Kinderarzt über Corona-Maßnahmen: „Kinder sind keine Virenschleudern“
Ob Shutdown oder Lockerungen – alles sei aus Erwachsenensicht gedacht, sagt Torsten Spranger vom Verband der Kinder- und Jugendmediziner.
taz: Herr Spranger, der Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften schreibt in einer aktuellen Stellungnahme, die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen würden in der Coronakrise denen von Erwachsenen untergeordnet. Sehen Sie das auch so?
Torsten Spranger: Ja, Kinder werden entweder als Störer im Homeoffice betrachtet oder als Gefährder, als kleine Virenschleudern, die Erwachsene bedrohen. Das ist eine negative Sicht auf Kinder und mal wieder überhaupt nicht aus Kinderperspektive gedacht.
Aber nur, weil nicht bekannt ist, inwiefern Kinder das Coronavirus übertragen – und Schulen und Kindergärten wie Brutstätten wirken.
Es stimmt, dass wir noch nicht genau wissen, in welchem Umfang Kinder asymptomatisch die Infektion weitergeben. Gesicherte Erkenntnisse gibt es aber darüber, dass Kinder selbst kaum gefährdet sind, schwer zu erkranken. Bisherige Daten legen nahe, dass sie für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen. Vielleicht auch, weil sie, wenn sie sich infizieren, oft keine Symptome entwickeln und deshalb auch nicht in der Gegend herumhusten und niesen. Gleichzeitig lässt man aber zu, dass Erwachsene – die gefährdeter sind – gemeinsam in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Das ist ein größeres Ansteckungspotenzial. Und man will Fußballspieler wieder aufs Feld lassen, erlaubt Tennis und Golf, aber Kinder dürfen nicht auf den Bolzplatz. Was ist denn das für ein Signal?
Das finden Sie unfair?
Darum geht es nicht, das ist keine Neiddebatte, wie sie in der Wirtschaft geführt wird, wo sich die einen darüber beschweren, dass die anderen schon wieder öffnen dürfen. Ich finde die Gewichtung einfach falsch. Nur weil Kinder wirtschaftlich betrachtet nicht relevant sind, gehen wir für sie kein Wagnis ein? Wir müssen davon ausgehen, dass Einschränkungen vielleicht noch ein Jahr weitergehen werden. Das ist für einen Erwachsenen schon ein langer Zeitraum, aber für Kinder ist das anteilig ein sehr viel größerer Teil ihrer Lebenszeit, den sie nicht nachholen können.
Torsten Spranger, 50, arbeitet seit 2008 als Kinder- und Jugendarzt in eigener Praxis in Bremen und ist Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte im Land Bremen.
Aber Kita und Schule sollen doch geöffnet werden und in Berlin die Spielplätze.
Ja, weil sich immer mehr zu Wort melden, die wie wir die Kinderperspektive einnehmen. In den Beratungsgremien der Politik sitzen aber weder wir noch die Betroffenen selbst. Die Debatte wird von Epidemiologen und Virologen geführt.
Und von der Wirtschaft, die ein eigenes Interesse daran hat, dass die Kindergärten und Schulen wieder öffnen.
Das wäre auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen.
Nach meinem Eindruck vermissen sie ihre Freunde, kommen aber klar ohne Pädagogik.
Ich glaube, das kippt gerade. Ich höre in den Vorsorgeuntersuchungen, dass sich viele erst gefreut haben, dass sie nicht zur Schule müssen, aber jetzt merken, dass die Eltern sie nicht so unterstützen können wie ihre Lehrer und Lehrerinnen und dass es schwer ist, ohne Interaktion und Diskussion zu lernen. Gerade die älteren Schüler und Schülerinnen haben ein ganz schönes Pensum zu bewältigen. Das ist schwer, wenn im Hintergrund jüngere Geschwister herumspringen, auf die sie vielleicht sogar aufpassen müssen. Und es ist auch schwer, sich selbst eine Struktur zu geben, also nicht wie manchmal in den Ferien stundenlang mit dem Smartphone im Bett zu liegen. Deshalb halte ich es auch für diskutabel, in den Sommerferien in kleinen Gruppen umschichtig zu unterrichten.
Aber was ist mit Kindern, deren Eltern zu Risikogruppen gehören und die Angst haben, diese anzustecken?
Eltern sind in der Regel nicht so alt, dass sie zu einer Risikogruppe gehören. Und es zeigt sich, dass selbst diejenigen mit Vorerkrankungen nicht so stark gefährdet sind, wie wir das zuerst angenommen haben. Aber natürlich muss es für solche Fälle individuelle Lösungen geben, genauso wie für die wenigen Kinder, die aufgrund eigener Erkrankungen oder Beeinträchtigungen selbst gefährdet sind. Wobei ich hier große Sorge habe, dass beeinträchtigte Kinder unter dem Corona-Vorwand an der oft schon eingeschränkten Teilhabe noch mehr gehindert werden.
Wenn über die Wiederöffnung von Kita und Schule geredet wird, wird das auch damit begründet, dass jemand ein Auge auf die Kinder aus schwierigen Familien werfen muss.
Das ist auch unsere große Sorge als Kinder- und Jugendärzte. Wir sehen bestimmt 50 Prozent weniger Kinder als in normalen Zeiten. Eltern kommen kaum noch, wenn sie sich um die psychische oder soziale Gesundheit der Kinder sorgen und bringen auch schwerer kranke Kinder erst spät in die Praxis aus Angst vor Ansteckung. Zudem haben viele Praxen im Sinne strikter Kontaktreduktion Präventionsmaßnahmen reduziert. Anfangs haben wir alle die Vorsorge-Untersuchungen ab dem zweiten Geburtstag erst einmal verschoben. Aber weil ein Ende der Pandemie nicht abzusehen ist, besteht zumindest hier in Bremen Einigkeit mit dem Gesundheits- und Jugendamt, die verbindlichen Früherkennungsuntersuchungen wieder durchzuführen.
Warum?
Weil wir in diesen Untersuchungen auch Hinweise auf Kindesmisshandlung finden können oder wir beobachten, dass die Interaktion zwischen Eltern und Kind angespannt ist, und können das ansprechen.
Ihr Verband will jetzt eine Abfrage in den Kinderkliniken machen, um herauszubekommen, ob die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen und Belastungen dazu führen, dass Kinder häufiger misshandelt werden. Haben Sie dafür Anhaltspunkte?
Nein, nicht in meiner Praxis, und nach meiner Kenntnis hat das Bremer Gesundheitsamt aus Kliniken, Ämtern und Jugendhilfeeinrichtungen auch nichts anderes gehört. Aber das Problem ist ja, dass wir nicht wissen, was zu Hause geschieht. Viele Meldungen wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdungen kommen sonst aus Schulen und Kindergärten oder von sozialen Diensten, die die Familien seltener sehen und, wie ich erfahren habe, auch seltener von diesen angefragt werden.
Aber vielleicht bricht jetzt nicht überall die Hölle aus? Ich habe mit einem Mitarbeiter aus der Bremer Familienhilfe gesprochen, der sagte, nach seiner Wahrnehmung kämen viele Familien erstaunlich gut klar – auch wenn ein Misstrauen bleibe.
Ja, das ist alles Spekulation. Es kann auch sein, dass die Krise die Chance bietet, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und dazu kann die Familie gehören. Viele Eltern erleben eine sehr intensive Zeit mit ihren Kindern – wenn keine wirtschaftlichen Nöte im Vordergrund stehen oder der Druck sehr hoch ist, auf der Arbeit gut zu funktionieren. Aber das kann ja wohl kein Grund dafür sein, die Schulen und Kindertagesstätten weiter geschlossen zu halten! Der Schaden für alle Kinder wäre zu hoch. Im Homeschooling verschärfen sich zudem soziale Unterschiede im Lernerfolg.
Ich möchte darauf zurückkommen, dass Eltern jetzt seltener mit ihren Kindern in die Praxen kommen. Ist das vielleicht in einigen Fällen auch sinnvoll, weil es eigentlich gar keinen Grund gibt, sie zum Arzt zu schleppen?
Das kann sein. Es gibt, glaube ich, weltweit kein Land mit so vielen Arztkontakten wie Deutschland, und bei Kindern liegt das auch daran, dass es eine große Unsicherheit im Umgang mit Infekten, aber auch mit Alltäglichem wie Ernährung und Körperpflege gibt. Da wird vieles an uns Ärztinnen und Ärzte übertragen, was früher vielleicht zwischen den Generationen weitergegeben wurde. Der kinderärztliche Notdienst abends und am Wochenende ist normalerweise sehr hoch frequentiert, da geht es häufig um Sachen, die keine Notfälle sind. Dort sehen wir momentan sicher 80 Prozent weniger Kinder. Dennoch ist es wichtig, Eltern zu vermitteln, dass sie auch jetzt Arztpraxen aufsuchen können. Wir arbeiten mit hohen Hygienestandards und halten die Abstände zwischen den PatientInnen und Eltern im Wartebereich ein.
Aber Sie selbst nicht.
Nein, das geht nicht vollumfänglich, aber wir tragen Mundschutz und versuchen auch Abstand einzuhalten. Ich hatte noch kein einziges Kind mit Corona und wir bitten alle Eltern, wenn möglich, mit einem Mund-Nase-Schutz und nur einer Begleitperson zu kommen. Ich verstehe alle Eltern, die jetzt ein erkältetes oder fieberndes Kind zu Hause haben und beunruhigt sind, weil es seit Wochen keine andere Kinder mehr gesehen hat und sich eigentlich nirgendwo angesteckt haben kann. Da gilt aber das, was auch vor Corona schon galt. Wenn mein Kind hohes Fieber hat und ich habe keine Ahnung, was dahinterstecken könnte, gehört es ärztlich untersucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste