Kolumne „Russia Today“: Uhhhh! Eine Schwalbe, aaiih!
Der von der Fifa zum WM-Song gekürte Titel „Live it up“ ist nicht zu retten, so schlecht ist er. Doch es gibt eine viel schönere Symphonie im Stadion.
Wer ein WM-Spiel im Stadion besucht, setzt sich massiver Lärmbelästigung aus. Bis zum Anpiff werden die Zuschauerinnen nicht in Ruhe gelassen. So laut dröhnt es aus den Boxen, dass man die Takte kaum auseinanderhalten kann. Meistens ist das gar nicht schlimm.
Den von der Fifa höchstselbst zum offiziellen WM-Song gekürten Titel „Live it up“ von Nicky Jam unter relativ talentfreier Mitwirkung eines gewissen Will Smith kann auch eine gute Tonqualität nicht retten, so unterirdisch ist er. Die von Hans Zimmer komponierte WM-Hymne hört sich derart nach Plastik an, dass man beim Hören gar nicht anders kann, als an die verschmutzten Weltmeere zu denken.
Was immer läuft, wenn die Spieler den Rasen betreten, ist der zur Grölhymne verkommene Song „Seven Nation Army“ von The White Stripes, bei dem sogar der ViP-Gast mit der gut gefüllten Sponsorentüte von Visa mitschreit. Das ist derart ohrenbetäubend ätzend, dass man in diesem Zusammenhang nur von Körperverletzung sprechen kann.
Doch dann, nach dem Countdown, der dem Anpfiff vorausgeht, beginnt etwas, dessen Schönheit sich kein Ohr entziehen kann. Es ist die Symphonie des Fußballs, die angestimmt wird. Die spezielle Atmosphäre eines WM-Spiels mit vielen Zuschauern, die sich keiner Mannschaft wirklich verpflichtet fühlen, schafft eine Atmosphäre, bei der das Spielgeschehen akustisch widerspiegelt wird.
Am Ende dröhnen die Stadionboxen
Die Zuschauer reagieren auf das Spielgeschehen. Ahhh! Ein Schuss. Ohhh! Daneben! Ahhhhhhhh! Ein langer Ball. Ah! Ah! Ah! Ah Ah! Eine Passstafette. Ohhh! Ah! Ein Eckball. Es ist wunderbares Konzert, das die Zuschauer da geben. Uhhhh! Eine Schwalbe. Aaiih! Ein Foul. Und dann das Crescendo. Ahhhh! In Block C ist frührer zu sehen, dass da ein Ball gefährlich vors Tor fliegt. Ahhhh!
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Dann kapiert Block D, was da los ist, während Block A und B erst reagieren, wenn sie die Wiederholung auf der Stadionleinwand sehen. Ahhhh! Und endlich schreien alle zusammen, dass es eine wahre Freude ist. AAAAHHHH! Das erste Tor als Schlussakkord im ersten Satz. Es war ein tolles Spiel bis dahin. Allegro.
Das WM-Publikum ist verschrien bei vielen Kurvenfreunden, vor allem aus der Ultra-Szene. Wer regelmäßig Ligaspiele besucht weiß, dass gerade die Kurve besonders stolz auf sich ist, die 90 Minuten lang durchsingt. Wie ätzend! 90 Minuten Stolz, mein Verein, ewige Treue und anderer Quatsch. Und das Spiel geht dabei völlig unter.
Auch bei der WM geht die Symphonie bisweilen unter. Wenn die mexikanische Welle durch's Stadion getrieben wird, ist Schluss mit guter Musik. Gut, dass die La Ola meistens schnell versandet. Dann geht die Symphonie weiter mit dem zweiten Satz. Das Spiel hat sich beruhigt: Andante. Dann wird es wieder schneller und macht richtig Spaß: Scherzo. Und wenn das Spiel die perfekte Dramaturgie hat, gibt's als Schlusssatz noch ein Presto. Dann ist der Spaß vorbei. Es dröhnt wieder aus den Stadionboxen. Und doch bleibt manche Symphonie unvergessen.
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