Kachowka-Staudamm nach der Zerstörung: „Erdgeschoss überschwemmt!!! SOS“
Neben Hilfsorganisationen helfen Tausende, die Bevölkerung in der Region Cherson zu evakuieren. Doch es droht schon die nächste Gefahr.
„Keine Evakuierung zum linken Ufer, das ist unrealistisch“, antwortet eine Sekunde später eine Lena, die auf die russische Besatzung des linken Ufers des Flusses Dnipro hinweist. Nur die Stadt Cherson konnte von den ukrainischen Streitkräften im vergangenen November wieder erobert werden. Dann kommt die Nachricht von Katya: „Dorf Kardaschinka, Genossenschaft Tavria. Straße Kvartalnaya 33, Haus 216. 2 Rentner (Katze + 2 Hunde). Das Erdgeschoss ist komplett überschwemmt!!! SOS“.
Neben den lokalen und internationalen Hilfsorganisationen bilden solche informellen Netzwerke von Freiwilligen den Kern der Flucht- und Rettungsaktionen seit dem 24. Februar 2022. Internetverbindungen, Strom- und Wasserversorgung sind Mangelware in vielen Orten und solche virtuelle Mund-zu Mund-Kommunikation hilft dabei, Lücken zu füllen. Und viele Leben zu retten.
Nach Angaben ukrainischer Behörden wurden bis jetzt 6.000 Menschen auf beiden Seiten des Dnipro evakuiert. „1.894“, verkündete Ukraines Innenminister Igor Klymenko laut Nachrichtenagentur AFP. „4.000“, schrieb der von Russland eingesetzte Gouverneur in der Region Cherson, Wladimir Saldo, via Telegram.
Ist das Getreideabkommen in Gefahr?
Am Donnerstag, zwei Tage nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms, ist die Ursache dafür immer noch unklar. Kyjiw spricht weiter vom russischen Angriff. Moskau beschuldigt seinerseits die Ukraine. Auf Vorschlag des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, danach vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski angekündigt, soll nun eine internationale Untersuchung die Ursachen herausfinden. Selenski selbst war am Donnerstag in Cherson, um sich vor Ort ein Bild von den Schäden zu machen. In der Gemeinde Snihurivka wurde eine Katastrophenschutzzentrale eingerichtet, die rund um die Uhr arbeitet.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges versucht der im Mai wiedergewählte türkische Präsident Erdoğan als internationaler Akteur und Vermittler zu punkten. Denn im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine sitzt das Nato-Mitglied Türkei mit am Tisch, wenn über Gefangenenaustausche und das Schwarzmeer-Getreideabkommen verhandelt wird.
Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms könnte jetzt den Getreide-Deal gefährden. Die Ukraine ist der weltweit führende Erzeuger und Exporteur von Getreide und Ölsaaten. Nach Angaben des ukrainischen Agrarministeriums droht mit der Flutkatastrophe im Süden des Landes ein mehrere Milliarden Tonnen großer Ernteausfall. Einerseits wurden mindestens Zehntausende Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche überschwemmt, andererseits würden mindestens 500.000 Hektar Land künftig ohne Bewässerung auskommen müssen.
Parallel dazu äußerte sich Moskau erneut zum kürzlich verlängerten Getreideabkommen. Russland machte zur Bedingung, der Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine über das Schwarze Meer auch weiterhin zuzustimmen, die Wiedereröffnung der weltweit längsten Pipeline für Ammoniak, die Toljatti-Odessa-Pipeline. Sie wurde am Mittwoch angegriffen und ist seit Kriegsbeginn ungenutzt. Auch am Donnerstag wurde in Cherson geschossen.
Der Wasserstand des Kachowkaer Stausees nähert sich inzwischen einem gefährlichen Tiefpunkt. 150 Kilometer nördlich von Nowa Kachowka liegt das größte Atomkraftwerk Europas, Saporischschja. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) versichert, dass das AKW über genügend Wasser verfüge, um die Reaktoren für „mehrere Monate“ aus einem Becken oberhalb des Stausees zu kühlen. Am Donnerstagabend hieß es dann vom AKW-Betreiber via AFP, dass das Wasser aus dem Stausee doch nicht mehr für die Kühlung von Saporischschja reiche.
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