Koalition in Österreich: Grüne in der Moria-Falle
Die Koalition mit der ÖVP von Kanzler Kurz treibt Österreichs Grüne in eine Identitätskrise. Das zeigt sich vor allem in der Flüchtlingspolitik.
G anze 100 Kinder aus Moria. Soll man eine symbolische Anzahl unbegleiteter Minderjähriger aus dem griechischen Flüchtlingslager aufnehmen oder nicht? An dieser Frage schärfen die Koalitionspartner ÖVP und Grüne derzeit ihr Profil.
Die Grünen appellieren an das Gewissen und fordern eine humanitäre Geste. Von Gewissen spricht auch Kanzler Sebastian Kurz, der bei der ÖVP die Linie vorgibt: Er könne die Aufnahme von Flüchtlingen nicht mit seinem christlichen Gewissen vereinbaren. In seiner Logik würde die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitglieder nur dazu führen, dass sich das geleerte Lager auf Lesbos sofort mit neuen Asylsuchenden füllen würde. Man würde also nur weiteren Menschen Hoffnung machen, dass sie in Europa eine Zukunft haben, und damit das Geschäft der skrupellosen Schlepper befördern.
Nicht alle in der ÖVP denken so. Immerhin war die Österreichische Volkspartei ursprünglich die Heimat katholischer Bauern, konservativer Wirtschaftstreibender und aufgeklärter Bürgerlicher. Seit Sebastian Kurz das Erfolgsrezept entdeckt hat, der rechten FPÖ das Wasser abzugraben, indem sie deren dumpfe Parolen etwas netter umformuliert, sind diese bürgerlichen Stimmen großteils verstummt. Und die Umfragen bestätigen, dass der harte Kurs gegen Flüchtlinge bei der Bevölkerung ankommt.
Die ÖVP liegt seit Monaten solide drei bis fünf Prozentpunkte über ihrem Ergebnis bei den Nationalratswahlen vor einem Jahr. Deswegen haben es die Grünen auch aufgegeben, weitere Appelle an den Koalitionspartner ergehen zu lassen. Vor den Wahlen in Wien vom 11. Oktober, bei denen die ÖVP ihren Stimmenanteil auf Kosten der durch Ibiza und Spendenskandale geschwächten FPÖ verdoppeln will, ist mit einem Abgehen von den „Grenzen dicht“-Parolen nicht zu rechnen.
Kein Herz für Geflüchtete
Da kann der Künstler André Heller noch so eindringlich an den „Sozialrevolutionär Jesus Christus“ erinnern und aus dem Evangelium zitieren, „was ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan“, um das katholische Herz des Kanzlers zu erweichen. Da hilft es nichts, dass ÖVP-Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sich bereit erklären, Flüchtlingsfamilien aufzunehmen und selbst die katholische Bischofskonferenz an die Regierung appelliert, Nächstenliebe gegenüber den Geflüchteten zu üben.
In Österreich wagt es fast niemand, die Verteilung der mehr als 12.000 in Lesbos gestrandeten Flüchtlinge zu fordern. Es ist immer nur von Kindern, vorzugsweise solchen ohne Begleitung, zu reden. Von der völkerrechtlichen Verpflichtung, Asylsuchende vor Krieg oder Verfolgung zu schützen oder dem menschenrechtlichen Gebot, entrechteten Menschen ihre Würde zurückzugeben, ist nicht die Rede. In der Annahme, die ablehnende Stimmung im Land könne man nur mit dem Leiden unschuldiger Kinder umdrehen, haben die Proponenten einer Aufnahme den Menschenrechtsdiskurs weitgehend aufgegeben.
Aber auch der Appell ans Herz greift nicht mehr. Eine ÖVP-Innenministerin hatte einst noch Empörung hervorgerufen, als sie versicherte, sie würde sich von den Rehleinaugen einer 15-jährigen Schülerin, die vor der drohenden Abschiebung untergetaucht war, nicht beeindrucken lassen. Das Abfackeln des Lagers Moria durch verzweifelte Bewohner liefert jetzt auch das wohlfeile Argument, dass man Gewalttäter nicht belohnen wolle.
Natürlich hat der Kanzler auch recht, wenn er sagt, einem derzeit unbegleiteten Kind würden bald Verwandte folgen. Aber was spricht dagegen, eine Familie statt eines Waisenkindes aufzunehmen? Und der Pull-Effekt ist unter Migrationsforschern äußerst umstritten. Die meisten halten den Push-Effekt, der Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, für weit mächtiger.
Die Grünen erfahren in der Regierungsarbeit jeden Tag schmerzlich, was es heißt, einem fast dreimal so starken Koalitionspartner ausgeliefert zu sein. In den Regierungsverhandlungen hat sich Kurz sogar eine Klausel ausbedungen, die es ihm erlauben würde, sich in der Migrationsfrage andere Mehrheiten zu suchen, wenn es keine Einigkeit geben sollte. In der Praxis heißt das: Wenn ihr nicht willig seid, dann holen wir uns die FPÖ. Die Grünen müssen sich immer wieder von den Oppositionsparteien SPÖ und Neos provozieren lassen, wenn diese wortwörtlich aus dem Parteiprogramm der Grünen übernommene Passagen zur Abstimmung bringen und dann die Abgeordneten der Ökos verhöhnen, wenn diese aus Koalitionsdisziplin dagegen stimmen müssen.
Das bleibt nicht ohne Folgen an der grünen Basis, die zusehends erodiert. Hatte die grüne Regierungsbeteiligung anfangs eine zurückhaltende Euphorie ausgelöst, so macht sich jetzt Ernüchterung breit. Sechs Monate lang hatte das nüchterne Management der Coronakrise durch Gesundheitsminister Rudolf Anschober den Grünen steigende Umfragewerte beschert, so liegen sie jetzt nur mehr beim Wahlergebnis von 14 Prozent. Die zeitweise hinter ihnen rangierende SPÖ hat sich erholt und selbst die FPÖ droht wieder an ihnen vorbeizuziehen.
Immer mehr Basis-Grüne fordern den Bruch der Koalition, der die ständige Selbstverleugnung beenden soll. Das will von den Regierungsmitgliedern und Abgeordneten niemand. Sie verweisen wohl zu Recht darauf, dass die ÖVP ohne Wimpernzucken wieder die FPÖ ins Boot holen und eine noch unmenschlichere Politik durchziehen würde.
Um den Koalitionspartner bei Laune zu halten, hat die ÖVP zumindest den Auslandskatastrophenfonds von 25 auf 50 Millionen Euro verdoppelt und gleich eine Lieferung von 55 Tonnen Hilfsgütern wie beheizbare Zelte für ein neues Lager nach Athen gebracht. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) ließ es sich nicht nehmen, den Flug selbst zu begleiten und die in eine rot-weiß-rote Flagge gehüllten Zelte und Decken zu übergeben. Von Inszenierung versteht man was in der ÖVP.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?