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Streit um Abschiebungen in ÖsterreichSchlamassel für die Grünen

Ralf Leonhard
Kommentar von Ralf Leonhard

Die Abschiebepolitik der ÖVP stellt die österreichischen Grünen vor die Wahl: Weiter mit Sebastian Kurz oder nicht? Die grüne Basis muckt auf.

Treibt die Grünen zur Verzweiflung: Österreichs Kanzler Kurz, hier als virtueller Gast bei der CDU Foto: reuters

B ei Österreichs türkis-grüner Koalition brennt das Dach. So offen flogen die Fetzen noch nie in der vor wenig mehr als einem Jahr vereidigten Regierung der konservativen ÖVP unter Kanzler Sebastian Kurz und den Grünen. Anlass ist die Abschiebepolitik der ÖVP, die seit letzter Woche ein Gesicht hat: das der 12-jährigen Tina, die vor wenigen Tagen mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester nach Georgien zwangsverbracht wurde, in ein Land, das sie nicht kennt und dessen Sprache sie zwar versteht, aber nicht lesen kann. Mehr vorbildliche Integration ist schwer vorstellbar.

Juristen und Menschenrechtler versichern, dass die Ermessensspielräume nicht ausgenutzt wurden und verweisen darauf, dass die von Österreich ratifizierte Kinderrechtskonvention Rücksicht auf das Kindeswohl gebietet. Vom Kanzler über den Innenminister bis zum Fraktionschef gaben die ÖVP-Granden die harten Männer, die nur den Gesetzen folgten. Proteste der Grünen prallten an der Phalanx der Abschieber ab. Für die Türkisen ist der Wirbel sogar willkommen: Er lenkt von peinlichen Affären und ihrem Versagen im Coronamanagement ab. Gleichzeitig binden sie die rechten Stimmen, die nach diversen Skandalen von der FPÖ abgewandert sind.

Und die Prügel bezogen die Grünen, die die offensichtlichen Grausamkeiten nicht verhindert haben. Ein wahrer Aufstand an der Basis der Menschenrechtspartei brachte die Parteiführung in Zugzwang. Von „Heuchelei“ bis „Die ÖVP wird das noch bereuen“ fielen ungewohnt scharfe Worte gegen den Koalitionspartner. Aber die Koalition sprengen will aus der Führungsriege niemand.

Die Grünen stecken in einer Zwickmühle: Halten sie still, dann laufen ihnen die Wähler davon und sie fliegen bei Neuwahlen aus dem Parlament. Schmeißen sie hin, dann können sie auch die angestrebte Klimawende und das Transparenzpaket nicht mehr durchsetzen. Anders als Reformen im Asyl- und Fremdenwesen sind diese Punkte aber im Koalitionsabkommen paktiert. Hinzu kommt: Anders als die ÖVP haben sie keine Koalitionsalternativen.

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Ralf Leonhard
Auslandskorrespondent Österreich
*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.
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7 Kommentare

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  • Wenn ich nach Österreich schaue, weiß ich, was uns bevorsteht mit schwar-grün. Und ich frage mich, wer die 20% WählerInnen sind

  • In Europa sind die Würfel in der Flüchtlingspolitik doch schon lange in Richtung eines restriktiven Kurses gefallen ... die schleichende Gewöhnung in der Bevölkerung angesichts der Bilder von im Mittelmeer ertrinkenden oder in elenden Flüchtlingslagern an den EU-Aussengrenzen dahinvegetierenden Menschen macht der Politik das Geschäft da nur noch einfacher.



    Da ist es - zynisch gesprochen - erwartbar, dass der Aufstand des Gewissens in einer ehemaligen Menschenrechtspartei sich zwar regt, um dann zugunsten der Beteiligung an den Fleischtöpfen der Macht sogleich wieder zusammenzufallen. Insofern vollziehen die Grünen (jetzt in Österreich, bald vielleicht auch in Deutschland?) nur nach, was gesellschaftlich schon lange Common Sense ist ... die Verteidigung des eigenen Wohlstands auf Kosten der Gesundheit und des Lebens anderer Menschen aus anderen Regionen der Welt.



    Aber was beschwere ich mich: auch auf Seiten der Linken werden sogenannte Open-Border-Linke als realitätsfern bezeichnet ... wie viele Menschen wohl noch im Mittelmeer ertrinken oder vorher auf der Flucht durch die Wüste sterben oder in die Hände von Menschenhändlern fallen müssen, bis die neoliberal-kapitalistische globalisierte Wirtschaftsordnung endlich überwunden ist?



    Leute, tut’s mir den Gefallen, erst mal in den eigenen Spiegel zu schauen, bevor ihr (möglicherweise zurecht) auf die Grünen eindrescht.

  • Ein Vorgeschmack für die deutschen Grünen auf Schwarz-Grün ab September. Wer mit dem Teufel paktiert, sollte sich nicht über das Fegefeuer wundern.

    • @TeeTS:

      Nun ja, auf den Höllenritt haben wir uns allesamt längst begeben ... und zwar aus freien Stücken, zumindest in unserer Wohlstandsgesellschaft.



      Und dient das Fegefeuer nicht letztlich der Läuterung der armen, verirrten Seelen?

  • 0G
    01022 (Profil gelöscht)

    Alfred J. Noll, ehem. Abg. NR (Liste Pilz) im Leserkommentar beim Wiener "Standard"



    ...die wollen einfach endlich "dabei" sein, weil nur dies ihre tief innenliegende und jahrzehntelang schwärende Bedürfniswunde mangelnder politischer Anerkennung balsamiert - es ist ihnen reichlich egal, ob und gegebenenfalls was sie fürs "Dabeisein" bekommen. Schauen Sie sich die glücklich-seligen Gesichter auf der Grünen-BuKo 2019 in Salzburg an, als mit 93% für die Koalition mit der ÖVP gestimmt wurde...

  • 0G
    01022 (Profil gelöscht)

    Alfred J. Noll, ehem. Abg. NR (Liste Pilz) im Leserkommentar beim Wiener "Standard"



    ...die wollen einfach endlich "dabei" sein, weil nur dies ihre tief innenliegende und jahrzehntelang schwärende Bedürfniswunde mangelnder politischer Anerkennung balsamiert - es ist ihnen reichlich egal, ob und gegebenenfalls was sie fürs "Dabeisein" bekommen. Schauen Sie sich die glücklich-seligen Gesichter auf der Grünen-BuKo 2019 in Salzburg an, als mit 93% für die Koalition mit der ÖVP gestimmt wurde...

  • Ach ja, küss den Hund gnä Frau.... Die Ösi-Grünen werden so wie ihr deutsches Pendant aufrecht auf den Knien mosern und dann brav in der Koalition bleiben. Erinnern wir uns, bei den gescheiterten Verhandlungen nach der letzten Bundestagswahl zwischen CDU/CSU, FPD und Grünen waren letztere bereit, die Flüchtlingspolitik für eine Beteiligung an der Regierung zu 'opfern'. Später kritisierte das der heutige Grünen-Chef Habeck als Gast in der ZDF 'Heute-Show'. Warten wir's ab ....