke des Mannes zu finden.

Der Hauptzeuge und Verdächtige im Missbrauchsfall wird nach Pakistan abgeschoben, bevor er von Er­mitt­le­r:in­nen befragt werden kann. Trotz der Widersprüche stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Mai 2017 ein. Es heißt, die Po­li­zis­t:in­nen hätten aus Notwehr gehandelt.

Im Mai 2018 weist das Kammergericht Berlin die Staatsanwaltschaft an, die Ermittlungen wieder aufzunehmen. In einer Begründung heißt es, die Umstände seien „unzureichend aufgeklärt“. Das Gericht zweifle an einer „sorgfältigen Ermittlungstätigkeit“. Die Witwe Fadls und ihr Anwalt hoffen auf eine öffentliche Hauptverhandlung. Doch die Ermittlungen laufen bis heute nur schleppend. Die Staatsanwaltschaft Berlin wollte sich gegenüber der taz bis Redaktionsschluss nicht äußern. Sarah Ulrich

Dschaber al-Bakr, 12. 10. 2016, Leipzig

Am 12. Oktober wird Dschaber al-Bakr tot in seiner Zelle in der Justizvollzugsanstalt Leipzig gefunden. Er hat sich erhängt. Nur wenige Tage zuvor war der 22-jährige Syrer verhaftet worden, Dschabar al-Bakr soll einen islamistischen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant haben. Er war einer Verhaftung zunächst entgangen, drei Syrer übergaben ihn schließlich der Polizei. In al-Bakrs Wohnung fanden sich 1,5 Kilogramm hochexplosiver Sprengstoff.

Da al-Bakr jede Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verweigerte, hatte die Haftrichterin auf eine erhöhte Suizidgefahr hingewiesen. Die Anstaltspsychologin hingegen stufte al-Bakr nur als „mäßig suizidgefährdet“ ein, was eine später eingesetzte Ex­per­t*in­nen­kom­mis­si­on in einer Pressemitteilung als „sehr nachvollziehbar“ bezeichnete.

Die Ex­per­t*in­nen sahen keine Mängel in der Kontrolle – wohl aber in der Betreuung des Gefangenen, dem etwa kein Hofgang gewährt wurde. Auch habe die Justizvollzugsanstalt wichtige Informationen zum Inhaftierten „nicht oder zu spät“ erhalten. Welche das gewesen seien, spezifiziert die Kommission in ihrer Pressemitteilung nicht.

Der 184 Seiten lange Bericht der Kommission ist nicht öffentlich, aber die Leipziger Volkszeitung zitiert daraus: „Der Untersuchungsgefangene hätte zu keinem Zeitpunkt allein gelassen werden dürfen.“

Es sei „wiederholt gegen gesetzliche Vorgaben, allgemeine Richtlinien sowie Weisungen verstoßen“ worden. „Der Gefangene wurde unangemessen betreut, und es wurde Sachverhalten nicht nachgegeben, die als Anzeichen für die Entwicklung einer Suizidgefahr hätten wahrgenommen werden können.“

Die Familie al-Bakrs erstattete Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung. Im Juni 2017 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Dinah Riese

Name unbekannt, 17. 10. 2016, Bielefeld

Es ist bereits Mitternacht, als die Polizei Bielefeld am 15. Oktober zu einem Einsatz im Stadtteil Brake gerufen wird. Nach­ba­r:in­nen haben sich über Lärm beschwert, ein türkischer Mann, zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, schreie auf der Straße. Die Polizei findet ihn vor der Haustür seiner Ehefrau, später heißt es, sie habe ihn rausgeworfen.

Die Beamten nehmen den Mann fest, fixieren ihn mit Kabelbindern, drücken ihn mit dem Bauch nach vorne auf den Rasen. Zeu­g:in­nen berichten, der Festgenommene habe nach Allah geschrien, gerufen: „Die wollen mich umbringen.“ Sie sagen auch, ein ­Beamter habe sich daraufhin auf ihn gesetzt und sein Gesicht in den Rasen gedrückt. Ein Zeuge will gehört haben, wie ein Beamter sagt: „Ruf du nur weiter nach deinem Gott.“

Da der Mann unter Substanzeinfluss steht und, wie die Staatsanwaltschaft später sagt, „drogenpsychotisches ­Verhalten“ an den Tag legt, wird ein Krankenwagen gerufen. Während des Abtransports kollabiert der Mann, wird mehrfach wiederbelebt. Am ­zweiten Tag nach der Festnahme stirbt er im Krankenhaus an einem ­Herzinfarkt.

Die Staatsanwaltschaft beantragt eine Obduktion, bei der zahlreiche ­Hämatome im Gesicht sowie Abschürfungen und Schnittwunden durch die Kabelbinder festgestellt werden. Die Witwe schaltet einen Anwalt ein. Sie wirft der Polizei unverhältnismäßige Härte vor und will prüfen lassen, ob die Festnahme mit dem Tod ihres Mannes zu tun hatte. Gegen den Beamten wird zunächst wegen fahrlässiger Tötung ermittelt, die Ermittlungen werden aber wenige Monate später eingestellt.

Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Bielefeld sagt gegenüber der taz, die rechtsmedizinische Untersuchung habe eindeutig ergeben, dass es „keine Hinweise auf eine Kausalität zwischen der Gewalteinwirkung und dem Herzinfarkt“ gebe. Die Gewalteinwirkungen seien „gerechtfertigt“ gewesen, da der Mann „massive Gegenwehr gegen rechtmäßige polizeiliche Maßnahmen geleistet“ habe. Sarah Ulrich

Name unbekannt, 19. 2. 2017, Herten
Zwei Männer in weißen Anzügen und ein Polizist stehen vor einem abgesperrten Haus

Ein 30-jähriger Tunesier flieht aus der Psychiatrie und dringt in die Wohnung einer 72-jährigen Frau ein. Als die Polizei kommt, schießt sie auf ihn Foto: Marcel Kusch/dpa/picture alliance

Ein 30-jähriger Tunesier, der in einer Psychiatrie der nordrhein-westfälischen Stadt Herten behandelt wird, läuft am Abend des 19. Februar unerlaubt von dort weg. Er dringt in die Wohnung einer 72-jährigen Frau ein, die zu ihrer Nachbarin flüchtet und die Polizei ruft. Nach dem Eintreffen schießt ein Beamter auf den Eindringling. Der Obduktionsbericht ergibt, dass der Mann an einer Kugel in der linken Brust starb. Am Tatort wird ein Messer gefunden, mit dem der Mann die Polizeibeamten bedroht haben soll. Lea Fauth

Mikael Haile, 27. 4. 2017, Essen

In der Nacht zum 27. April werden Be­am­t*in­nen der Polizei Essen wegen Ruhestörung gerufen. Der Nachbar, der die Polizei rief, hatte zuvor bei Mikael Haile geklingelt. „Meine Wohnung, meine Wohnung“, soll Haile geantwortet haben, bevor er die Tür schloss. In Medienberichten beschreibt der Nachbar den 22-Jährigen als ruhig und freundlich. Einige Male soll er abends „Krach“ gemacht haben.

Mikael Haile war aus Eritrea nach Deutschland geflüchtet und wohnte in einer Sozialwohnung in Altenessen. Girmay Habtu, der sich seit 20 Jahren ehrenamtlich um junge Geflüchtete kümmert, war mehrfach dort und beschreibt die Wohnung als „sehr hellhörig“. Fernseher, Radio oder andere Geräte soll Haile bis zu seinem Tod nicht gehabt haben. Deutsch habe Haile nur gebrochen gesprochen. Doch „er war motiviert und wollte was erreichen“, sagt Habtu.

Als die beiden Polizeibeamten bei Haile klingeln, sollen sie sich „deutlich“ identifiziert haben, so steht es in einer Antwort der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Haile soll die Tür mit einem Küchenmesser in der Hand geöffnet haben. Trotz „mehrfacher, eindrücklicher und laut vernehmlicher Aufforderung“ habe Haile das Messer nicht fallen gelassen.

Die beiden Beamten sind die einzigen Zeugen. Sie hätten ihre Pistolen auf Haile gerichtet und sich „rückwärtsgehend durch den Flur zurückgezogen“. Haile soll auf die beiden Männer mit den gezogenen Schusswaffen zugestürmt sein und versucht haben, sie mit seinem 20-Zentimeter-Küchenmesser anzugreifen. „Nur durch einen gezielten Schuss“ habe ein Beamter „den unmittelbar lebensgefährdenden Angriff […] abwenden können“, so die Staatsanwaltschaft Essen. Der Schuss traf Haile in die Brust.

Girmay Habtu bezweifelt die Darstellung der beiden Beamten und wirft ihnen vor, über Notwehr hinaus gehandelt zu haben. „Warum haben sie ihm nicht ins Bein geschossen?“ Die Staatsanwaltschaft Essen hat das Handeln der Polizisten als Notwehr eingestuft und die Ermittlungen eingestellt. Anett Selle

Name unbekannt, 22. 1. 2018, Darmstadt

Die Darmstädter Polizei wird wegen ­eines nächtlichen Familienstreits ge­rufen. Eine Frau gibt an, sie werde von ihrem Ehemann geschlagen. Als die ­Polizeibeamten eintreffen, seien sie ­bereits an der Wohnungstür von dem mit zwei Messern bewaffneten Ehemann erwartet worden, geben sie später zu Protokoll. Es fallen mehrere Schüsse.

Der Mann, ein 40-jähriger ka­sachischer Staatsbürger, stirbt an ­seinen Verletzungen. Seine Ehefrau und die beiden Kinder, 16 und 18 Jahre alt, ­bleiben unverletzt. Die Kinder erleiden allerdings einen Schock und müssen im Krankenhaus behandelt werden.

Die Staatsanwaltschaft Darmstadt stellt das Ermittlungsverfahren ein. Zur Begründung erklärt sie der taz: „Aufgrund der Nähe des Angreifers, der Bewaffnung mit zwei Messern und dem begrenzten Raum im Treppenhaus war von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, auch wenn der Angreifer dadurch tödliche Schussverletzungen erleidet. Für die Abgabe eines Warnschusses blieb in dieser Situation keine Zeit mehr.“ Christoph Schmidt-Lunau

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Hamit P., 9. 2. 2018, Wuppertal

Am Mittag stürmen SEK-Beamte die Wohnung von Hamit P. Der 43-Jährige soll der regionale Anführer der sogenannten Osmanen Germania BC sein, einer Gruppe von türkischnationalen Rockern, die als gewaltbereit gilt und inzwischen vom Innenministerium verboten wurde. Nach einem Hinweis eines Aussteigers erlässt ein Richter einen Haftbefehl gegen Hamit P., Spezialkräfte der Wuppertaler Polizei sollen die Festnahme durchführen.

Als die SEK-Beamten die Tür aufbrechen, werfen sie eine Blendgranate, die im Flur detoniert. Ein Beamter stürmt ins Wohnzimmer, wo er Hamit P. antrifft – laut Medienberichten nur mit Handtuch und Unterhemd bekleidet. Der Beamte schießt auf Hamit P., dieser erliegt noch vor Ort seinen Verletzungen.

Der Beamte sagt später aus, Hamit P. habe einen dunklen Gegenstand in der Hand gehabt, außerdem sei er von dem Druck und Knall einer weiteren von Kol­le­g:in­nen gezündeten Blendgranate irritiert worden. Er habe geglaubt, Hamit P. hätte auf ihn geschossen.

Gegen den SEK-Beamten wird ­wegen fahrlässiger Tötung ­ermittelt. Aus Neutralitätsgründen übernimmt die Polizei Essen die Ermittlungen. ­Dabei stellt sich heraus, dass der dunkle ­Gegenstand in Hamit P.s Hand ein Handy gewesen sein soll. ­Später heißt es jedoch, sein Handy sei an einem Ladegerät ­gefunden ­worden. Unklar bleibt, warum eine zweite Blendgranate gezündet wurde. Im ­Januar 2019 stellt die Staatsanwaltschaft mangels Tatverdacht die Ermittlungen ein. Es habe sich um ein „tragisches Missverständnis“ gehandelt.

Die Familie von Hamit P. legt Einspruch gegen die Einstellung ein. Seit Anfang 2020 hat die Polizei Essen die Ermittlungen wieder aufgenommen. Ein Sprecher bestätigt das gegenüber der taz. Von der Staatsanwaltschaft heißt es, der Sachverhalt werde nun noch einmal „detaillierter aufgeklärt“. Sarah Ulrich

Bekir B., 1. 3. 2018, Neubrandenburg

In der Nacht beobachtet eine Frau, wie drei Männer in ein Döner-Bistro am Juri-Gagarin-Ring in Neubrandenburg einbrechen, und alarmiert die Polizei. Die beiden Beamten, die zuerst am Tatort sind, fordern die Einbrecher mit gezogener Waffe zum Verlassen des Objekts auf. Mit erhobenen Händen kommen die Männer in dem dunklen Raum auf sie zu, ehe der 27-jährige Bekir B. ihnen den Rücken zuwendet. Laut Staatsanwaltschaft ignoriert er die Aufforderung, sich hinzulegen. Stattdessen dreht er sich um und sprüht einem Beamten Reizgas ins Gesicht. Aus zwei bis drei Metern Entfernung feuert dieser einen Schuss ab, der B. in den Oberkörper trifft. Der Verletzte wird in ein Krankenhaus eingeliefert, in dem er noch in der Nacht stirbt.

Die beiden anderen Tatverdächtigen werden mit ihrer Beute in Höhe von 30.000 Euro festgenommen. Der Tote und ein Komplize, beide mit deutscher Staatsbürgerschaft, sollen der aus dem Libanon stammenden Familie Miri angehören, deren Mitglieder zum Teil mit organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht werden.

Noch am selben Tag sagt der Kreisgruppenvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Neubrandenburg, Andreas Wegner, dem Nordkurier, dass sich der Beamte richtig verhalten habe. Ende April schließt die Staatsanwaltschaft den Fall ab. Der Einsatz der Schusswaffe sei im Rahmen des Notwehrrechts erfolgt und damit gerechtfertigt, so ­Oberstaatsanwalt Gerd Zeisler; ein „milderes Mittel“ habe dem Beamten „nicht zur Verfügung“ ­gestanden. Erik Peter

Name unbekannt, 10. 4. 2018, Bremervörde

Im Gefängnis Bremervörde im niedersächsischen Landkreis Rotenburg (Wümme) begeht ein aus dem Irak stammender Häftling Suizid, obwohl der psychologische Dienst der Anstalt zuvor eine Suizidabsicht verneint hatte. Der Geflüchtete wird erst so spät in seiner Zelle entdeckt, dass bereits die Leichenstarre eingesetzt hat. Der Gefangene hatte sich mit einem Schnürsenkel im Nassbereich an der Tür stranguliert. Der Iraker hinterlässt sieben Kinder. Reimar Paul

Matiullah Jabarkhil, 13. 4. 2018, Fulda
Ein Fenster mit zwei Sprüngen durch Schüsse

Warum konnten mehrere bewaffnete Polizeibeamte den 1,70 Meter großen Matiullah Jabarkhil nicht einfach festnehmen? Foto: Jörn Perske/dpa/picture alliance

Matiullah Jabarkhil wird am frühen Morgen von einem Polizisten im hessischen Fulda erschossen. Der 19-jährige Afghane lebte unweit des Tatorts in einer Unterkunft für Geflüchtete. Die Polizei gibt an, Jabarkhil habe den Auslieferungsfahrer einer Bäckerei sowie einen Streifenbeamten mit einem faustgroßen Stein verletzt und sei anschließend mit dem Teleskopschlagstock des Polizisten geflohen. Bei der Verfolgung durch einen Beamten habe dieser insgesamt zwölf Schüsse abgegeben, von denen zwei tödlich waren.

Die tödlichen Schüsse seien „durch Notwehr gerechtfertigt“, heißt es in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Fulda. Jabarkhil habe den beschuldigten Beamten mit dem entwendeten Schlagstock angegriffen, der daraufhin in schneller Folge acht Schüsse abgegeben habe. Zuvor hatte der Beamte Jabarkhil bei der Verfolgung mehrfach verfehlt.

Das gegen den Polizeibeamten eingeleitete Ermittlungsverfahren war im Januar 2019 zum ersten Mal eingestellt worden. Nach dem Fund eines Handyvideos, auf dem Teile des Geschehens kurz vor den tödlichen Schüssen zu sehen sind, wurden die Ermittlungen im März 2019 wieder aufgenommen und im August 2019 zum zweiten Mal ­eingestellt. Die Anwältin der Angehörigen des Getöteten hat Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung eingereicht.

Für die Gruppe Afghan Refugees ­Movement bleiben viele Fragen offen. Warum konnten die vier bis fünf anwesenden bewaffneten Polizeibeamten den 1,70 Meter großen Mann, der sich offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand befand, nicht festnehmen, ohne ihn zu erschießen? Warum wurde Jabarkhil rund 200 Meter entfernt von der Bäckerei getötet, wenn es sich um Notwehr gehandelt haben soll? In den frühen Morgenstunden waren keine umstehenden Personen gefährdet – warum wartete man nicht auf Verstärkung? Henrike Koch

Mahmood J., 30. 5. 2018, Flensburg
Viele Polizisten stehen auf einem Bahnsteig

Mahmood J. soll kriegs­traumatisiert gewesen sein. Zur psychiatrischen Untersuchung kommt es nicht mehr Foto: Sebastian Iwersen/Nordpresse Mediendienst/picture alliance

Er wollte nach Kiel und hatte den Umstieg verpasst, sie half ihm dabei, eine neue Zugverbindung zu finden. Warum der 24-jährige Mahmood J., der 2015 aus Eritrea nach Deutschland kam, bei der Fahrt im Intercity 2406 nach Flensburg wenig später ein Küchenmesser zieht und auf die 22-jährige Bundespolizistin einsticht, ist auch zwei Jahre danach nicht ganz klar.

Die Beamtin erschießt ihn.

Unklar waren zunächst auch die Abläufe: Die ersten Meldungen besagten, die Beamtin, die in Bremen tätig war, habe einen Streit zwischen Mahmood J. und einem Mann aus Köln schlichten wollen. Dann hieß es, sie sei angriffen worden und habe im Reflex geschossen. Laut ihrer eigenen Aussage stand die Beamtin an der Waggontür, um auszusteigen, als der Zug in den Flensburger Bahnhof einfuhr. J. habe auf sie eingestochen, woraufhin der Kölner sich einmischte. Die Beamtin sei ins Nachbarabteil gelaufen, um Alarm zu schlagen, sei zu dem Kampf zurückgekehrt und habe geschossen, um den Kölner zu schützen.

Der Landtag von Nordrhein-­Westfalen widmet sich dem Fall, das Innenministerium schreibt einen Bericht. Demnach soll der Eritreer, der in Recklinghausen lebte und nach eigener Auskunft über Italien und Österreich nach Deutschland kam, kriegstraumatisiert und aggressiv gewesen sein. Am 6. April 2018 hatte er einen Nachbarn, ebenfalls geflüchtet, gebissen. Die Flüchtlingshilfe der Caritas ordnete eine psychiatrische Untersuchung an – dazu kommt es nicht mehr. Esther Geißlinger

Amad Ahmad, 29. 9. 2018, Kleve
Ein Fenster einer Gefängniszelle

Vor Amad Ahmads Festnahme wurden seine gespeicherten Daten mit denen eines Mannes aus Mali vermischt Foto: Markus Offern/dpa/picture alliance

In Geldern am Niederrhein wird Amad Ahmad am 6. Juli 2018 verhaftet. Der Kurde soll vier junge Frauen verbal „sexuell beleidigt“ haben. Der Vater einer der Frauen ist Polizist – sie ruft ihn auf seinem Diensttelefon an. Der damals 26-jährige Amad Ahmad wird festgenommen – und für einen gesuchten Vergewaltiger gehalten.

Doch das ist er nicht. Die „vermeintlich Geschädigte“ gibt zu, „dass es keine Vergewaltigung gegeben habe, sondern sie eine solche vorgetäuscht habe“, heißt es in Unterlagen der Staats­anwaltschaft.

Der aus Nordsyrien Geflüchtete bleibt trotzdem in Haft. Denn schon zwei Tage vor seiner Festnahme wurden seine in der NRW-Polizeidatenbank ViVA gespeicherten Daten mit denen eines schwarzen Mannes aus Mali vermischt. Der heißt Amedy G. und wird laut INPOL-Software der Bundespolizei von den Staatsanwaltschaften Hamburg und Braunschweig wegen Diebstahls gesucht. „Personenzusammenführung“ heißt diese Vermischung im Polizeijargon.

Zwar ist in ViVA ein Foto des „hellhäutigen“ Kurden und in INPOL ein Foto des „schwarzhäutigen“ Amedy G. vorhanden – doch niemand der mehr als 20 Beamt*innen, die allein in NRW den Fall bearbeiten, vergleicht sie. Bis zum 17. September sitzt Amad Ahmad in der Justizvollzugsanstalt Kleve. Dann brennt seine Zelle. Er wird so schwer verletzt, dass er kaum noch zu erkennen ist. Am 29. September stirbt er nach einer Lungentransplantation.

Seit Ende November 2018 kämpft ein auf Druck von Grünen und SPD eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags um Aufklärung. Sicher ist bisher: „Einige hätten helfen können, andere hätten helfen sollen, und einige hätten helfen müssen, Amad Ahmad aus der Haft zu befreien“, hält SPD-Fraktionsvize Sven Wolf den ermittelnden Po­li­zis­t*in­nen vor. „Er hätte noch leben können.“

Denn schon nach Aktenlage hatte eine Staatsanwältin erkannt, dass der Kurde aus Syrien nicht der Mann aus Mali ist. Amad Ahmad sei „nicht identisch“ mit Amedy G., notierte sie mehr als zwei Monate vor dem tödlichen Brand – und telefonierte mit dem Polizisten Frank G. „Was hat er danach gemacht? Hat er trotzdem den Deckel der Akte zugeklappt?“, fragt der Obmann der Grünen im Untersuchungsausschuss, Stefan Engstfeld.

Dazu kommt: „Bis heute wissen wir nicht, wer die Personenzusammenführung veranlasst hat“, sagt Engstfeld. „Wer war dafür verantwortlich?“ Klar wird, wenn man sich den Mailverkehr zwischen einer Mitarbeiterin des Ordnungsamts und der Polizei Geldern anschaut: Die Behörden warteten nur auf einen Anlass, den offenbar vom syrischen Assad-Regime gefolterten Kurden wegen vermuteter „psychischer Probleme“ zwangseinweisen zu lassen.

Damit steht die Theorie eines Komplotts im Raum: Wurden die Daten von Amad Ahmad und Amedy G. absichtlich vermischt, um Ahmad ohne jede Rechtsgrundlage inhaftieren zu können? Völlig unklar ist auch der Verlauf des tödlichen Zellenbrands. Mitgefangene wollen Ahmad lange um Hilfe schreiend am Fenster der Haftanstalt gesehen haben. Andreas Wyputta

Aristeidis L., 12. 1. 2019, Berlin

Der 36-jährige Grieche Aristeidis L. ist an Händen und Füßen gefesselt, als er im Dezember 2018 im Polizeigewahrsam kollabiert. Ein Dutzend Po­li­zis­t:in­nen wollen ihn in eine Zelle der Berliner Gefangenensammelstelle in Tempelhof bringen. Sie hatten ihn halb nackt und außer sich in einer Bäckerei aufgegriffen, sofort eskalierte die Situation – ein sozialpsychiatrischer Dienst wurde nicht alarmiert.

Auf dem Weg in die Zelle wehrt sich L. nach Kräften. Die Po­li­zis­t:in­nen setzen Pfefferspray ein, obwohl L. Handschellen trägt. Schließlich fixieren ihn vier Einsatzkräfte in Bauchlage auf dem Boden eines engen Fahrstuhls. L. bekommt keine Luft mehr und kollabiert. Er stirbt nach einem künstlichen Koma zwei Wochen später im Krankenhaus. Offizielle Todesursache: lagebedingter Erstickungstod.

Der Pfeffersprayeinsatz trotz Fesseln und die offenbar rechtswidrige Fixierung nähren aus Sicht des Kriminologen Thomas Feltes den Verdacht der fahrlässigen Tötung: Man dürfe niemanden länger als ein paar Sekunden in Bauchlage festhalten, zudem könne der Einsatz von Pfefferspray bei psychisch Erkrankten und Menschen auf Drogen zum Tod führen.

Beides jedoch scheint hier ge­schehen zu sein, wie taz-Recherchen nahelegen. Laut Hinterbliebenen­anwältin ­befand ­L. sich in einem ­manischen Zustand, stand zudem unter Drogen­einfluss.

Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung dennoch nach nur zwei Monaten ein, obwohl nicht einmal alle am Vorfall beteiligten Einsatzkräfte vernommen wurden. Auch nicht der Wachpolizist, der L. im Bereich des Oberkörpers fixierte, während dieser in Bauchlage auf dem Boden des Fahrstuhls erstickte. Die Zwangsmaßnahmen sind laut Staatsanwaltschaft nicht strafbar.

Ein erstes Klageerzwingungsverfahren des Bruders von L. ist gescheitert. Der Mutter des Opfers steht der Klageweg als Hinterbliebene noch offen. Gareth Joswig

Rooble Muse Warsame, 26. 2. 2019, Schweinfurt

Rooble Muse Warsame wird am 26. Februar 2019 erhängt in einer Zelle der Polizeidirektion Schweinfurt aufgefunden – in halb kniender, halb sitzender Position. Um seinen Hals liegt ein abgetrennter Streifen einer Wolldecke, das andere Ende ist fünfzig Zentimeter über seinem Kopf verknotet. Die Wolldecke der Firma Ibena gilt eigentlich als unkaputtbar, trotzdem soll Warsame davon einen Streifen abgerissen haben. Im Obduktionsbericht werden Verletzungen am linken Knie, am linken Unterarm, am rechten Ellbogen, an der linken Schläfe, am rechten Jochbogen und an der rechten Halsseite beschrieben und als „Anschlagsverletzungen“ interpretiert.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Anschlagsverletzungen waren“, sagt Biplab Basu von der Kampagne rassistischer Polizeigewalt in Berlin. „Er ist ja nicht aus fünf Meter Höhe auf den Boden gefallen.“

Im Oktober 2019 wurden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Schweinfurt eingestellt, dort geht man von einem Suizid durch atypisches Erhängen aus. Anfang Juli 2020 wurde die Akte jedoch wieder geöffnet. Der leitende Staatsanwalt, Axel Weihprecht, erfuhr durch eine Medienanfrage, dass ein Zeuge, der neben Rooble Warsame inhaftiert war, Geräusche gehört haben soll. Er wurde von der Polizei entlassen, ohne dass er vernommen wurde. In den Tagen danach ist er verschwunden, mit unbekanntem Ziel. Verwandte von Rooble Warsame, die mit dem Mann gesprochen haben, erzählten, dass er in der Nacht, als Rooble Warsame starb, Schreie gehört habe, die plötzlich abgebrochen sind.

Ein dritter Mann hat sich in dieser Nacht ebenfalls in einer Zelle neben Rooble Warsame in Gewahrsam befunden. Auch er wurde nicht vernommen. Er wurde wenige Tage später nach Somalia abgeschoben.

Die Familie von Rooble Warsame sammelt jetzt Geld. Sie wollen tausend Pfund zusammenbekommen, um ein externes Gutachten in Auftrag zu geben. Steffi Unsleber

Im Februar letzten Jahres starb der Somalier Rooble Warsame in einer Schweinfurter Polizeizelle. Er soll sich erhängt haben, sagt die Polizei. Doch die genauen Umstände seines Todes sind noch immer unbekannt.

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Adel B., 18. 6. 2019, Essen

Der 32-jährige Adel B. stirbt in Essen-Altendorf durch einen Schuss in die Brust. Abgefeuert von einem Polizisten, aus Notwehr. Die Staatsanwaltschaft zweifelt daran nicht, der Fall wird zu den Akten gelegt.

Adel B. ist deutscher Staatsbürger mit algerischen Wurzeln. Er hat psychische Probleme und ist der Polizei bekannt. Am 9. Juni meldet sich seine Lebensgefährtin bei der Polizei, schildert einen Fall von häuslicher Gewalt. Adel B. darf sich der Wohnung zehn Tage nicht nähern. Eine Woche vor seinem Tod ruft er selbst die Polizei, er spricht davon, sich das Leben nehmen zu wollen. Die Be­am­t:in­nen ziehen einen psychologischen Betreuer hinzu, B. kommt in eine psychiatrische Klinik. Nur einen Tag später wird er entlassen.

Sieben Tage später, ein ähnlicher Ablauf: Um 5.04 Uhr am Morgen ruft Adel B. die Polizei, er sagt, er wolle sich erschießen lassen. Er macht sich auf den Weg zur Altendorfer Straße, ein 30 Zentimeter langes Fleischermesser hat er dabei. Ein Video zeigt die Szene: B. brüllt die Be­am­t:in­nen an, er beleidigt sie, geht einige Schritte auf sie zu, ruft: „Schieß doch!“ Die Be­am­t:in­nen weichen mit vorgehaltener Waffe immer weiter zurück. „Bleib da stehen, Mann!“, ruft einer. So geht das minutenlang.

Allmählich scheint sich B. zu beruhigen, er telefoniert und macht sich dann zurück auf den Weg zur Wohnung, in der er mit seiner Lebensgefährtin und deren vier Kindern lebt. Ein Verhandlungsteam mit psychologisch geschulten Kol­le­g:in­nen sei angefordert worden, das habe um diese frühe Uhrzeit aber nicht schnell genug vor Ort sein können, sagt die Essener Oberstaatsanwältin Anette Milk der taz.

Adel B. bekommt die Möglichkeit, das Mehrfamilienhaus zu betreten. Auf einem weiteren Video sieht man die Polizist:innen, die sich der Haustür zunächst langsam nähern, dann plötzlich schnell darauf zulaufen. Zweimal gibt es einen Rums, dann fällt der Schuss. „Eine Beamtin, die um die vier Kinder in der Wohnung wusste, wollte verhindern, dass die Tür ins Schloss fällt, und hat sich dagegengeworfen“, so Milk.

Weiter schildert sie den Tathergang so: Hockend habe die Polizistin versucht, die Tür aufzuhalten, ein weiterer Kollege habe ihr geholfen. Ein dritter habe dann gesehen, wie Adel B. oberhalb des Kopfes seiner Kollegin mit dem Messer herumfuchtelte, er habe um das Leben der Kollegin gefürchtet und auf B. geschossen.

All das ist so auf dem Video nicht zu sehen. Das Ganze geschieht innerhalb von Sekunden.

Aus einer Stellungnahme eines ­Anwalts der Angehörigen, die der taz vorliegt, gehen erhebliche Zweifel an dieser Darstellung hervor: So sei etwa der Schuss rechts der Brustbeinmitte, der zu einer Verletzung des Herzens führte, unverhältnismäßig gewesen, da insbesondere die Beine für den Schützen nicht durch etwaige Kollegen verdeckt gewesen seien. Die Initiative „Gerechtigkeit für Adel“ fordert, dass ein Gerichtsverfahren eröffnet wird. Vor dem Oberlandesgericht in Hamm soll das nun erzwungen werden. Hanna Voß

Sadnia Rachid, 20. 7. 2019, Erfurt

Fragt man nach dem Mann, der am 20. Juli 2019 in Erfurt verstarb, heißt er meist „der aus Algerien“, oder es ist die Rede vom „bedauerlichen Vorfall“, der sich in der Bundespolizeiinspektion direkt am Bahnhof ereignete.

In einem Protokoll des Justizausschusses im thüringischen Landtag vom letzten Sommer heißt er der „Beschuldigte“. Er war aufgefallen, als er versucht hat, einen Rucksack zu stehlen.

Weiter heißt es, der Mann habe zahlreiche Medikamente bei sich gehabt. Darunter Subutex, ein Opioid, das als Drogenersatz verabreicht wird. Ein hinzugerufener Notarzt hält ihn für vernehmungsfähig, gestattet, Subutex zu nehmen, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Immer wieder schläft der Beschuldigte während der Befragung ein. Gegen 23 Uhr ordnet die Staatsanwaltschaft die Freilassung an. Die Po­li­zis­t*in­nen lassen ihn in einer Zelle schlafen.

Alle 30 Minuten schauen sie nach ihm. Dann atmet er nicht mehr. Das ist um 3.35 Uhr. Notärzte bringen ihn ins Krankenhaus, wo er stirbt.

Auf Anfrage teilt die Staatsanwaltschaft der taz nun, fast ein Jahr später, mit: „Die Polizeibeamten haben richtig gehandelt.“ Und: „Es ist demnach kein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.“

Das scheint das Justizministerium nicht zu wissen, denn das teilte dem Landtag kürzlich mit, das „Todesermittlungsverfahren“ werde eingestellt. Der Mann habe an einer eitrigen Luftwege- und Lungenentzündung gelitten. Die Medikamente, die der Verstorbene eingenommen habe, könnten „den Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstandes begünstigt haben“.

3.500 Euro mussten die Eltern zahlen, um den Leichnam ihres Sohnes nach Hause zu holen. Weder Deutschland noch Algerien halfen. Stattdessen sammelte ein Verein aus Düsseldorf Spenden. Und gaben dem Toten seine Identität zurück, als sie statt der Behörden veröffentlichten, wer er ist: Sadnia Rachid. Er war Vater und Ehemann; er hatte ein Leben in Frankreich. Er ist 32 Jahre alt geworden. Christina Schmidt

Aman Alizada, 17. 8. 2019, Stade

Aman Alizada ist 19 Jahre alt, als ein Polizist ihn erschießt. Es ist nicht der erste Kontakt des jungen Afghanen mit der Ordnungsmacht, im niedersächsischen Stade gilt er als stadtbekannt – auch wegen seiner psychischen Pro­ble­me. Eine Weile war er in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht, weil er mit einem Messer in der Innenstadt aufgegriffen wurde und sich für Gott gehalten habe. Schizophrenie, lautet die Diagnose, vermutlich im Zusammenhang mit Alizadas traumatischer Fluchtgeschichte.

Als die Polizei am Abend des 17. August wegen eines handgreiflichen Streits zur Geflüchtetenunterkunft im Stadtteil Bützfleth ausrückt, haben die Be­am­t:in­nen jedenfalls eine Vorstellung, mit wem sie es zu tun haben. Sie kommen zu viert. Alizada, sagen die Be­am­t:in­nen später aus, sei aggressiv gewesen. Sie attackieren ihn durchs Fenster mit Pfefferspray und dringen in die Wohnung ein. Als der randalierende Alizada ihn mit einer eisernen Hantelstange bedroht, zieht ein 27-jähriger Polizist die Waffe und schießt fünfmal. Zwei der Kugeln treffen, ein notärztlicher Reanimationsversuch scheitert wenig später.

Zehn Monate ermittelt die Staatsanwaltschaft Stade und rekonstruiert den Tathergang anhand der Aussagen der beteiligten Beamt:innen. Das Ergebnis: Die fünf Schüsse seien Notwehr gewesen. Mitte Juni 2020 werden die Ermittlungen eingestellt.

Kritik übt der Niedersächsische Flüchtlingsrat schon wegen der Vorgeschichte. Dass etwa die Jugendhilfe bei dem traumatisierten Geflüchteten ausgesetzt wurde, habe seine Stabilisierung „massiv gefährdet“. Für die Anwälte von Alizadas hinterbliebenem Bruder war bereits das Eindringen in die Wohnung rechtswidrig. Sie haben nun Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen bei der ­Generalstaatsanwaltschaft in Celle ein­gelegt. Jan-Paul Koopmann

Name unbekannt, 2. 11. 2019, Hoppstädten-Weiersbach

Am Abend des 2. November geht bei der Polizei im Landkreis Birkenfeld ein Notruf ein. Eine Frau berichtet von einem Mann, der in der Gemeinde Hoppstädten-Weiersbach mit einer Axt Menschen bedrohe. Wie später bekannt wird, ist es am Vereinsheim des TuS Hoppstädten bereits zu einer Auseinandersetzung mit einem Vereinsmitglied gekommen.

Ein Augenzeuge sagt dem SWR später, der Mann habe das Mitglied mit der Axt bedroht. Der Angegriffene habe mit seinem Pkw flüchten können. Der Angreifer habe auf das Fahrzeug eingeschlagen, aber lediglich die Felge des Autos gestreift. Mit einem Großeinsatz sucht die Polizei nach dem Mann. Sie stellt ihn schließlich an den Plätzen des Tennis-Clubs Hoppstädten.

Trotz des Einsatzes von Pfefferspray flüchtet er wieder. „Neben einem Geräteschuppen am Boden kauernd“ hätten ihn zwei Beamte aufgespürt, heißt es im Bericht der Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach; mit der Axt in der Hand sei er plötzlich aufgesprungen, der Beamte habe einen Schuss abgegeben und den Mann in der „Aufwärtsbewegung am Kopf“ getroffen, so die Staatsanwaltschaft, die Notwehr erkennt.

Bei dem Toten handelt es sich um einen 26-jährigen als Geflüchteter anerkannten Eritreer, der an keinem festen Wohnsitz gemeldet war. Über die Umstände seines Lebens ist kaum etwas bekannt, nur dass er zeitweise in psychologischer Behandlung war. Christoph Schmidt-Lunau

Name unbekannt, 28. 12. 2019, Stuttgart

In der Nacht zum 28. Dezember wird die Polizei nach Stuttgart-Möhringen gerufen, weil ein Kleinwagen in falscher Richtung durch einen Kreisverkehr gefahren und gegen eine Litfaßsäule geprallt war. Als die Polizei am Unfallort ankommt, wollen der Fahrer und seine Beifahrerin zu Fuß fliehen. Laut Polizeibericht zieht der Fahrer, als er von den Beamten eingeholt wird, ohne Vorwarnung einen ­schwertähnlichen ­Gegenstand hervor und geht dann damit auf die Beamten los.

Nachdem es den Beamten nicht gelingt, den Mann mit Pfefferspray zu stoppen, schießen beide auf ihn. Der 32-jährige Serbe wird mehrfach getroffen und stirbt im Krankenhaus an den Schussverletzungen. Nähere Ermittlungen ergeben, dass er offenbar unter einer psychischen Erkrankung litt, die Beifahrerin war seine 69-jährige Mutter. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Mannes werden Gaspistolen, eine Armbrust und ein weiteres Schwert gefunden. Benno Stieber

Mehmet B., 5. 1. 2020, Gelsenkirchen

Der 37-jährige Mehmet B. schlägt mit ­einem Gegenstand auf ein geparktes und leeres Polizeiauto in Gelsenkirchen ein. Er soll dann „mit einem Messer hantiert“ und zwei in der Nähe stehende Beamte bedroht haben, heißt es in der Pressemitteilung der Polizei Münster. Einer der Beamten, nur 23 Jahre alt, tötet Mehmet B. mit vier Schüssen. Der Mann stirbt unmittelbar vor Ort. Er stammte aus der Türkei und hatte die türkische Staatsbürgerschaft.

Die Polizei gibt zunächst an, es habe sich bei den Schlägen auf den geparkten Streifenwagen um einen Terroranschlag gehandelt. Über den Fall berichtet sogar die „Tagesschau“. In der polizeilichen Pressemitteilung und in Medienberichten ist von einem „Knüppel“ die Rede, mit dem Mehmet B. auf das Auto geschlagen haben soll.

Auf Anfrage der taz gibt die zuständige Staatsanwaltschaft Essen an, der Gegenstand sei ein Ast gewesen. Unter anderem die Bild berichtet, der Mann habe „Allahu akbar“, „Gott ist groß“, gerufen, als er sich in die Richtung der beiden Polizeibeamten bewegt habe. Das bestätigte die ermittelnde Staatsanwaltschaft der taz.

Zwar war Mehmet B. schon einmal als islamistischer Prüffall eingestuft und vom Staatsschutz beobachtet worden, jedoch waren Ermittlungen schon damals „ohne Befund“ geblieben. Auch eine nachträgliche Wohnungsdurchsuchung ließ keine Schlüsse auf eine terroristische Motivation zu. So ruderte dann auch die Polizei zurück, und sogar NRW-Innenminister Herbert Reul stellte klar, es habe sich bei der Attacke auf den Streifenwagen um die „Tat eines psychisch auffälligen Einzeltäters“ gehandelt.

Die Ermittlungen gegen den Polizeibeamten, der die Schüsse abgegeben hat, wurden eingestellt, „da ein Fall von Notwehr vorgelegen hat“, so die Staatsanwaltschaft gegenüber der taz. Lea Fauth

Mohamed Idrissi, 18. 6. 2020, Bremen-Gröpelingen
Handschuhe liegen auf Pflasterkleinstein

Mohamed Idrissi weigert sich, mitzukommen und zückt ein Messer, woraufhin ein Polizist ihm zweimal in den Ober­körper schießt Foto: Sina Schuldt/dpa

Mohamed Idrissi, 54, hat soeben durch seine Vermieter eine fristlose Kündigung erhalten, er soll im Keller einen Wasserschaden verursacht haben. Für die Besichtigung holt die Hausverwaltung sich Unterstützung durch die Polizei; wohl informiert, aber nicht dabei ist der Betreuer des psychisch kranken Idrissi. Obwohl die Kellerbegehung reibungslos verläuft, will die Polizei Idrissi im Anschluss zur psychologischen Begutachtung bringen.

Idrissi weigert sich; auf dem Parkplatz des Wohnhauses, umringt von vier Polizist*innen, zückt er ein Messer. Eine Nachbarin filmt die Szene: Mehrere Be­am­t*in­nen mit vorgehaltenen Waffen reden gleichzeitig auf ihn ein. Idrissi wirkt einigermaßen entspannt, er spricht, sein Messer zeigt nach unten. Als ein Polizist ihn von rechts mit Pfefferspray ansprüht, rennt Idrissi in dessen Richtung, das Messer weiter in der Hand. Der Beamte weicht zurück, dann schießt er; Idrissi wird zweimal in den Oberkörper getroffen. Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt er.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen zwei Po­li­zis­t*in­nen wegen des Verdachts auf Totschlag. Die Aufklärung wird beim Innensenator in der Abteilung für interne Ermittlungen angesiedelt. „Wir ermitteln unter Hochdruck“, heißt es in einem Bericht an die Bürgerschaft. Grundsätzliche Fragen zur Polizeiarbeit beantwortet die Innenbehörde aktuell nicht.

Die lauten zum Beispiel, warum ­Idrissi nicht in die Beine geschossen wurde. Mittlerweile rückt die Vorgeschichte in den Fokus: Idrissi stand bereits unter Betreuung. Warum kam der Sozialpsychiatrische Dienst nicht zu ihm nach Hause? Warum wurde seine Weigerung, mit der Polizei mitzufahren, nicht akzeptiert?

Idrissi wirkt im Video zumeist ruhig. Warum schreien mehrere Poli­zist*innen gleichzeitig auf ihn ein? Warum schließlich wird Pfefferspray eingesetzt? Dessen Wirkung auf psychisch kranke Menschen ist hoch umstritten. Lotta Drügemöller

Mamadou Alpha Diallo, 20. 6. 2020, Twist bei Osnabrück

Mamadou Alpha Diallo wird von seinen Freunden als jemand beschrieben, der plötzlich einen psychischen Zusammenbruch erlebt haben muss. Am Vormittag des 19. Juni läuft der Geflüchtete aus Guinea mit einem Messer in eine Arztpraxis der niedersächsischen Gemeinde Twist und bedroht Menschen, später auch die eigenen Freunde und Mitbewohner. Während einer der Freunde um sein Leben rennt, trifft die Polizei ein – und schießt. Einen Tag später stirbt Diallo trotz einer Notoperation.

S., der anonym bleiben möchte, floh vor seinem eigenen Freund und wurde Zeuge des Schusses. Er macht den Beamten keinen Vorwurf, er selbst habe sich in Lebensgefahr befunden. Der Schuss, ist er sich hingegen sicher, ging in den Unterleib, nicht in den Oberschenkel.

Ibrahima Bangoura, Konsul der guineischen Botschaft, äußert sich der taz gegenüber aufgebracht. „Es ist alles ein bisschen zu eigenartig“, sagt er. Normalerweise erhalte er eine offizielle Todesnachricht von den deutschen Behörden, wenn jemand mit guineischer Staatsbürgerschaft stirbt, egal was die Todesursache sei. Im Fall von Diallo hingegen hätten Freunde des Verstorbenen ihn informiert. Auch auf Nachfrage der guineischen Botschaft habe die Staatsanwaltschaft Osnabrück nicht reagiert. „Ich habe bis heute keine Sterbeurkunde gesehen“, bemängelt er. Auch wisse er nicht, ob der Tote überhaupt obduziert worden sei.

Gegenüber der taz bestätigt die Staatsanwaltschaft, es habe eine Obduktion gegeben, die einen Schuss ins Bein nachweise. Der Bericht stehe „mit seinen Ergebnissen im Einklang mit den Schilderungen der bislang vernommenen Zeugen“, erklärt Christian Bagung, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft. „Das Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung gegen den Polizeibeamten, der den Schuss abgegeben hat, ist weiterhin anhängig“, sagt Bagung. Lea Fauth

Svenja Bednarcyk, Negin Behkam, Nadine Conti, Anna Fastabend, Marthe Ruddat, Cornelius Stiegemann, Julia Wasenmüller.

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