Kämpfe im Osten der Ukraine: Wo die russische Offensive beginnt
Die Ukraine verteidigt im Osten die letzte Versorgungsroute. Wenn die Stadt in russische Hände gelangt, könnte es für Kyjiw schwierig werden.
Welche alternativen Versorgungsrouten bleiben den ukrainischen Soldaten, die in Bachmut ausharren? Nur eine: Parallel zu dieser Landstraße verläuft eine Schotterpiste. Robert, ein australischer Lkw-Fahrer, führt seit Monaten Hilfstransporte im Gebiet Donezk durch, er kennt die Gegend gut. Alle anderen Zufahrtswege Richtung Bachmut sind von russischen Soldaten blockiert. Wenn sich die Lage nicht bald ändert, fehlt nicht mehr viel, bis die Stadt vollständig eingekesselt ist.
Was wird in diesem Fall mit den Kyjiwer Truppen passieren? Weder ukrainische Kommandeure noch Rekruten möchten diese Frage beantworten, aber sie sind offensichtlich besorgt. „Ein taktischer Rückzug der ukrainischen Armee aus Bachmut wird eventuell in Erwägung gezogen, um ein Szenario ähnlich der Einkesselung in Mariupol zu vermeiden“, räumt einer der Soldaten ein. Gegenwärtig verlagert sich die Kriegsfront nach Westen.
In der benachbarten Kleinstadt Tschassiw Jar, über die Bachmut mit Lebensmitteln und Munition versorgt wird, ist die Lage ebenfalls kritisch, weil sie ständig unter Beschuss steht. Von ursprünglich rund 13.500 Bewohner*innen sind nur einige hundert geblieben, sie hausen in Kellern ohne Wasser und ohne Strom. Drei Läden haben noch geöffnet. Ziaur, ein Mann mittleren Alters, verkauft hier Lebensmittel. „Wir haben inzwischen gelernt, ukrainische von russischen Angriffen zu unterscheiden“, sagt er stolz. Dann knallt es und zwei ältere Frauen laufen angsterfüllt weg.
Empfohlener externer Inhalt
Flucht in Richtung Westen empfohlen
Die ukrainischen Behörden haben in Bachmut und Tschassiw Jar provisorische Notunterkünfte eingerichtet, um die Situation erträglich zu machen. Allerdings werden die Bewohner*innen nachdrücklich aufgefordert, in Richtung Westen zu fliehen. Ein Teil der Bevölkerung will trotzdem bleiben. Diese Menschen wollen ihr angestammtes Zuhause nicht verlassen, auch wenn das bedeutet, künftig unter russischer Besatzung zu leben. Auch diese Ansichten gibt es – ein Realität, der sich die Regierung in Kyjiw nicht entziehen kann.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Westlich von Bachmut und Tschassiw Jar liegt die Stadt Kostjantyniwka. Auch sie ist derzeit häufig Ziel russischer Angriffe. Von dort aus fahren ukrainische schlammverschmierte Fahrzeuge auf einer vereisten Straße voller Schlaglöcher mit enormer Geschwindigkeit zur östlichen Frontlinie, circa zehn Minuten entfernt. Es geht darum, Drohnen und russischer Artillerie zu entgehen. Erschöpfung und Anspannung sind den Soldaten ins Gesicht geschrieben.
Die russische große Offensive rückt näher
Normalerweise versucht der ukrainische Präsident, Wolodimir Selenski, Optimismus zu verbreiten, wenn es um die Fähigkeiten seiner Truppen geht. In den vergangenen Tagen äußerte er sich jedoch zunehmend besorgt über die Lage an der östlichen Flanke, die mit jedem Tag schwieriger werde. Wenn die Achse Bachmut-Tschassiw Jar-Kostjantyniwka den Russen in die Hände fallen würde, rückte die Eroberung zweier großer Städte im Donezk, die Moskau noch nicht kontrolliert, in greifbare Nähe: Kramatorsk und Slowjansk.
Kramatorsk ist ein wichtiges Industriezentrum, Slowjansk für Russland und die Ukraine von großer Symbolkraft. Hier begann 2014 der Krieg im Gebiet Donezk, und nach pro-russischer Besatzung wurde Slowjansk von ukrainischen Streitkräften befreit.
In Kramatorsk arbeiten einige Männer an einem Schützengraben. „Die Russen werden es hier nicht leicht haben. Monate haben sie gebraucht, um bis Bachmut zu kommen. Ein paar Wochen werden auf keinen Fall reichen, um Kramatorsk und Slowjansk einzunehmen“, sagen sie. Derzeit häufen sich Informationen, wonach diese seit Jahren verschanzten Städte rund um den 24. Februar, den ersten Jahrestag des Angriffskrieges, eine große russische Offensive zu erwarten haben.
Viele hier glauben fest daran, dass das wirklich so kommen wird. Am vergangenen Donnerstag gab es allein in Kramatorsk drei tödliche Bombenangriffe auf zivile Infrastrukturen. „Sie wollen uns terrorisieren“, empört sich einer der Feuerwehrleute, die in einem völlig eingestürzten vierstöckigen Wohnblock nach Überlebenden suchen. Neben ihm sitzt Natascha, eine Achtzigjährige. Zwar habe sie ihr Haus verloren, sei jedoch erleichtert, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Während sie das erzählt, werden drei Leichen aus den Trümmern geborgen, sie waren ihre Nachbarn.
Aus dem Spanischen Gemma Terés Arilla
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau