Kommentar Merkels Treffen mit Erdoğan: Verrat an türkischen Demokraten
Die deutsche Kanzlerin legitimiert den türkischen Präsidenten. Das ist der Preis dafür, dass Flüchtlinge die Türkei im Wahljahr nicht verlassen.
A m Donnerstag kommt Angela Merkel zum neunten Mal während ihrer Kanzlerschaft in die Türkei. Was immer sie mit diesem Besuch offiziell bezweckt, im Land selbst vermittelt er vor allem eine Botschaft: Recep Tayyip Erdoğan, der Mann, der sich gerade anschickt, die Türkei in eine finstere Autokratie zu verwandeln, ist für die wichtigste Regierungschefin der Europäischen Union ein honoriger Gesprächspartner.
Der Grundsatz, man könne sich in der Außenpolitik seine Gesprächspartner nun mal nicht aussuchen, ist in diesem Fall abwegig. Denn es ist Merkel, die in Ankara das Gespräch sucht. Es ist Merkel, die Erdoğan ihre Aufwartung macht – und das zu einem Zeitpunkt, in dem dieser Aufmerksamkeit aus Europa gut brauchen kann.
Schließlich steht Erdoğan kurz davor, das wichtigste Ziel seiner gesamten politischen Laufbahn zu erreichen und sich durch eine neue Präsidialverfassung die Alleinherrschaft in der Türkei zu sichern. Auch wenn die WählerInnen nach wie vor noch alle fünf Jahren einmal ihre Stimme abgeben dürfen, Sinn und Substanz der Demokratie werden mit der neuen Verfassung ausgehebelt. Mit ihrem Besuch legitimiert Bundeskanzlerin Merkel dieses Vorhaben und lässt ein weiteres Mal erkennen, dass ihr die Demokraten in der Türkei völlig egal sind.
Wie schon im Herbst 2015, vor der entscheidenden Wahl am 1. November, als Merkel mit einem Besuch kurz vor der Wahl Erdoğan entscheidende Reputationspunkte verschaffte, signalisiert sie mit ihrem heutigen Besuch erneut, dass ihr das Regime Erdoğans lieber ist als eine demokratische Alternative. Denn Merkel interessiert nur eins: Dass Erdoğan nicht im Wahljahr 2017 erneut Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa ziehen lässt. Dafür verrät sie die Demokratie in der Türkei.
Sie glaubt, wie auch die türkischen Erdoğan-Fans, dass nur das autoritäre Regime des Mannes mit seinen Wurzeln im politischen Islam die Stabilität der Türkei garantieren kann – angeblich die Voraussetzung dafür, dass der Nahe Osten nicht völlig kollabiert. Doch das Gegenteil ist der Fall. Erdoğan ist mit seinem Totalitarismus im Innern und seiner aggressiven Außenpolitik längst selbst zum Sicherheitsrisiko geworden. Vielleicht nicht mehr Merkel als Kanzlerin, aber Deutschland und Europa insgesamt wird das noch schmerzlich erfahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne