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Kollabierte Armee in AfghanistanDas Kartenhaus

In Afghanistan sollten Armee und Polizei das Land gegen die Taliban verteidigen. Im entscheidenden Moment implodierten sie. Wie konnte das passieren?

Noch im Juli 2021 erhielten Soldaten der „Special Forces“ feierlich ihre Ernennnungsurkunde Foto: Rahmat Gul/ap

Selbst die Taliban waren überrascht, wie schnell am Ende alles ging. „Wir wollten Kabul noch nicht einnehmen“, sagte ihr Sprecher Saibihullah Mudschahid bei seiner ersten Pressekonferenz am Dienstagabend in Kabul. „Unsere Kämpfer sollten eigentlich vor der Stadt bleiben.“

Doch als am vergangenen Sonntag Präsident Aschraf Ghani geflohen war, die Regierung zusammenbrach und in der Stadt Chaos drohte, zogen die Taliban in Kabul ein. Noch Tage zuvor waren westliche Geheimdienste davon ausgegangen, dass die Regierungstruppen die Hauptstadt noch Monate oder wenigstens Wochen halten würden. Stattdessen fiel Kabul innerhalb von Stunden – kampflos.

Militär, Polizei und Bewohner hatten jede Motivation verloren, das eigene Leben zu riskieren. So hatten die militanten Islamisten zuvor schon auf ähnliche Art etliche Provinzhauptstädte in wenigen Tagen einnehmen können. Afghanistans Regierungstruppen sind regelrecht implodiert.

Dabei hatten allein die USA seit 2001 mehr als 83 Milliarden US-Dollar in Ausrüstung und Ausbildung des afghanischen Militärs gesteckt. Im Unterschied zu den Gotteskriegern verfügte die Armee über moderne Waffen, darunter eine kleine Luftwaffe, Drohnen, Präzisionsgewehre und Nachtsichtgeräte.

Washington zahlte den offiziell rund 180.000 afghanischen Soldaten und 120.000 Polizisten sogar Sold und Gehalt. Zwar gab es auch einige tausend „Geistersoldaten“, die nur auf dem Papier existierten und deren Sold andere kassierten. Manche waren auch längst desertiert. Aber die Taliban wurden lange auch nur auf 80.000 Mann geschätzt.

Ein Abkommen, das viele demoralisierte

Das von dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump im Februar 2020 in Doha mit den Taliban geschlossene Abkommen sah vor, dass nach dem vereinbarten Abzug des US-Militärs Afghanistans Armee und Polizei allein die Taliban in Schach halten sollten. Doch das Abkommen, an dem Kabul nicht beteiligt wurde, demoralisierte viele Afghan*innen, die Zweifel an ihrer Regierung und ihren bewaffneten Kräften hatten.

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Bei den Taliban hingegen stärkte es die Moral. Sie konnten erstmals sicher sein, dass die Zeit für sie arbeitete und sich ihre strategische Geduld lohnen würde. Erstmals seit 2001 war für sie ein Sieg greifbar. Nach einer baldigen Reduzierung der US-Truppen gingen die Taliban laut Recherchen der Washington Post unter dem Deckmantel lokaler Friedensgespräche zunächst in Dörfern und Distrikten auf Funktionsträger zu und forderten sie auf, an ihre Zukunft und ihre Familien zu denken.

Während die Taliban mit der Regierung nie ernsthaft verhandelten, boten ihnen Gespräche mit Stammesältesten, Beamten, Militär- und Polizeikommandeuren in den Distrikten die Chance, Kapitulationsangebote zu machen und ihnen mit Drohungen Nachdruck zu verleihen.

„Die Taliban konnten mithilfe innerethnischer, religöser und ideologischer Differenzen Menschen auf ihre Seite ziehen und dabei noch von deren Enttäuschung über die Regierung profitieren“, sagte Saad Mohseni vom bisher einflussreichsten afghanischen Medienhaus Moby Group der New York Times. Zugleich bauten die Taliban ihre Macht im Untergrund aus und verstärkten ihre Angriffe.

Eine Rette-wer-sich-kann-Dynamik

Trotz Trumps Vereinbarung blieb ein US-Abzug für viele Af­gha­n*in­nen zunächst aber noch unvorstellbar. Die Amerikaner, die am Hindukusch so viel Geld investiert und Menschenleben verloren hatten – und die ja dort auch weiter strategische Interessen hatten, würden nicht einfach abziehen. So der verbreitete Glaube.

Als US-Präsident Joe Biden im April den bedingungslosen Abzug bis zum 11. September verkündete und später sogar noch vorzog, war das für viele ein Schock. Damit verloren die afghanischen Streitkräfte ihre Korsettstangen. Bisher hatte die US Air Force als Back-up der afghanischen Armee gedient. Jetzt setzte eine Rette-sich-wer-kann-Dynamik ein, die auch die Korruption noch weiter anheizte. Zugleich gingen die Taliban in die militärische Offensive und verstärkten Angebote und Drohungen: „Wenn du den Widerstand gegen uns aufgibst, lassen wir dich am Leben. Gibst du uns deine Waffen, zahlen wir dir sogar Geld. Kämpfst du weiter, töten wir dich und deine Familie“, lautete der Tenor.

Dies fruchtete bei vielen, die nicht an den Staat und die Regierung glaubten. Warum sollten sie jetzt noch für eine verloren scheinende Sache ihr Leben riskieren? Sie hatten zum Teil schon lange keinen Sold bekommen oder wurden mit wachsender Kontrolle der Überlandstraßen durch die Taliban nicht mehr mit Waffen, Munition und Lebensmitteln versorgt. So erschienen die Angebote der Taliban immer attraktiver. Als andere Alternativen blieben: die Uniform zu verbrennen, unterzutauchen oder zu fliehen.

Vor allem bei lokalen Einheiten sank die Kampfbereitschaft stark – erst recht, wenn sie merkten, dass in der Nachbarregion oder von Vorgesetzten den Taliban schon nachgegeben worden war und damit der eigene Kampf riskanter wurde. Nach einer Aufstellung des amerikanischen Lang War Journal hatten die Taliban am 13. April von den 388 Distrikten 77 eingenommen, am 16. Juni bereits 104 und am 3. August 223.

Anschläge auf Piloten, kein Pardon bei Spezialkräften

Ein Problem für die Gotteskrieger war Afghanistans professionelle Elitetruppe, die rund 10.000 Mann zählte. Sie wurden für schwierige Missionen quer durch das Land geschickt, oft um Orte von den Taliban zurückzuerobern. Doch kaum zogen die Special Forces weiter, gaben die lokalen Sicherheitskräfte, die eine Rückkehr der Taliban verhindern sollten, unter neuem Druck schnell wieder auf.

Die Elitetruppe und die Piloten der kleinen, aber für die Taliban gefährlichen Luftwaffe, waren deren militärische Hauptgegner. Mit gezielten Anschlägen schalteten sie einzelne Piloten aus. Denn diese können nicht schnell ersetzt werden.

Und gegenüber den Spezialtruppen gab es kein Pardon. Als im Juni eine Eliteeinheit kapitulieren musste, weil ihr beim Kampf in dem Dorf Dawlat Abad in der Nordprovinz Faryab die Munition ausgegangen und die angeforderte Luftunterstützung ausgeblieben war, wurden die 22 Soldaten exekutiert, wie ein von CNN enthülltes Video zeigte.

Derweil wirkte die Regierung inkompetent und planlos. Präsident Ashraf Ghani hatte sich zunehmend isoliert, er wirkte wirklichkeitsfremd. Er vermochte weder den Sicherheitskräften das Gefühl zu geben, dass die Regierung sich um sie kümmere, noch konnte er die Bevölkerung gegen die Taliban mobilisieren. Bis zum Schluss war die Regierung nicht fähig zu klären, welche Städte und Provinzen sie halten und welche sie aufgeben wollte.

