Klimaprotest von Letzte Generation: Tanz um die goldene Radkappe
43 Millionen Privat-PKW sind in Deutschland zugelassen, der Individualverkehr hat Fetischcharakter angenommen. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende.
D er als eher konservativ geltende Soziologe Niklas Luhmann hatte ein Faible für den Protest und Protestierende, ohne dabei den aufrührerischen Theorieschulen sozialer Bewegungen wie Anarchismus oder Marxismus anzugehören. Der Studentenbewegung um 1968 bescheinigte der Systemtheoretiker, sie nehme zu Recht Anstoß am Status quo, an dem der CDU-Staat damals krampfhaft festgehalten hatte, denn es bedürfe einer außerparlamentarischen Opposition, wenn die staatstragende Opposition wie das Establishment unfähig seien, „Alternativen zur Entscheidung zu bringen“.
Empfohlener externer Inhalt
Dem Protest, auch dem wilden, radikalen, systemoppositionellen, wies er die Rolle zu, die Gesellschaft ins Lot der Selbststeuerung und Systemerneuerung zurückzuversetzen. Dieser Stabilisierungsauftrag gefiel 68ern natürlich weniger; es war aber eine durchaus treffende Diagnose ihrer tatsächlichen Leistung, nämlich der Gesellschaft der Bundesrepublik jene „Fundamentalliberalisierung“ zu verschaffen, die ihnen Luhmanns Gegenspieler Jürgen Habermas rückblickend bescheinigte.
Neue soziale Bewegungen vermögen damit, was den Teilsystemen der Gesellschaft abgeht: „Sie beschreiben die Gesellschaft, als ob es von außen sei.“ Und in dieser Totale entdecken sie auch, was alten sozialen Bewegungen verborgen geblieben war: „Gesellschaft nicht mehr bloß vom Kapitalismus her zu sehen, sondern in Bezug auf die Tatsache, daß manche etwas für ein lebbares Risiko halten, was für andere eine Gefahr ist“.
Früher als andere interessierten Luhmann ökologische Risiken, die den neuen Typ „grün-alternativer“ Proteste hervorriefen: „in der Ablehnung von Situationen, in denen man das Opfer des riskanten Verhaltens anderer werden könnte.“ Besser sind die Sorgen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Letzter Generation kaum zu beschreiben. Luhmann antizipierte allerdings auch deren Schwächen: „Das Geheimnis der Alternativen ist, dass sie gar keine Alternative anzubieten haben“ – weil sich ja stets die anderen bewegen, ändern, korrigieren müssten.
Jahrgang 1950, ist Ludwig-Börne-Professor an der Uni Gießen und befasst sich seit Jahren mit politischer Ökologie. 2021 erschien mit Frederic Hanusch und Erik Meyer „Planetar denken: Ein Einstieg“, transcript Verlag.
Hysterischer Reflex
Das macht Protest wenig anschlussfähig, zumal wenn er im Kern Angst thematisiert und moralisierend auftritt, wie seinerzeit die Atomkraftgegner. Es ist zu früh, zu entscheiden, ob die Klimaschützer in die Ahnenreihe der neuen sozialen Bewegungen von der Studentenrevolte und die Frauenemanzipation über die Anti-AKW-Bewegung und den Antirassismus gehören oder ihr Protest eine neue Qualität annehmen wird.
Ein wesentlicher Unterschied besteht schon darin, dass sie anders als die Vorläufer etwas fordern, was auch die Mehrheit wünscht (wenn auch nicht praktiziert): Gefährlicher Klimawandel und Artensterben beunruhigt auch den Mainstream, und einschneidende Änderungen von Lebensstilen und Gewohnheiten propagiert keineswegs nur eine zukunftsängstliche, apokalyptisch getönte „Letzte Generation“.
Erst die in Protestnischen stets angelegte Selbstradikalisierung und der hysterische Reflex gegen den vermeintlichen Ökoterror polarisiert, aber nicht das von „Klimaklebern“ geforderte 9-Euro-Ticket oder eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen. Die Blockadeaktionen der Letzten Generation, in deren Windschatten die konzilianteren und konsensorientierten Fridays for Future geraten sind, stoßen auf breite Ablehnung.
Protest am Genfer Flughafen
Man kann eine Gesellschaft nicht frontal attackieren, die anders als 1968 und in den 1980er Jahren mit den Protestzielen im Prinzip übereinstimmt. Die „Klimakleber“ überdehnen die legitimen Mittel zivilen Ungehorsams wie Blockaden und Boykotts. Andere Teile der Klimaschutzbewegung kalibrieren das wesentlich besser. Ein jüngstes Beispiel sind die 100 Aktivisten, die sich an die Zugänge von Privatjets ketteten, die bei einem Business-Event am Genfer Flughafen ausgestellt waren, und den Haupteingang der Jet-Show versperrten, um die Kundschaft am Betreten zu hindern.
Jets gelten zu Recht als äußerst schädliche Produkte, „die unseren Planeten zerstören, unsere Zukunft verheizen und Ungleichheit befeuern“. Die NGO „Stay Grounded“ erweiterte den Kreis der Zielpersonen: „Während viele sich Essen und Miete nicht mehr leisten können, zerstören die Superreichen unseren Planeten, damit muss endlich Schluss sein.“
Anders als bei den Straßenblockaden in Berlin, die auch Umweltbewusste allmählich zur Verzweiflung bringen, wird mit den Superreichen ein Gegner markiert, auf den sich egalitäre Gesellschaften rasch einigen können. Die Genfer Flugschau ist Treffpunkt einer Elite, die mit der arroganten Verachtung der 80 Prozent der Weltbevölkerung assoziiert wird, die niemals in ihrem Leben geflogen sind. Weniger populär ist der Protest gegen die verschleppte Verkehrswende und Massenverkehrsmittel, namentlich in Deutschland, wo 43 Millionen Privat-Pkws zugelassen sind und der ungebremste Individualverkehr Fetischcharakter angenommen hat.
Zur nächsten Automesse, der IAA Mobility in München, treffen sich Anfang September wieder sechs Tage lang Autoliebhaber zum Tanz um die goldene Radkappe, bei dem Greenwashing betrieben wird und die absurde Fixierung auf PS-starke, tonnenschwere und überteuerte Verbrenner bestehen bleibt. Das Auto ist der Elefant im Raum der Klimawende. Und der Testfall: Würde bei einer Absage (oder Blockade) der IAA nur die Automobilbranche im Fokus stehen, die Fahrzeuge herstellt, deren Betrieb 20 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland verursacht?
Gepaart mit realpolitischen Forderungen nach preisgünstigem oder kostenlosem ÖPNV, einer Geschwindigkeitsbegrenzung und autofreien Innenstädten, würden genauer auf politische und wirtschaftliche Entscheider zielende Aktionen dem Klimaschutz sicher mehr Sympathie einbringen als wildwüchsige Straßenblockaden. Und der Protest wäre radikaler und anschlussfähiger zugleich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin