Kretschmann empört Grüne: Von der Freiheit, ja zu sagen
Weg vom Verbotsimage – das war das Ziel des grünen Freiheitskongresses. Stattdessen tobt die Partei. Und zwar quer durch alle Flügel.
BERLIN taz | Die Gastgeberin müsste jetzt strahlen. Der Saal ist voll. Seit Monaten hat Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt auf diesen Tag hingearbeitet. Hier beim Freiheitskongress der Grünen im Bundestag will sie den Anspruch ihrer Partei als neue liberale Kraft anmelden. Doch selbst Göring-Eckardt als Kommunikationsprofi scheitert an diesem Freitag daran, eine Miene aufzusetzen, die nicht von der Vollkatastrophe zeugt. „Ich halte die Entscheidung des Bundesrates heute für falsch“, sagt sie, „ich bedauere sie auch.“
Einen Satz des Respekts ringt sie sich ab, für den Alleingang, den ihr baden-württembergischer Parteifreund Winfried Kretschmann, Ministerpräsident und nebenbei auch Realo wie sie, gut eine Stunde zuvor nur einen Kilometer weiter südlich im Bundesrat durchgezogen hat. Schließlich versichert die Spitzengrüne noch: „Unsere Glaubwürdigkeit steht in der Sache nicht zur Disposition.“
Doch da tobt es längst in ihrer Partei. Quer durch beide Flügel zieht sich die Empörung, sie dringt auch von baden-württembergischen Grünen nach Berlin, wütet in den sozialen Netzwerken. Co-Fraktionschef Anton Hofreiter läuft über den Gang, als bebe er vor Wut. „Schlichtweg falsch“, nennt er das baden-württembergische Ja zum Asylkompromiss. Die Zugeständnisse der Regierung seien zu gering, um ein Einknicken zu rechtfertigen.
Parteirat Rasmus Andresen aus Schleswig-Holstein warnt: „Wir dürfen Rechtspopulisten nicht damit bekämpfen, dass wir ihre Forderungen bedienen.“ Die Grüne Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth nennt die Entscheidung „Realitätsbeugung per Gesetz“. Innenpolitiker Volker Beck tobt, Kretschmann habe das „Menschenrecht auf Asyl für einen Appel und ein Ei verdealt“. Und die Sprecherin der Grünen Jugend, Theresa Kalmer, twittert: „Schäm dich, Kretschmann!“
Hässlicher Showdown
Es ist genau das passiert, was die Parteistrategen seit Wochen hatten partout abwenden wollen. Bis in die Nacht zum Freitag liefen die Verhandlungen zwischen Partei- und Fraktionsspitze, grün-mitregierten Ländern und Baden-Württemberg. Es war, wenn man Teilnehmern glauben darf, ein Showdown der hässlicheren Art.
Der Parteirat, das höchste Gremium neben dem Bundesvorstand, war am Donnerstag für 16 Uhr zur Krisensitzung zusammengerufen. Doch der Streit spitzte sich zu, bevor es überhaupt losging. Kretschmann, so ist aus Partei- und Fraktionskreisen zu hören, habe sogar gedroht, der Runde fernzubleiben, wenn dort ein Beschluss zum Asylstreit getroffen werden solle. Die Sitzung startete verspätet. Hitzig und auch mal lautstark soll es zugegangen sein.
Margit Gottstein, grüne Staatssekretärin aus Rheinland-Pfalz, die wochenlang mit dem Kanzleramt verhandelt hatte, erläuterte im Parteirat, warum das Angebot der Bundesregierung zu mickrig sei, um eine Zustimmung zu rechtfertigen. Dem hielt Kretschmann seine Sicht entgegen, verwies auf die Stimmungslage in der Bevölkerung, die er nicht ignorieren dürfe. Diesem Argument soll Gottstein klar widersprochen haben. Ein weiterer Wackelkandidat, der grüne Vize-Regierungschef Tarek Al-Wazir aus Hessen, soll die Sicht Baden-Württembergs unterstützt haben, auch wenn sein Land sich Kretschmanns Alleingang im Bundesrat nach langem Zögern nicht anschloss.
Der Parteirat verabschiedete am späten Abend doch noch ein Papier – gegen den Kompromiss mit der Regierung. Darin heißt es: „Eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten löst keines der Probleme der deutschen Flüchtlingspolitik.“ Und weiter: „Es ist zynisch, wenn Union und SPD die Asylsuchenden aus dem westlichen Balkan für die Situation in den Kommunen verantwortlich machen.“
Exitklausel für Kretschmann
Der Beschluss fiel einstimmig, dank einer Exitklausel: „Unabhängig von dieser Position respektieren wir, wenn grün-mitregierte Länder in ihren Kabinetten zu einer anderen Abwägung kommen sollten.“ Sogar der Parteirat Alexander Bonde, als grüner Verbraucherschutzminister Teil des Kabinetts in Stuttgart, votierte dafür.
Doch der einstimmige Beschluss federt den Aufprall nicht ab. Seit ihrem schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl versichern Spitzengrüne, sie seien zwar im Bundestag geschwächt, könnten aber über die sieben grün-mitregierten Länder und deren Veto-Recht im Bundesrat sehr wohl aktiv und machtvoll die Bundespolitik mitgestalten. Doch gleich beim ersten echten Härtetest ist dieser Hebel nun zerbrochen.
Das Desaster kam nicht wirklich überraschend. Kretschmann hatte mehrfach seinen Kompromisswillen in der Asylfrage angedeutet – Spitzenvertreter von Partei und Fraktion hielten derweil offen gegen, ein von namhaften Grünen lancierter Appell erhöhte den Druck zusätzlich.
Fraktionsstrategen verweisen nun auf zwei kaum versöhnliche Logiken, die bei diesen Verhandlungen aufeinandergeprallt seien. „Kretschmann will nicht als Grüner, sondern als Ministerpräsident Baden-Württembergs wahrgenommen werden“, sagt einer aus der Fraktion. Dieses Dilemma lasse sich nicht ganz auflösen. „Da bleibt ein Spannungsverhältnis.“
Doch gibt es auch erste Manöverkritik: Die Länder hätten sich überhaupt nicht erst auf Gespräche einlassen, sondern die Forderung nach mehr sicheren Herkunftsstaaten von Anfang an als Anti-Roma-Politik entlarven sollen. Die grüne Verhandlungsgruppe habe dem Kanzleramt viel zu geräuschlose Verhandlungen ermöglicht.
Leise Unterstützer
Irgendwo, zwischen der vielen Kritikern, findet man beim Freiheitskongress auch leise Unterstützung für den Ausreißer aus Stuttgart. Der Realo-Koordinator im Bundestag, Dieter Janecek, zögert einen Moment, ob es riskieren soll. „Das Wichtigste“, sagt er dann, sei doch, dass den Flüchtlingen geholfen werde. „Dafür kann dieser Kompromiss ein Schritt nach vorne sein.“
Auch Parteichef Cem Özdemir, selbst aus Schwaben, versucht den Kompromiss in ein besseres Licht zu stellen: Natürlich hätten sich viele in der Partei „noch mehr“ gewünscht – aber die Grünen sollten ihre Verhandlungserfolge „bei der von uns lange geforderten Abschaffung der Residenzpflicht und beim dringend benötigten Zugang zum Arbeitsmarkt nicht kleinreden“. Zumal das Problem nicht bei den Grünen zu suchen sei, sondern bei der Bundesregierung.
Da würden an diesem Freitag wohl viele Parteifreunde widersprechen.
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