Kolumne Die eine Frage: Moralismus ist die schlimmste Droge
Brauchen die Grünen Moralisten? Grundsätzliches zum „Fall“ Volker Beck und die Grundsünde zu denken, dass man ein besserer Mensch sein müsse.
Die Grünen brauchen Moralisten. Das sagt nicht nur der SZ-Leitartikler Kurt Kister, das glauben auch wirklich realitätsorientierte Spitzengrüne. Ohne Moralisten, so geht der Gedanke, wären sie nicht mehr singulär, denn gegen Atomkraft und für Schwulenehe seien ja andere längst auch.
Ein fataler Irrtum. Kein Mensch braucht Moralisten. Die Politik schon gar nicht. Moralismus ist die schlimmste Droge überhaupt, ist anti-gesellschaftlich und macht politikunfähig, weil er davon ausgeht, in der Politik gehe es um die absolute Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen. In einer Demokratie geht es aber um das Gewinnen von Mehrheiten für eine politische Lösung. Das ist der große Schritt, den die Menschheit mit der Aufklärung getan hat. Das ist der Schritt, den manche Grüne bis heute nicht nachvollzogen haben. Wenn ein Grüner Moralist seinem handlungsverantwortlichen Parteifreund vorwirft, er habe moralische „Ideale“ für „einen Appel und ein Ei verkauft“, dann ignoriert er schlicht die Realität: Ideale können nicht demokratisch umgesetzt werden.
Selbstverständlich braucht eine sozialökologische Politik eine moralische Basis und Orientierung. Aber die hat eine christ- oder sozialdemokratische auch. Die Grundsünde der Grünen war es, sich von anderen aufschwatzen zu lassen oder gar selbst zu denken, sie müssten bessere Menschen sein. Das kann nur falsch sein.
Sie müssen das bessere sozialökologische Politikangebot machen. Und dafür Mehrheiten gewinnen und bewahren.
Fünf Jahre Grün-Rot in Baden-Württemberg. Läuft der Laden weiter? Wie sich das „Ländle“ nach dem Machtwechsel entwickelt hat – und von wem die Menschen repräsentiert werden möchten. Zehn Sonderseiten zur Landtagswahl in der taz.am wochenende vom 5./6. März. Außerdem: Unser Leben wird immer mehr von Algorithmen beeinflusst. Müssen wir anfangen, ihnen Ethik beizubringen? Und: Vor fünf Jahren explodierte das Kernkraftwerk Fukushima. Die Anwohner wurden evakuiert. Wie ist es, zurückzukehren? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Merkel ist nicht moralisch geworden
Der Grundirrtum mancher linksgrünen Begeisterung über die CDU-Kanzlerin Merkel liegt darin, ihr zu unterstellen, sie sei auf ihre alten Tage endlich auch moralisch geworden. Das wäre furchtbar, denn dann wäre auch sie politikunfähig. Merkel hat offenbar eine Überzeugung, wie man als Teil der EU und der Welt mit der globalen Flüchtlingsbewegung umgehen muss. Verglichen mit den meisten europäischen Staaten hat sie einen hohen moralischen Standard. Aber was zählt ist, was sie durch politische Kompromisse und Deals politisch umsetzen kann. Man muss sich für eine gemeinsame planetarische Zukunft mit Leuten einlassen, mit denen man lieber nichts zu tun hätte. Für uns sind andere der Teufel, für andere sind wir der Teufel. Das ist die moralische Realität.
Was nun den Grünen Spitzenpolitiker und Obermoralisten Volker Beck betrifft, den die Polizei mit der harten Droge Crystal Meth erwischt hat. Es hat etwas Unsouveränes, wie die Grünen sich dazu verhalten. „Ein tragischer Einzelfall“? Solche Kommentierungen wünscht man wirklich niemand.
Es ist letztlich reaktionär, dem heutigen CSU-Vorsitzende Horst Seehofer eine polyamore Zwei-Familien-Realität als Verpassen seiner Ideale vorzuwerfen. Stattdessen soll er seine Politik der Realität anpassen. Und genauso hat es etwas Unaufgeklärtes, Beck jetzt vorzuhalten, gerade ihm als Moralisten hätte das nicht passieren dürfen.
Falsch. Moralisten passiert so etwas auch. Das ist nicht das Problem, das ist die Wirklichkeit, in der wir alle unsere moralischen Ansprüche und unser Handeln ausbalancieren müssen.
Wir brauchen keine Robespierres, für deren Moral die Köpfe rollen. Aber wir brauchen auch keine rollenden Köpfe von Moralisten. Und schon gar nicht brauchen wir scheinheilige Moralansprüche an Politiker.
Ein Mensch, der einen juristisches Problem hat, soll seine Strafe zahlen oder abbüßen. Ein Mensch, der ein persönliches oder gesundheitliches Problem hat, soll sich Zeit nehmen, um zu regenerieren. Und dann soll er wiederkommen und weitermachen. Da Politiker Menschen sind, gilt das selbstverständlich auch für sie. Das ist gelebte, aufgeklärte Moral.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch