Kampagne „Wir zahlen nicht“: Aufruf zum Strompreis-Boykott
Aufgrund der Preissteigerungen ruft eine Initiative dazu auf, die Stromrechnungen nicht mehr zu zahlen. Eine Million Menschen sollen mitmachen.
Der Startschuss für die Kampagne nach dem britischen Vorbild „Don't pay UK“ fiel im Rahmen einer Pressekonferenz im Roten Salon der Volksbühne. Parallel dazu ging die Website wirzahlennicht.info online, auf der sich alle potenziell Beteiligten registrieren sollen. Ein Zähler gibt an, wie viele Menschen das bereits getan haben.
„Mit dem Eintreffen der Stromrechnungen in den vergangenen Monaten merken jetzt viele, dass es nicht nur bei Lebensmitteln knapp wird, sondern auch an die Energieversorgung geht“, hatte Kampagnensprecher Marvin Felder der taz bereits im Vorfeld gesagt. Man wolle zeigen, dass das Leiden unter den hohen Preisen „kein individuelles, sondern ein kollektives Problem“ ist.
Weil Nebenkosten nicht ohne die Gefahr einer Kündigung des Mietvertrags einbehalten werden können, konzentriere man sich auf den Strom. „Hier sehen wir einen politischen Hebel“, erklärt Nadine Deich von „Wir zahlen nicht“. Für Nichtzahlende droht zunächst eine Mahnung und im schlimmsten Fall das Abstellen. Laut Bundesnetzagentur wurde 2021 knapp 235.000 Haushalten der Strom gesperrt.
Forderung: 15 Cent
Mit dem Boykottaufruf verbindet „Wir zahlen nicht“ vier Forderungen. Erstens soll Strom für alle bezahlbar werden. Einen Festpreis von 15 Cent je Kilowattstunde hält die Initiative für sozial verträglich und angemessen. Dieser entspreche jenem Preis, den man für erneuerbare Energie zahlen müsste, ohne dass damit Energiekonzerne Profite erwirtschaften oder konventionelle Stromerzeugung subventioniert wird. Die deutsche energie- und klimapolitische Strategie sei gescheitert. „Es ist an der Zeit, diesen schlechten Deal neu zu verhandeln und die Energiewende voranzubringen“, sagt Lasse Thiele vom Konzeptwerk Neue Ökonomie.
Die seit Januar geltende Strompreisbremse, mit der die Bundesregierung 80 Prozent des Verbrauchs auf 40 Cent je Kilowattstunde deckelt, reicht der Initiative nicht aus. Noch 2021 hätte der durchschnittliche Strompreis bei 20 bis 25 Cent gelegen. Die Bremse setze demnach erst bei etwa 100 Prozent der Erhöhungen an. Auch reiche der im Bürgergeld vorgesehene Regelsatz von etwa 40 Euro für Strom für viele Empfänger:innen bei weitem nicht aus. Für Arme stelle die Energiekrise eine Notlage dar: „Vorher war ich am 15. pleite, heute schon am 8. eines Monats, bringt es Nicole Lindner auf den Punkt.
Die Initiator:innen fordern darüber hinaus, dass Stromabsperrungen verboten werden, also niemand gezwungenermaßen im Dunkeln sitzen wird. Das Gesetz zur Strompreisbremse sieht eine sogenannte Abwendungsvereinbarung und Härtefallregelungen vor, um die Menschen vor Absperrungen zu schützen. Dies helfe jedoch nur kurzfristig. Die Betroffenen würden dadurch Schulden anhäufen, während die Gesamtgesellschaft die Kosten trage.
„Außerdem gibt es viele, die holen sich gar keine Hilfe“, fügt die Erwerbsunfähigkeitsrentnerin Nicole Lindner, die als Betroffene ebenfalls auf dem Podium sitzt, hinzu. Oft seien die Hürden bei der Beantragung zu hoch.
Energiekonzerne enteignen
Dem politischen Charakter der Kampagne entsprechen die letzten beiden Forderungen: Die Stromerzeugung solle zu 100 Prozent aus regenerativen Energien erfolgen und private Stromkonzerne sollen enteignet werden.
Der Strommarkt ist kompliziert aufgebaut und unterliegt nicht nur deutschen, sondern auch europäischen Regularien. Der Preis bemisst sich an der teuersten Herstellungsart, die benötigt wird, um die Nachfrage zu bedienen. Laut Initiative ist daher eine internationale Vernetzung wichtig. „Es ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein europäisches“, sagt Marie Bach. „Wie kann es sein, dass Energieversorger Milliardengewinne erwirtschaften, während die Bürger:innen Stromabsperrungen befürchten?“
Die Kampagne wird getragen von Aktivist:innen, die gegen die Preissteigerungen der vergangenen Monate potestierten, und ist nach eigenen Angaben in Berlin, Köln, Leipzig und weiteren Städten organisiert. Ihr Ziel ist die Entstehung weiterer Lokalgruppen, die vor Ort Menschen zusammenbringen. In der britischen Vorbildkampagne haben im vergangenen halben Jahr tausende Aktivist:innen an dem Aufbau von boykottbereiten Strukturen gearbeitet. Seit der Dezemberrechnung verweigern laut „Don't pay UK“ eine Viertelmillion Menschen die Zahlung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen