Kinderschutz in Zeiten von Corona: Hinter den Gardinen​

Die Corona-Krise stellt die Kinder- und Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Jugendämter warnen vor häuslicher Gewalt und Kindesmissbrauch.​

Ein Maedchen mit Sprungball

Geschlossene Schulen und Kitas stellen viele Familien vor Herausforderungen Foto: Jens Büttner/dpa

BERLIN taz | Seit einigen Wochen kommt in der ambulanten Jugendhilfe von Thomas Röhl vermehrt ein Pferd zum Einsatz. „Wir laufen links, die Familie rechts“, erzählt der Diplom-Sozialarbeiter. In Zeiten von Corona dient das Pferd nicht nur als Abstandshalter, sondern ist auch aus anderen Gründen sinnvoll. Ein gemeinsamer Spaziergang mit dem Tier breche die konfrontative Situation zwischen Familie und Sozialarbeiter auf und habe eine vermittelnde Wirkung, sagt Röhl.

Thomas Röhl, 42, ist Leiter eines freien Trägers der Jugendhilfe in Paderborn. Im Auftrag der Jugendämter begleitet der Sozialarbeiter Familien, bei denen Schwierigkeiten in der Erziehung auftreten oder das Kindeswohl gefährdet ist. Von welcher Bedeutung diese Arbeit in Zeiten der Corona-Krise ist, macht ein Schreiben der Jugendämter deutlich. Darin warnen diese vor einer erhöhten Gefährdungslage für Kinder und Jugendliche und rufen zu Wachsamkeit auf, um Kinder in der Krisenzeit vor Gewalt und Verwahrlosung zu schützen.

„Geschlossene Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen stellen viele Familien vor besondere Herausforderungen“, sagt der Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter, Lorenz Bahr. „Gerade wenn die feste Tagesstruktur fehlt, wirtschaftliche Not herrscht oder der Wohnraum zu knapp ist, kann das zu Konflikten und häuslicher Gewalt führen.“

Die weitgehenden Ausgangsbeschränkungen erschweren die Arbeit der Jugendämter. „Die Face-to-Face-Begegnung ist für uns Familienhelfer unerlässlich“, erklärt Sozialarbeiter Röhl. Nur so könne man sich ein wirkliches Bild von der Familiensituation verschaffen. In Zeiten der Kontaktsperre ist daher Kreativität gefragt. „Das reicht vom Video-Chat bis hin zum Hausbesuch am Fenster“, sagt Röhl.

Nicht ganz freiwillig

Allerdings gebe es auch Familien, die die Ausnahmesituation nutzten, um den unerwünschten Besuch zu vermeiden, erklärt Jürgen Werner vom Berliner Kinderschutz-Zentrum. „Eine Reihe von Familien ist nicht ganz freiwillig hier“, sagt der Familientherapeut. In einigen Fällen, in denen es in der Vergangenheit zur Gefährdung des Kindeswohls gekommen ist, seien Eltern gegenüber der Jugendhilfe sehr misstrauisch.

Einen Anstieg von häuslicher Gewalt bei den Familien, die vom Kinderschutz-Zentrum betreut werden, kann Werner noch nicht ausmachen. Ebenso wenig Sozialarbeiter Röhl aus Paderborn. Die Jugendämter der Region verzeichnen ihm zufolge bislang keine erhöhten Fallzahlen. Ein möglicher Grund: Durch die Schließung von Kitas und Schulen fällt die wichtigste Kontrollinstanz weg, über die Missstände oftmals gemeldet werden.

Inwiefern sich die Corona-Krise bereits auf Familien auswirkt, zeigen die Statistiken des Nummer gegen Kummer e.V. Die Telefon-Hilfe stellt eine ansteigende Nachfrage nach ihrem Angebot fest. Im Vergleich zu den Vormonaten seien die Anrufe beim Elterntelefon um 21 Prozent gestiegen. Während die Nachfrage nach dem Kindertelefon gleich hoch bleibe, nähmen Kinder und Jugendliche vermehrt die Chat-Beratung in Anspruch, teilt der Verein mit. Die Anfragen im März hätten die der Vormonate um 26 Prozent überstiegen. Die Tendenz ist steigend: „Wir erwarten zukünftig zunehmende Anfragen beispielsweise zu den Themen Zukunftsängste, Einsamkeit, Frust und Konflikte in der Familie“, sagt Projektmitarbeiterin Christina Wiciok.

Zahlen wie bei der Hitparade

Dass die Folgen der Ausnahmesituation gravierend sein werden, betont auch Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert. Viele Eltern seien aufgrund der Corona-Pandemie stark belastet und machten sich Sorgen um die Zukunft und ihre Kinder. „Kein Wunder, jeden Abend laufen die Corona-Todeszahlen der verschiedenen Länder im Fernsehen wie bei der Hitparade“, sagt Fegert. Das verstärke die ohnehin schon bedrohliche Situation.

Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Ulm, leitet unter anderem den wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen am Bundesfamilienministerium. Gemeinsam mit hundert anderen Wissenschaftler*innen hat Fegert Ende März einen Appell unterzeichnet, der dazu aufruft, die Kinder- und Jugendhilfe bundesweit als systemrelevant anzuerkennen. Auch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey unterstützte diese Forderung inzwischen öffentlich. Mittlerweile hätten nahezu alle Länder die Notfallbetreuung für die Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendhilfe sichergestellt, teilt eine Sprecherin des Familienministeriums auf Nachfrage mit. Für den Ausbau der verschiedenen Beratungsangebote will das Ministerium bis zu eine Million Euro in die Hand nehmen.

Die Qualität der deutschen Kinder- und Jugendhilfe lebe von dem breiten Netz ambulanter Hilfen, erklärt Fegert. „Wenn das zusammenbricht und mit den Schulen und Kitas die wichtigsten Melder wegfallen, drohen viele familiäre Krisen zu eskalieren“, sagt der Psychiater. Fegert verweist auf Berichte aus Wuhan, die einen deutlichen Anstieg von häuslicher Gewalt und eine Überbelegung von Frauenhäusern in der Corona-Krise festgestellt hätten. Auch das Kinderhilfswerk UNICEF warnte bereits Ende März vor erhöhten Gefahren für Kinder. Dazu gehören Misshandlung, geschlechtsspezifische Gewalt, Ausbeutung, soziale Ausgrenzung sowie die Trennung von wichtigen Bezugspersonen.

Es wird schlimmer

Um die Auswirkungen der Corona-Krise für Kinder und Jugendliche in den nächsten Monaten abzuschätzen, hilft ein Blick in die Vergangenheit: Laut Fegert stellen verschiedene wissenschaftliche Studien fest, dass auf alle wirtschaftlichen Rezessionen der letzten Jahrzehnte ein deutlicher Anstieg körperlicher, emotionaler und sexualisierte Gewalt gegen Kinder folgte. „Es wird sicher schlimmer werden als nach der Weltwirtschaftskrise“, prognostiziert der Psychiater. Der Grund: Zu der ökonomischen Krise kämen durch die zu erwartenden Todesfälle durch die Corona-Pandemie zusätzliche Trauerbelastungen hinzu.

Kinder- und Jugendhilfe oder Infektionsschutz? Dieser Gegensatz ist zu kurz gedacht. Denn: Die familiären Probleme aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie werden über das Ende der Infektionsschutzmaßnahmen hinausgehen. Dennoch: In der Abwägung zwischen gesundheitlichem Nutzen und sozialer Kosten des Infektionsschutzes wird die steigende Gefährdung von Kindern und Jugendlichen in den kommenden Wochen sicher eine Rolle spielen.

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