Kommentar Türkeioffensive in Syrien: Mit zweierlei Maß gemessen
Wer sich über die Invasion der Türkei gegen Kurden empört, darf die Offensive von Assad in Idlib nicht vergessen. Menschenrechte sind unteilbar.
Z wei militärische Großoffensiven finden derzeit in Syrien statt, aber nur eine davon weckt internationale Aufmerksamkeit. Die eine ist der Angriff der Türkei auf das syrische Kurdengebiet Afrin. Nach jüngsten UN-Angaben sind mittlerweile bis zu 5.000 Menschen auf der Flucht. Die Kämpfe sind heftig, und wohin das alles führt, weiß niemand. Die diplomatischen Sorgen sind groß, die Empörung in der deutschen Öffentlichkeit und Politik noch größer.
Die andere Offensive ist die der syrischen Regierung gegen die letzten verbliebenen Rebellengebiete in der Provinz Idlib. Nach jüngsten UN-Angaben sind mittlerweile über 247.000 Zivilisten auf der Flucht. Die Menschen fliehen durch strömenden Regen unter wiederholten gezielten Luftangriffen des Regimes in die wenigen noch intakten zivilen Einrichtungen. Hilfe ist kaum möglich, die internationale Politik schweigt. In Deutschland nehmen Medien und Öffentlichkeit das Drama von Idlib kaum wahr, seit Beginn des Afrin-Kriegs überhaupt nicht mehr.
Der Vorwurf, es werde mit zweierlei Maß gemessen, klingt abgedroschen, aber in diesem Falle trifft er genau. 5.000 Menschen fliehen vor Erdoğan – das ist eine Schlagzeile. 250.000 Menschen fliehen vor Assad – das ist keine.
Man hat sich schon daran gewöhnt, dass Assads Verbrechen am eigenen Volk in weiten Teilen der linken deutschen Öffentlichkeit achselzuckend hingenommen und sogar systematisch angezweifelt werden. Da können noch so viele an Giftgas erstickte Kinder herumliegen und blutige Menschenfetzen aus Ruinen ragen – es wird sich immer in Deutschland jemand finden, der alles leugnet oder mit dem perfiden Satz „die Angaben sind nicht zu überprüfen“ ins Bodenlose relativiert. Bei Arabern und Assad will man lieber nicht Partei ergreifen. Bei Kurden und Erdoğan hingegen herrscht absolute Gewissheit, Gut und Böse sind klar verortet.
Wer erinnert sich noch an den einfachen Grundsatz: Menschenrechte sind unteilbar? Wer für Menschenrechte eintritt, kann nicht zu Afrin schreien und zu Idlib schweigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch