piwik no script img

Kindergrundsicherung hilft nichtBerlins Kinder bleiben arm

Die Kindergrundsicherung wird in Berlin wenig ändern, schätzen Wohlfahrtsverbände. Für Asylsuchende könnte sich die Lage sogar verschlechtern.

Rund 26 Prozent der Kinder in Berlin wachsen in Armut auf Foto: Markus Schreiber / AP

BERLIN taz | Spätestens wenn die Eltern kein Geld für den Schulausflug, den Sportverein, Klassenfahrten, Kino, geschweige denn Urlaub in den Ferien und auch nur das Eis haben, merken auch kleine Kinder, dass sie arm sind. Von teuren Turnschuhen und Markenklamotten, einem neuen Laptop oder Smartphone können sie nur träumen: Laut einer Bertelsmann-Studie fahren arme Kinder seltener in den Urlaub, sind seltener in Sportvereinen, können seltener Hobbys nachgehen und sie werden häufiger ausgegrenzt.

In Berlin ist etwa jedes vierte Kind, genau 26 Prozent, von Armut bedroht, rund 235.000 Kinder und Jugendliche bis 24 Jahre (bis 18 Jahre: 182.000). Kinderarmut ist Familienarmut, die Eltern gelten als armutsgefährdet. Größte Risikogruppe sind mit 40 Prozent Alleinerziehende, davon sind wiederum 90 Prozent Frauen. Aber auch Sozialleistungsempfänger, Arbeitende oder Eltern mit mehreren Kindern sind bedroht.

Um der Kinderarmut entgegenzuwirken, hat die Ampelregierung im Bund am vergangenen Mittwoch das nach Aussage der grünen Familienministerin Lisa Paus „wichtigste sozialpolitische Projekt dieser Bundesregierung“ beschlossen – die Kindergrundsicherung. Sie soll mehrere Sozialleistungen vom Kindergeld über Bürgergeld bis zum Kinderzuschlag bündeln, und diese sollen einfacher zu beantragen sein. Die Leistungen sollten erhöht werden.

Allerdings sind aus ursprünglich geplanten 12 Milliarden Euro gegen Kinderarmut im Koalitionsgezerre vor allem mit dem neoliberalen Finanzminister Christian Lindner nicht mal ein Viertel davon übrig geblieben: 2,4 Milliarden Euro. Die Frage ist: Wie viel wird das in Berlin gegen Kinderarmut bringen?

Dauerhaft Lebensmittelpakete

Wolfgang Büscher ist der Sprecher der Arche, eines Kinder- und Jugendhilfswerks, das kostenloses Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung und Ferienfreizeiten für Kinder aus armen Familien anbietet. Seit die Lebenskosten wegen der Inflation stark gestiegen sind, geben die Arche-Anlaufstellen in Berlin auch Lebensmittelpakete aus, inzwischen als dauerhafte Maßnahme.

Büscher sieht bei der Kindergrundsicherung wenig Licht und viel Schatten: „Es ist gut, das Leistungen gebündelt werden sollen. Viele unserer Eltern wussten nicht, welche Leistungen sie wie beantragen können“, sagt er. Die Formulare für die verschiedenen Sozialleistungen seien verwirrend. Als er probeweise selbst versuchte, diese auszufüllen, sei er daran gescheitert und habe dies nur mit Unterstützung geschafft.

„Aber die Höhe der Grundsicherung ist lächerlich! Sie bringt nach unseren Berechnungen bei einer Familie mit 2 Kindern für das einzelne Kind nur 30 Euro im Monat mehr“, sagt Büscher. Das Geld gehe direkt in Essen, Trinken und Kleidung, an der Kinderarmut werde sich nichts ändern, schätzt er. „Die Inflation ist bei Weitem höher, als 30 Euro pro Familie wettmachen können. Für uns als Arche verändert sich damit nichts – außer dass die Eltern ein kleines bisschen mehr Geld für Essen haben.“

