Klimaaktivist über globalen Süden: „Schuldenstreichung als erster Schritt“
Industrienationen haben große Klimaschulden. Diese würden die finanziellen Verpflichtungen der ärmeren Länder aufwiegen, sagt Umweltaktivist Esteban Servat.
taz: Herr Servat, mit der Initiative Debt for Climate fordern Sie von Ländern wie Deutschland, dem globalen Süden die Staatsschulden zu streichen – und zwar fürs Klima. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Esteban Servat: All diese finanziellen Forderungen hängen mit den Klimaschulden des globalen Nordens zusammen. Die Klimaschulden bestehen nicht nur aus Emissionen, die vergleichsweise einfach quantifizierbar sind, sondern auch aus der Kolonialisierung des Großteils der Erde. Wie auch der Weltklimarat IPCC in seinem jüngsten Bericht eingeräumt hat, ist der Kolonialismus nicht nur treibende Kraft der Klimakrise, sondern auch ein andauerndes Problem, das die Anfälligkeit von Gemeinschaften aus den am meisten betroffenen Ländern für diese Krise noch verschärft.
ist ein argentinischer Umweltaktivist. Er hat die Plattform EcoLeaks gegründet, auf der er geheime Dokumente der argentinischen Regierung veröffentlichte, die die Verschmutzung des Grundwassers durch Fracking aufdeckten. Er lebt deshalb heute im Berliner Exil.
Der globale Süden hat also Staatsschulden beim globalen Norden, während der globale Norden Klimaschulden beim globalen Süden hat. Die Klimaschulden des Nordens sind aber viel größer als die Staatsschulden des Südens. Deshalb muss der erste Schritt eine Schuldenstreichung für den globalen Süden sein.
Die Debatte um die Klimaschuld des Nordens nimmt ja schon Fahrt auf. Ob die Industrieländer Geld bereitstellen, damit der globale Süden für klimawandelbedingte Schäden und Verluste zahlen kann, steht auf der Weltklimakonferenz COP 27 in Scharm al-Scheich sogar offiziell auf der Tagesordnung. Dänemark hatte im September als erster UN-Staat eine kleine Summe zugesagt, seitdem gab es weitere solcher Ankündigungen. Macht Ihnen das Mut?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es eröffnet die Debatte darüber, was Klimaschulden wirklich sind. Doch davor hat der globale Norden große Angst. Die Staatsschulden bewegen sich im Bereich der Billionen, die Klimaschulden liegen um eine Größenordnung höher. Das möchte der globale Norden nicht akzeptieren. Doch gerade in mächtigen Ländern wie Deutschland muss diese Debatte geführt werden.
Der UN-Menschenrechtsausschuss hat Australien kürzlich verpflichtet, indigene Bewohner:innen der australischen Torres-Strait-Inseln zu entschädigen. Ein weiterer Erfolg?
Auch das ist ein Hoffnungsschimmer. Aber uns läuft die Zeit davon. Die Beispiele, die Sie nennen, sind oberflächlich, fast schon dekorativ. Sie setzen nicht die Billionen in Bewegung, die es für eine Schuldenstreichung bräuchte.
Warum braucht es dafür so viel Geld?
Nehmen Sie Nigeria als Beispiel. Nigerias Schuldendienstzahlungen sind höher als die Staatseinnahmen. Wenn Nigeria nun Klimafinanzierungsmaßnahmen in Millionenhöhe erhält, wird dieses Geld verwendet, um die Staatsschulden zu tilgen. Das heißt, das Geld fließt direkt zurück in den Norden! Das ist, als würde man Wasser in einen löchrigen Eimer gießen. Zuerst müssen die Löcher gestopft werden. Als erstes müssen wir dem globalen Süden ermöglichen, sich vom Finanzkolonialismus zu befreien.
Und das geht nur durch eine Schuldenstreichung?
Das würde sogar der gesamten Menschheit helfen. Aktuell werden natürliche Ressourcen wie Öl und Gas auch ausgebeutet, um Staatsschulden abzuzahlen. Mit einer Schuldenstreichung könnten diese Ressourcen im Boden bleiben. Auch Deutschland hat in der Vergangenheit von einer Schuldenstreichung profitiert. Die hat damals das deutsche Wirtschaftswunder befeuert. Wenn es eine Schuldenstreichung für Naziregime-Schulden gab, warum dann keine für den globalen Süden?
Was wären die weltwirtschaftlichen Konsequenzen, wenn der globale Norden Billionen in eine Schuldenstreichung investiert?
Im Oktober hatten wir ein Webinar mit Fadhel Kaboub und Ndongo Samba Sylla, zwei anerkannte Experten für Internationale Politik. Dort stellte sich genau diese Frage. Beide sagten, dass eine Schuldenstreichung keine größeren negativen Auswirkungen auf die Volkswirtschaften des globalen Nordens haben würde, weder in Form von Inflation noch von Rezession.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“