Kolumne Russia Today: Danke, Fifa!

Fährt man eine Stunde mit der Elektritschka, den Vorortzügen Russlands, erfährt man mehr über das Land, als in einem Reiseführer steht.

Bahngleise in der Nähe eines Meeres

Trinken ist heute strengstens verboten in den Zügen Russlands Foto: dpa

Der vielleicht größte Vollrausch der Literaturgeschichte spielt in der S-Bahn von Moskau nach Petuschki. Elektritschka heißen die meist arg langsamen Vorortzüge, mit denen die Menschen zur Arbeit in die Stadt oder an Wochenenden aus der Stadt raus zu ihrer Datscha fahren. „Die Reise nach Petuschki“ heißt die Erzählung von Wenedikt Jerofejew, in der sich die Hauptperson derart zurichtet, dass sie ihre Gedanken nicht mehr unter Kontrolle bekommt. Vielleicht wurde die Sowjetunion nie treffender dargestellt als durch die scheinbar wirren Gedanken, die dem Suffkopf Wenja bei seiner Fahrt in den 1970er Jahren kommen.

Der besoffene Text, der in der nüchternen Sowjetunion der 1970er Jahre nicht erscheinen durfte und dennoch seine Leser fand, weil illegale Kopien von Hand zu Hand wanderten, gilt längst als ein Stück Weltliteratur. Er hat die Elektritschka berühmt gemacht. Und in der Tat ist es bis heute so, dass man nur eine Stunde S-Bahn zu fahren braucht, um mehr über Russland zu erfahren, als in einem Reiseführer steht.

Trinken ist heute strengstens verboten in den Zügen. Und natürlich laufen bei fast jeder Fahrt Polizeibeamte durch die Züge. Die Mütterchen, die früher die Beeren, die sie am Tag im Wald oder auf ihrer Datscha gesammelt hatten, unter die Leute zu bringen versuchten, dürfen auch nichts mehr feilbieten in der Elektritschka.

Der Mann, der durch die Waggons geht, um den Leuten „original Schweizer Rucksäcke“ zu viel zu günstigen Preisen anzupreisen, von denen er ein paar Exemplare in einer Nylontasche mit sich führt, schert sich nicht um das Hausiererverbot in der S-Bahn. Er muss eben von irgendetwas leben.

Der Fußball hat uns wieder, gottlob!

Dann erschallt seichteste Schlagermusik und ein junger Mann singt in ein Mikrofon von Liebe, Herz und Schmerz. Er macht das so gut, dass viele Frauenherzen in der S-Bahn zumindest so weit abschmelzen, dass sie nicht mehr anders können, als ihm ein paar Rubel zuzustecken. Kaum hat er mit seiner kleinen Box den Wagen verlassen, bettelt sich ein Mann ohne Arme durch die Sitzreihen.

via iTunes, Spotify oder Deezer abonnieren

Und gerade, als man beginnt sich zu fragen, wie er zu seiner Behinderung gekommen ist, bauen sich vier Männer in Tarnklamotten auf und geben einen Schlager zum Besten, um auf ihre prekäre Lage hinzuweisen. Es sind Kriegsversehrte, die den Reisenden vor Augen führen, dass ihr Land nicht in Frieden lebt.

Nach einer Stunde marschiert ein Mann durch die Reihen, um hochoffizielle, von der Fifa lizenzierte Aufkleber mit Bildern von Spielern der russischen Nationalmannschaft zu verkaufen. Der Fußball hat uns wieder, gottlob! Da hätten wir doch beinahe schon gedacht, in Russland sei doch nicht alles so schön, sauber, wunderbar und seligmachend, wie es uns die Bilder aus Stadien und Fanzonen vermitteln.

Doch da werden wir zurückgeholt in den wunderbaren Fußball-Kosmos. Danke, Fifa!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.