Kolumne Russia Today: Journalismus auf Knien
Es ist ein wildes Armfuchteln, Aufspringen, Aufschreien, Außersichsein: Wie die südamerikansche Presse ganz ehrlich subjektiv berichtet.
M eine Nachlässigkeit verhalf mir zu dem besonderen Platz und der besonderen Perspektive. Um ein paar Minuten hatte ich die Akkreditierungsfrist für die Partie zwischen Uruguay und Portugal verpasst. Und so bekam ich nicht wie sonst üblich einen Tisch in dem Pulk deutscher Kollegen zugewiesen. Über die Warteliste gelangte ich in den Ultrafanblock der südamerikanischen Journalisten.
Grundsätzlich lässt sich nur schwer behaupten, die Pressetribünen in den WM-Stadien Russlands wären ein Hort der Objektivität. Ein gewisses Bemühen darum kann man jedoch schon feststellen. In den Reihen der lateinamerikanischen Kollegen dagegen halten sich die Anstrengungen um Sachlichkeit sehr in Grenzen.
Wie ein lebloses Phlegma muss ich ausgesehen haben inmitten dieser Kollegen, deren Körper von gewaltigen Energien unter Strom gesetzt wurden. Es war ein wildes Armfuchteln, Aufspringen, Aufschreien, Außersichsein.
Als das Team von Uruguay sein erstes Tor erzielte, warf sich einer der Berichterstatter auf die Knie, streckte beide Hände aneinandergelegt gen Himmel und schrie seine ganze Anspannung heraus. Es dauerte. Vor lauter Dankbarkeit wollte er vom harten Betonboden gar nicht mehr aufstehen.
In Deutschlands Journalistenschulen wird bis heute darüber diskutiert, wie denn das berühmte Neutralitätsgebot zu verstehen ist, das Hanns Joachim Friedrichs einst so formulierte: „Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.“ Und es wird darüber debattiert, wie frei und objektiv man wirklich sein kann.
Das Subjektivitätsgebot
Im Stadion von Sotschi bekommt man eine recht sicheres Gespür dafür, wie eine solche Debatte unter südamerikanischen Sportjournalisten enden würde. Das Gegenteil würde für richtig erklärt werden. Es würde ein Subjektivitätgebot formuliert werden: „Ein guter Journalist macht sich mit einer guten Sache – wie etwa dem eigenen Nationalteam – immer gemein.“ Zu loben daran ist die Transparenz. Wer die Berichte dieser Reporter kauft, weiß, was er bekommt.
Im WM-Abseits: „Buterbrod und Spiele“
Das Subjektivitätsgebot ist jedoch kein lateinamerikanisches Ding. Die Medienkritik einiger deutscher Nationalspieler während dieser WM rührt ebenfalls aus dem Verständnis heraus, dass Spieler und Berichterstatter eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Schließlich reist man ja seit Jahren gemeinsam um die Welt.
Dieses Näheverhältnis lässt auch manchen deutschen Sportjournalisten wie einen Fan erscheinen, selbst wenn sie sich bemühen, sich wie neutrale Journalisten zu benehmen. Das ist weniger transparent. Gewiss dagegen ist: Sollten Uruguay am Freitag gegen Frankreich gewinnen, werden die Landsleute auf der Pressetribüne in Nischni Nowgorod aus ihrer Freude nicht den geringsten Hehl machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Umwälzungen in Syrien
Aufstieg und Fall der Familie Assad
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“