Was gegen Kinderarmut wirklich helfe, seien Investitionen in die Bildung von Kindern und Chancengleichheit. Man müsse wegkommen von Brennpunktschulen mit stinkigen Toiletten und Klassenzimmern im schlechten Zustand, fordert Büscher. Es brauche mehr Geld für Bildungseinrichtungen und eine bessere Aufteilung von Kindern auf Schulen, sodass eine soziale Durchmischung stattfinde. „Einen Großteil der Kinder werden wir verlieren ohne starke Ausbildung“, schätzt Büscher. Sein bitteres Fazit: „Wir werfen die Kinder auf den sozialpolitischen Müllhaufen.“

Gegen strukturelle Armut

Dorothee Thielen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband formuliert es diplomatischer: „Wir teilen das Ziel, struktureller Kinderarmut entgegenzuwirken, sind aber skeptisch, ob das Gesetz wirklich dazu geeignet istj“, sagt sie. Berlin sei besonders betroffen, weil es hier so viele Anspruchsberechtigte gibt. Thielen sagt, sie habe Zweifel, ob es am Ende wirklich weniger Bürokratie gebe, weil der über den Grundbetrag hinausgehende einkommensabhängige neue Zusatzbetrag auch weiterhin beantragt werden muss. Es hat sich lediglich die behördliche Zuständigkeit vom Jobcenter zur Familienkasse verschoben. „Die Umstrukturierung ist eine große Aufgabe für alle Beteiligten angesichts des schmalspurigen Umfangs des Gesetzes“, sagt Thielen.

Ob die Beantragung am Ende besser funktioniere, müsse die Praxis zeigen, so Thielen. Wichtig sei vor allem in Berlin, dass Online-Anträge nicht nur verständlich, sondern auch mehrsprachig zur Verfügung stehen. „Damit keine Familie im Gestrüpp der Bürokratie verloren geht, braucht es auch weiter viele Beratungsangebote und ein Ende aller Barrieren“, fordert Thielen.

Die Kritik an der geringen Höhe der Grundsicherung teilt auch ihr Verband. „Es ist nur ein ganz klein wenig mehr, als über das Bürgergeld jetzt schon zur Verfügung steht und nicht hinreichend“, sagt Thielen – wenngleich sie begrüßt, dass die Höhe der Sätze regelmäßig überprüft werden soll. „Gerade in Berlin mit seiner Kinderarmutsquote von 26 Prozent ist es sehr wichtig, dass von Armut bedrohte Kinder und Jugendliche materiell gut abgesichert sind“, sagt sie.

Melanie Otto, Geschäftsführerin des Berliner Verbands alleinerziehender Mütter und Väter, hat ebenfalls grundsätzliche Kritik. Auf taz-Anfrage sagt sie: „Es handelt es sich aus unserer Sicht vor allem um eine Verwaltungsreform, nicht jedoch um eine echte Reform, die bei den Familien ankommt.“ Es müsse sichergestellt werden, dass die Voraussetzungen in der Berliner Verwaltung erfüllt sind, um die Kindergrundsicherung wie geplant einzuführen und umzusetzen. „Bei der Ausgestaltung – finanziell wie in der Umsetzung – muss aus unserer Sicht stark nachgebessert werden, um bei Familien und vor allem auch bei Alleinerziehenden anzukommen“, sagt Otto.

Gar keine Grundsicherung

Sehr grundsätzlich ist die gemeinsame Kritik von 23 zivilgesellschaftlichen Organisationen: Sie bemängeln, dass Kindern von Asylbewerbern keine Kindergrundsicherung zusteht. In einer gemeinsamen Mitteilung werfen Pro Asyl, AWO, Diakonie, Save the Children und weitere der Bundesregierung vor, sich nicht an die UN-Kinderrechtskonvention zu halten, die eine Diskriminierung von Kindern aufgrund von Herkunft und Aufenthaltsstatus verbietet. „Schon jetzt haben geflüchtete Kinder schlechtere Startchancen. Wir fordern Regierung und Parlament auf sicherzustellen, dass geflüchtete Kinder in keiner Weise weiter benachteiligt werden“, heißt es bei den Organisationen.

„Dass die eigentlich wichtige Kindergrundsicherung gerade geflüchtete Kinder in Deutschland weiter benachteiligt, ist einfach nur bitter. Das Ziel, allen in Armut lebenden Kindern zu helfen, wird so verfehlt“, sagt Wiebke Judith von Pro Asyl. Eine solche Sozialpolitik sei auf Abschreckung ausgerichtet, sagt sie. Das werde keine Familie davon abhalten, aus Not und Lebensgefahr zu fliehen, dafür aber die Situation von tausenden hier lebenden Kindern verschärfen.

Nach Angaben von Pro Asyl würden für Kinder unter bestimmten Umständen nach der neuen Regelung sogar Sofortzuschläge von 20 Euro monatlich wegfallen. „Dass Kinder sogar schlechter gestellt wären, als vor der Einführung der Kindergrundsicherung, ist besonders absurd und ein sozialpolitischer Skandal“, sagt Judith.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Man sollte aufhören, Armut mit Geld gleichzusetzen. Aus meiner Arbeit als Sozialarbeiter in einer Kita weiß ich, dass gerade Eltern die nicht arbeiten, kostenlose Bildungsangebote mit ihren Kindern kaum wahrnehmen, egal wie offensiv man ihnen diese nahebringt. Es fehlt schlicht das Interesse. Das kostenlose Mittagessen wird meist nicht abgemeldet, wenn das Kind nicht in die Kita kommt. Der Wert von Bildung und Materiellem ist einfach gering, wenn es von anderen, vermeintlich "Reichen" bezahlt wird. Es gibt keine Armut in Deutschland, dieser Begriff ist ein Schlag ins Gesicht für die wirklich Armen dieser Welt.

  • 1. Es ist löblich, wenn der Autor die Absicht verfolgt, die Situation von Kindern aus der Unterschicht zu verbessern. Er sollte dann aber nicht ausgerechnet teure Turnschuhe und Markenklamotten als Beispiele verwenden. Es ist nicht der Sinn von Sozialleistungen, dass die Leistungsempfänger ihren Kindern überteuerte Luxusgüter kaufen können, und der Autor wird niemanden in der Politik davon überzeugen können, Mittel dafür einzusetzen. Es sollte eher darum gehen, Kindern zu vermitteln, dass man solches Zeug nicht braucht und dass niemand weniger wert ist, der es nicht hat.

    2. Der Autor führt als weiteres Beispiel an, dass die Eltern kein Geld für Eis haben. Ich habe daran nichts auszusetzen, finde es aber lustig, dass ausgerechnet in der taz, die in zahlreichen Artikeln die Pläne des Bundeslandwirtschaftsministers befürwortet hat, zum Schutz von Kindern Werbung für zuckerhaltige Lebensmittel einzuschränken, bedauert wird, dass manche Kinder kein Eis bekommen. Was ist wohl im Eis in großen Mengen drin?

    3. Der Forderung von Wolfgang Büscher nach sozialer Durchmischung schließe ich mich an. Man stelle sich vor, an allen Schulen (einschließlich der ganz überwiegend vom Staat finanzierten sog. Privatschulen) gäbe es ungefähr den gleichen Anteil an Kindern aus der Unterschicht und an Kindern, die noch nicht alltagstauglich Deutsch können. Das würde die Lage an den Schulen automatisch verbessern, weil es dann auch um die Kinder der Entscheider ginge. Nimmt man Politikern und anderen Oberschichtsangehörigen die Möglichkeit, ihre eigenen Kinder in Schulen zu schicken, in denen sie von den Zuständen in den "Brennpunktschulen" abgeschirmt sind, dann wird es mittelfristig keine "Brennpunktschulen" mehr geben. Leider wird eine solche Bildungspolitik in diesem Land voraussichtlich niemals durchsetzbar sein.

  • Das Jobcenter übernimmt Schulessen, Ausflugskosten, Klassenfahrt und Materialkosten. Von daher stimmt der Anfang des Artikels nicht, wenn es um Bürgergeldempfänger geht. Für Eltern, die arbeiten, aber wenig Geld verdienen, gibt es diese Gelder nicht. Wohngeldempfänger bekommen immerhin noch 50%. Was Markensachen angeht, ist das nicht Aufgabe des Staates. Bibliotheken sind für Kinder umsonst. Wenn es um Armut geht, sollte man gerade nicht die Bürgergeldempfänger als Beispiel nehmen, da diese ohne Arbeit alle Schulausgaben finanziert bekommen. Es geht um eine andere Armut, die Eltern von der Nutzung der Bibliotheken abhält und von vielen günstigen kulturellen Aktivitäten.