Essen gehen früher und heute: Supermarkt nur noch mit Hemd

Restaurantbesuche gab es in der Kindheit unseres Autors nicht. Heute kostet ein Einkauf so viel wie vor der Krise ein netter Ausflug in die Pizzeria.

Eine Person isst einen Döner

Nach dem Fußball einen Döner – das war schon etwas Besonderes Foto: Peter Witt/Gonzales Photo/picture alliance

Essengehen kenne ich nur aus der zweiten Hälfte meines Lebens. Meinem Ich aus der ersten Hälfte würde ich das Konzept so erklären: Man geht zu fremden Menschen, die kochen für einen und machen auch wieder sauber, man gibt ihnen Geld dafür und geht dann wieder heim. Das gab es in der ersten Hälfte nicht, weil es natürlich günstiger ist, selbst zu kochen und aufzuräumen.

Zwar kam Anfang des 19. Jahrhunderts der Ökonom David Ricardo mit seinem Konzept der komparativen Kostenvorteile um die Ecke. Das Konzept besagt, dass sich jedes Land auf Produktion und Export jener Güter spezialisieren soll, bei dem es die kleinsten Kosten hat (Danke, Gymnasium!). Ricardo hat das am Beispiel von England und Portugal bzw. am Handel mit Tuch und Wein erklärt. Bei uns aber galt – und gilt teilweise immer noch und wurde bis ins 21. Jahrhundert hinein und über viele Generationen als tiefe Überzeugung weitergegeben –, dass es immer am besten ist, alles selbst zu machen.

Deshalb war der Döner, den es manchmal auf dem Heimweg vom Fußballturnier am Wochenende gab, das Einzige, was in der ersten Hälfte fast unter die Kategorie Essengehen fiel. Aber nur fast, weil wir den dann auch lieber auf einer Bank an einer Raststätte gegessen haben als im Imbisslokal: verschwitzte Jungs in Trainingsanzügen und ein erwachsener Mann, die an einer lauten Straße schweigend beieinandersitzen und in etwas reinbeißen, das in Alufolie eingewickelt ist. Wahrscheinlich saßen sie da, weil die Person, die darüber zu entscheiden hatte, sich ungern von anderen bedienen ließ. Auch wenn ich mich mittlerweile daran gewöhnt habe und sehr gerne in Restaurants esse: Immer wieder blitzt ein Rest Unbehagen in mir auf, wenn ein fremder Mensch mir Essen bringt.

Möglicherweise muss ich mich aber erst mal nicht mehr so oft mit solchen Irritationen auseinandersetzen. Essengehen könnte für mich nach und nach wieder die Stellung einnehmen, die es einmal für meine Vorfahren hatte. Vor ein paar Tagen marschiere ich durch den einen Supermarkt, in dem ich nach Feierabend immer wieder Zuflucht vor meiner zweiten Lebenshälfte suche. Hier stehen Funktion, Preis und Masse vor wohlig-ästhetisch-übersichtlichem Einkaufserlebnis. Einkaufen ist eben nicht gleich Einkaufen. Außerdem erinnert mich der Parkplatz dieses Supermarkts an den Rastplatz von damals.

Katastrophe Kassenzettel

Ich marschiere also zielsicher durch die mir so vertraute riesige Halle, greife intuitiv nach dem, wonach ich sonst auch greife, und stelle mich an der Kasse an. Der Kassenzettel, den mir die Kassiererin in die Hand drückt, beendet dann die Vertrautheit. Ich erschrecke über den Preis des Einkaufs für die Pizzazutaten und denke an die Rechnung eines Pizzeria-Besuchs vor nicht allzu langer Zeit. Mittlerweile ist Einkaufen im Supermarkt dank Inflation so teuer wie einst fein essen gehen. Das nächste Mal ziehe ich ein Hemd an.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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