Kolumne Schlagloch: Nur nicht erwischen lassen
Die Brexiteers scheinen unter starken imperialen Phantomschmerzen zu leiden. Das macht ein Miteinander auf Augenhöhe unmöglich.
M it jedem weiteren Brexit-Tag erinnere ich mich mehr an meine Kindheit. An meine Zeit in einem englischen Internat in einer sehr englischen Kolonie: Kenia, eine sogenannte settler’s colony, weil sie nicht nur kolonial verwaltet, sondern auch besiedelt wurde. Ich habe meine Zeit dort genossen, auch wenn es eine merkwürdige Erfahrung war. Denn alles war importiert, sogar die Jahreszeiten. Unsere Trimester richteten sich aus an einem klimatischen Kalender, der keinen Bezug hatte zu dem Land, in dem wir uns befanden, denn in Kenia gab es keinen Herbst und kein Frühjahr und gewiss keinen Winter.
Natürlich war auch der Lehrplan importiert. Erst viel später habe ich begriffen, dass die historische Darstellung von entschiedener imperialer Einseitigkeit war: Siege gegen die Waliser, Siege gegen die Schotten, Siege gegen die Franzosen, Siege gegen die Iren. Wir saßen an unseren Pulten, umgeben von Jacaranda-Bäumen, studierten die Aufstellung der Armeen und die Finten der Generäle, und hatten uns darüber zu freuen, dass am Ende des geschichtlichen Kriegstages stets die Engländer gewannen – zumindest schien es so.
Am Ende meines ersten Schuljahres, als die Zeugnisse ausgeteilt wurden, erklärte der Klassenlehrer: „Wie könnt ihr zulassen, dass ein Ausländer besser ist als ihr?“ Der Ausländer, das war ich, die anderen Schüler offenbar Teil einer imperialen Einheit, auch wenn viele darunter Afrikaner und Inder waren. Ein Jahr später verkündete derselbe Lehrer: „Es gibt zwei Arten von Menschen, Engländer und solche, die es gerne wären.“ Worauf er lachte, so als sei es ein Witz, ein komplizenhaftes Lachen, das wohl zum Ausdruck bringen sollte: Wir tun so, als würden wir scherzen, aber – unter uns – genau so ist es.
Er gackerte eher, als dass er lachte, und das infantile Gackern des Boris Johnson erinnert mich stark an jenes meines Klassenlehrers. Auch er war Elite, wenn auch nur ein Reserverad, es hatte ihn aus unbekannten Gründen nach Kenia verschlagen. Auch er trug sein aristokratisches Charisma ungetrübt durch den schweißtreibenden Tag.
Historische Entwicklungshemmung
Stets herausgeputzt und mit einer Grimasse ins Komödiantische, um zu zeigen, dass Menschen seiner Herkunft und Haltung den Niederungen der kleinen Menschen entrückt sind. Als ich einmal bei der Übertretung einer der vielen strengen Regeln erwischt wurde, schimpfte er mich: „Du darfst dich nicht erwischen lassen.“ Und dann, auf Englisch wunderbar elliptisch: „You do can anything, if you can get away with it.“
Da haben wir die Maxime, nach der die führenden Köpfe der Brexit-Kampagne operieren. Wie der irische Publizist Fintan O’Toole in seinem lesenswerten Buch „Heroic Failure. Brexit and the Politics of Pain“ so treffend beschreibt, verkleidet sich der althergebrachte Rassismus dieser Klasse in die Sprache des Kindergartens. Wenn Boris Johnson von „flaggenschwenkenden Pikaninnies [Begriff aus der Sklavenzeit: „kleine Schwarze“] mit Wassermelonenlächeln“ spricht, einer seiner unzähligen rhetorischen Ausrutscher (die gerade keine sind), klingt es wie eine Formulierung aus einem alten Kinderbuch, das längst im Giftschrank des Ressentiments verschwunden ist.
Die Fahnenschwenker des Brexit scheinen unter historischer Entwicklungshemmung zu leiden oder unter starken imperialen Phantomschmerzen. Die eigene Größe ist eine Karte aus dem Schulatlas, auf der die Hälfte der Erde rosa oder blau angemalt war (ich kann mich an die Farbe nicht mehr erinnern). Und das eigene Wesen ist der vermeintliche nationale Charakter der Stärke („stiff upper lip“) und der Resilienz („take it on the chin and move on“).
Weswegen in letzter Zeit die harte, brutale, kompromisslose Trennung von der Europäischen Union in solchen Kreisen gefeiert wird als Chance, durch ein Tal der Leiden zu schreiten, um zu den alten englischen Qualitäten zurückzufinden. Auch das kenne ich von meinem Internat. Jeden Morgen Porridge, bei Regen Waldlauf und Schwimmen. Das war die Vorbereitung auf ein Leben im Luxus – früh „tough“ werden, um später regieren und dominieren zu können.
Bereit, einem kleptokratischen System zu dienen
Nur haben sich die Eliten inzwischen verändert. Zwar wurde auf der Insel gefeiert, dass sich vier englische Mannschaften in den zwei europäischen Finals gegenüberstanden, aber diese waren alles andere als „englisch“. Ich meine nicht nur die Spieler, die von überall her stammen, ich meine die Eigentümer der Klubs. Alle vier gehören Oligarchen, die nicht in England leben, Liverpool einem amerikanischen Investmentmanager, Tottenham Hotspurs einem Investor mit Wohnsitz auf den Bahamas, Chelsea dem russisch-israelischen Milliardär Roman Abramowitsch und Arsenal einem amerikanischen Tycoon und einem usbekisch-russischen Magnaten.
Diese neue Elite sieht in London, in England einen Vergnügungspark (und gelegentlich eine solide Investition), sie wurden von Boris Johnson hofiert, als er Bürgermeister der Hauptstadt war, er bot ihnen eine glokale Oase an. Wenn also der neue englische Nationalismus sich als Anti-Globalisierung inszeniert, dann kommt das zwar in den Schichten der Abgehängten und Marginalisierten gut an, es ist aber nichts weiter als ein Partygag.
Denn die drei oder vier stets schwertfuchtelnden Brexiteers, die sich als heiliger Georg inszenieren (auf einer Kirmes), sind nichts weiter als Butler für eine fresssüchtige Geldelite, der auf der Insel nicht nur die traditionellen Fußballvereine gehören, sondern auch ikonische Stadtpaläste (wie etwa Witanhurst Mansion) oder Teile des altehrwürdigen Oxford.
Weil der imperiale Phantomschmerz ein Miteinander auf Augenhöhe verunmöglicht (gemeinsame Entscheidungen auf EU-Ebene wurden verunglimpft als Erniedrigung oder gar Versklavung), sind diese Leute bereit, einem kleptokratischen System zu dienen, solange sie sich im nationalen Spiegel als frei und unabhängig aufplustern können. Und das ist nicht zum Gackern, das ist zutiefst tragisch.
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