Klasse und Wohnen: Ein Zimmer für mich allein

Wer als Kind ein Zimmer teilen musste, kennt die Dialektik des Zusammenwohnens: Was Geborgenheit gibt, das hat auch Schattenseiten.

Ein Kind hängt von einem Stockbett. Im Hintergrund ein Mädchen und ein Junge die gemeinsam lesen

Ein Zimmer teilen bedeutet: Das Schnarchen der anderen ertragen, aber auch gemeinsam wach werden Foto: Viktoryia Verstak/imago

Klassenfahrt, Trainingslager, funktionale Studi-WG – wer das hinter sich hat, weiß spätestens dann, was es bedeutet, ein Zimmer zu teilen. Es bedeutet gemeinschaftliche Wärme, freundschaftliche Intimität, unverwechselbare Nähe. Es ist vergleichbar mit dem Gefühl, das Kinder haben, wenn sie mit anderen ein Zelt aus Decken, Kissen und Möbeln bauen, um sich darin zu verstecken und es sich heimelig zu machen.

Wie alles andere, was im Leben Geborgenheit gibt, hat aber auch das Zimmerteilen Schattenseiten. Denn wenn der Zimmergenosse schnarcht oder im Schlaf furzt oder nervt, weil er abends vor dem Einschlafen nicht aufhört zu reden, oder nachts wach wird, das Licht anmacht und sehr laut vom Hochbett springt, um Wasser zu lassen, dann wird aus Enthusiasmus Entnervtheit.

Wer mit einem oder gleich mehreren Geschwistern ein Zimmer teilen musste, kennt diese Dialektik des Zimmerteilens und auch Strategien gegen das, was nervt. Die Einzel- oder Großwohnungskinder müssen sie erst erlernen. Im Studium habe ich deshalb nebenberuflich Kom­mi­li­to­n:in­nen beraten, die sich übereilt und in Antizipation der Revolution in alternative Wohnprojekte gestürzt haben.

Das Schöne: gemeinsam wach werden

Seitdem die Kategorie der Klasse eine Renaissance in der gesellschaftlichen Debatte erlebt, wird auch leidenschaftlich darüber diskutiert, welche Erlebnisse, biografischen Momente und alltäglichen Beobachtungen nun tatsächlich auf die Klassenherkunft zurückführbar sind – und welche nicht. So gut es ist, dass es diese Auseinandersetzungen gibt, weil sie dem Konturen geben, worüber wir reden, so sicher ist doch der Zusammenhang zwischen Wohnen (somit auch Zimmerteilen) und sozialem Status – gerade heutzutage, wo die Wohnungsfrage die soziale Frage schlechthin ist.

Zu einer ganz anderen Zeit, im Jahr 1929, ist Virginia Woolfs feministisches Essay „Ein Zimmer für sich allein“ erschienen. Darin thematisiert sie die Produktionsbedingungen von Literatur von Frauen. Der Titel steht wortwörtlich und zugleich symbolisch für die Voraussetzungen solcher Literatur: Ein eigenes Zimmer braucht es nicht nur, um in Ruhe ein Buch schrei­ben zu können. Das eigene Zimmer stand im viktorianischen England, dessen geschlechtsspezifische Ungleichheit Woolf miterlebt hat, auch für finanzielle und geistige Unabhängigkeit. Für Frauen jener Zeit waren diese alles andere als selbstverständlich – und wenn überhaupt, genossen sie vor allem Frauen aus gehobenen Schichten.

Ich bin keine Frau und lebe im 21. Jahrhundert, ein eigenes Zimmer habe ich erst im Studium bezogen. Dort habe ich meinen ersten Text geschrieben, der veröffentlicht wurde. Diese Kolumne schreibe ich sogar in einer ganzen eigenen Wohnung. Trotzdem freue ich mich jedes Mal über die Wärme, wenn ich ein Zimmer teile. Das gemeinsame Wachwerden zum Beispiel wiegt dann doch immer noch schwerer als das Schnarchen.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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