Kämpfer aus Pakistan

Die Taliban hingegen hatten nicht nur eine klare Ideologie, sondern auch eine für die Regierung überraschende Strategie. Sie konzentrierten sich anders als erwartet bei ihren Angriffen zunächst auf den Norden. Dort leben weniger Paschtunen – die Hauptethnie der Taliban, weshalb sie sich dort schwergetan hatten. Doch jetzt gelang es ihnen, die Unzufriedenheit mit der Regierung auszunutzen und durch massive Angriffe zu verhindern, dass sich dortige Warlords, die um Macht und Pfründen konkurrieren, wieder zu einer Al­lianz zusammenschließen konnten.

Die laut US-Berichten um mehrere tausend Kämpfer aus Pakistan verstärkten Taliban übernahmen so immer mehr die Kontrolle über die Überlandstraßen. Das machte die Verbindungen zwischen den von der Armee gehaltenen Gebieten schwieriger. Derweil konnten die Taliban immer mehr Wegezölle kassieren.

Dann nahmen sie fast alle Grenzübergänge ein, womit der Regierung wichtige Einnahmen fehlten, die jetzt bei den Taliban landeten. So hatten die Taliban eine lawinenartige Dynamik erzeugt, die weniger auf massiven militärischen Kämpfen basierte als auf psychologischer Kriegsführung und politischen Schachzügen. Und die von gezielten Terroranschlägen und der Angst davor begleitet wurde.

„Psychologischer Krieg“

„Keine Region wurde als Ergebnis eines Kampfes verloren, sondern als Folge des psychologischen Krieges“, sagte der frustrierte afghanische Brigadeneral Abba Tawakoli der New York Times.

Nach mehr als 40 Jahren Krieg in Afghanistan zählt es dort zu den Überlebensstrategien, rechtzeitig zu kapitulieren, zum Sieger zu wechseln oder in der Bevölkerung abzutauchen. Schon beim Sturz des damaligen Taliban-Regimes 2001 verhielten sich etliche ihrer Einheiten angesichts der gegnerischen Übermacht so. Damals kursierte das Sprichwort: „Afghanen kann man nicht kaufen, sondern nur mieten.“

Westliche Besserwisserei ist aber fehl am Platz. Schließlich konnten auch die USA trotz Obamas Aufstockung von 30.000 auf 100.000 US-Soldaten plus weitere 20.000 Nato-Soldaten von 2009 bis 2011 die Taliban militärisch nicht besiegen, vielmehr haben sie die Hoffnungen vieler Af­gha­n*­in­nen verspielt. Auch gut ausgebildete westliche Militärs und Politiker sind an der Komplexität des Konfliktes gescheitert.

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10 Kommentare

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  • Vielen Dank für die informative politische Analyse. Leider fehlt ein wichtiger Punkt. Warum ist die Implosion von Armee und Polizei nicht vorhergesehen worden? Afghanistan war doch überfüllt mit ausländischen Organisationen und Geheimdiensten!

    Systemische Korruption macht blind für die politische und soziale Situation eines Landes. Dies gilt für Afghanistan wie Libanon und andere Teile unserer Welt. Diese systemische Korruption wurde von Anfang an normalisiert und akzeptiert mit gutem Profit für einige wenige im System.

  • .....an der Komplexität des Konflikts gescheitert.

    Punkt und aus,



    so einfach ist der Konflikt Afghanistan umfassend berichtet und beschrieben.

    Die letzten 6 Wörter mehr braucht ein guter zutreffender Artikel nicht.

  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Was ich mich frage wie ist die Stimmung unter den NATO Soldaten? Wären die bereit gewesen zu bleiben damit nicht alles kollabiert? Die haben ja mit den Afghanen Seite an Seite gekämpft (ca. 5000 NATO und 50.000 Afghanische Soldaten sind in 20 Jahren gefallen), wieviele hätten gesagt lasst uns nochmal 20 Jahre bleiben und den Job zu Ende bringen, bis neue Generationen an Afghanen die Korruption in den Griff kriegen?

    • @83379 (Profil gelöscht):

      Sprechen Sie doch mit Soldaten oder lesen Sie sich Berichte aus den letzten 20 Jahren durch. Die meisten reden oder schreiben sich gerne den Frust von der Seele. Der Tenor ist immer gleich: Der "Job" hatte nie Aussicht auf Erfolg. Die meisten afghanischen Soldaten waren bereits mangels Loyalität ungeeignet. Häufig hört oder liest man dann etwas wie: Sie stahlen Ausrüstung oder ließen ihre Waffen bei Übungen fallen und flohen, wenn etwas explodierte. Bauern meldeten selbstgebaute "Taliban-Verstecke" auf ihrem Grundstück, um die Reste der darauf gefeuerten Raketen zu verkaufen. Die Korruption durchzieht das ganze Land auf allen Ebenen. Wem man sich verbunden gegenüber fühlte, sind die Ortskräfte. Die eigenen Führungskräfte wollten nichts davon hören, dass die Mission keine Aussicht auf Erfolg hatte.

      Also nein, den Kampf fortsetzen wollte kaum jemand.

  • Wenn eine Armee mit 300.000 Mann unter Waffen so einfach umfällt, dann muss keine westlicher Soldat hier sein Leben riskieren. Dass diese Armee am Ende nur eine Sozialhilfe für die afghanische männliche Bevölkerung war, ist wirklich bitter.

  • 1G
    164 (Profil gelöscht)

    Wenn wir ehrlich sind, dann sahen die „Special Forces“ der afghanischen Armee schon im Juli nicht gut aus mit ihren hohlen Wangen!

  • Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wieder einmal hat sich dieser uralte Spruch bewahrheitet.

  • „Washington zahlte den offiziell rund 180.000 afghanischen Soldaten und 120.000 Polizisten sogar Sold und Gehalt“



    Diese Darstellung ist nicht vollständig und damit nicht korrekt. Denn „Washington“ gab den Soldaten und Polizisten den jeweiligen Betrag nicht persönlich in die Hand. Das Geld ging über soundso viele Stellen zu den Zahlungsempfängern. Jeder Stelleninhaber dürfte in alter Gewohnheit etliche % für sich abgezweigt haben. Kein Wunder, dass der verbleibende Nettobetrag die Kampfmoral der Zahlungsempfänger nicht förderte!

  • "Schließlich konnten auch die USA trotz Obamas Aufstockung von 30.000 auf 100.000 US-Soldaten plus weitere 20.000 Nato-Soldaten von 2009 bis 2011 die Taliban militärisch nicht besiegen". Diese Darstellung ist falsch. Es war nicht genügend politischer Wille vorhanden, die militärischen Mittel einzusetzen und die Operationen durchzuführen, die für so einen Sieg notwendig gewesen wären. Alle westlichen Staaten - auch Großbritannien und die USA - hatten Angst vor der Reaktion der eigenen Bevölkerung, wenn man diese Mittel eingesetzt und die notwendigen Operationen durchgeführt hätte. Das hätte nämlich bedeutet, alle notwendigen Einheiten für ein militärisches Gefecht in entsprechender Stärke ins Einsatzgebiet zu verlegen, Verluste in Kauf zu nehmen und - vor allem - hätte es bedeutet, den Konflikt auch ggf. auf pakistanisches Gebiet zu verlagern, um Nachschub an Personal und Material für die Taliban abzuschneiden. Zu all dem war man nicht bereit. Mit den eingesetzten Mtteln und der gewählten Strategie war ein vollständiger militärischer Sieg nicht zu erreichen. Dann ist es auch logisch, irgendwann diesen Einsatz zu beenden.

  • Das Erschütternde ist, dass wir die Afghaninnen und Afghanen nach unseren Wertmaßstäben erziehen wollten, ohne deren kulturelle und religiöse Traditionen zu achten. Das kann man Paternalismus nennen, oder auch geistigen Kolonialismus. Nun zeigt sich, dass man Menschen nie überzeugen wird, wenn man ihnen Respekt verweigert.