Kommentar Nahles' Rücktritt: Knapp vor der Staatskrise
Mit dem Abgang der SPD-Chefin kippelt die GroKo auf einmal gewaltig. Wer bei einer Neuwahl mit wem koalieren könnte, steht in den Sternen.
E s gibt Systeme, die sind lernfähig, und andere, die sind es nicht. Die SPD gehört offenbar zu Letzteren. Anders ist die Unbeirrbarkeit nicht zu erklären, mit der die Partei an dem Glauben festhält, ein immer schnellerer Wechsel an der Führungsspitze und ein immer schäbigerer Umgang mit Entmachteten käme beim Wahlvolk gut an. Das ist nicht der Fall, erfahrungsgemäß.
Andrea Nahles hat einen solchen Abgang nicht verdient, obwohl ihr Ränkespiele selbst nie fremd waren. Nicht einmal ihre grimmigsten Parteifeinde sprechen ihr Sachkompetenz ab, und nur wenige bezweifeln, dass ihr die Zukunft der Sozialdemokratie am Herzen liegt. Wer vor diesem Hintergrund über sie spricht, als sei sie eine Kindfrau, die sich von ihren Mädchenträumen nicht verabschieden kann, disqualifiziert sich selbst.
Nun ließe sich all das als internes Problem der SPD abtun – soll die doch ihr Personal verbrennen, wen kümmert’s? – , und sogar deren Sturz in die endgültige Bedeutungslosigkeit würde bei vielen Schadenfreude hervorrufen. Auch bei Linken und Liberalen. Die Sozialdemokratie hat sich eben überlebt. Neue Zeiten, neue große Zeiten.
Wenn es denn so einfach wäre.
Eine Regierung muss handlungsfähig bleiben. Das ist ein abgedroschener Satz, weshalb kaum jemand hinhört, wenn er fällt. Dennoch ist er wahr. Vor allem in Zeiten internationaler Verflechtungen.
Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht handlungsfähig. Wer hat denn ein Mandat für Verhandlungen innerhalb der Koalition? Die SPD steht führungs- und richtungslos in der Landschaft herum. Bei der Union sieht es kaum besser aus. Auch bei ihr ist die Führungsfrage ja völlig offen. Annegret Kramp-Karrenbauer war bei ihrer Wahl zur CDU-Parteivorsitzenden ein Kompromiss, also zum Erfolg verdammt. Der blieb aus. Nun wird sie kaum zur Kanzlerkandidatin gekürt werden. Aber wenn nicht sie: wer dann? Tja.
Neuwahlen? Ja, wahrscheinlich läuft es darauf hinaus. Die Grünen sind im Aufwind, stimmt. Aber 51 Prozent werden sie nicht bekommen. Unterdessen wird die Mehrheitsbildung zwischen demokratischen Parteien schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Die SPD hat jetzt bereits eine neue, noch immer so genannte „Große“ Koalition mit der Union ausgeschlossen. Nett. Vielleicht könnten alle jetzt noch einmal ausdrücklich betonen, wer mit wem unter keinen Umständen. Also, Lindner nicht mit Merkel und die CSU natürlich nicht mit der Linken … weitere Festlegungen werden folgen.
Deutschland steht knapp vor einer Staatskrise. Sehr knapp. Der Eindruck verstärkt sich, dass die politische Klasse das schlicht nicht zur Kenntnis nimmt. Oder dass es sie nicht interessiert. Der Vertrauensverlust der Öffentlichkeit ist so erstaunlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht