KZ-Sekretärin Irmgard Furchner gestorben: Die Berichte über betagte Nazis sind oft zu versöhnlich
Über manche Tote muss man etwas Schlechtes sagen, denn ihre Reue ist oft nicht recht glaubhaft.

N ächstes Jahr hätte die ehemalige Zivilangestellte des Konzentrationslagers Stutthof, Irmgard Furchner, ihren 100. Geburtstag feiern können. Doch sie starb im Alter von 99 Jahren in einem Pflegeheim. Nüchtern war die Nachricht von ihrem Tod, aber sie hatte auch einen versöhnlichen Klang.
Dass der Bundesgerichtshof im vergangenen Jahr die Verurteilung Furchners wegen Beihilfe zu 10.505 vollendeten und fünf versuchten grausamen Morden bestätigte, wurde geradezu beiläufig erwähnt.
Bereits der Beginn des Verfahrens gegen Furchner vor dem Landgericht Itzehoe 2021 hatte zwiespältige Reaktionen hervorgerufen. Furchner, die als 18/19-Jährige zwischen 1943 und 1945 in der Kommandantur des KZ Stutthof bei Danzig tätig war und den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe bei den „organisierten Tötungsabläufen„unterstützte, stand als damals 95-Jährige vor Gericht.
Das warf die Frage auf, ob es nötig ist, eine so betagte Frau noch zur Rechenschaft zu ziehen. Muss nach all den Jahren noch ein solches Verfahren geführt werden? Diese Einwände kamen nicht nur aus den üblichen rechtsextremen Kreisen, sondern waren Ausdruck einer breiteren Diskussion.

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Im Land der Mörder, Nutznießer und Mitläufer wurde die Anklage offenbar als staatliches Pflichtprogramm empfunden. Die Opfer und ihre Angehörigen erschienen zwar an 40 Verhandlungstagen im provisorischen Gerichtssaal auf dem Gelände des China Logistic Center in Itzehoe, berichteten von den Morden durch Verhungern, Erschießen, Abspritzen und Vergasen. Aber wurden sie wirklich gehört?
Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann warnte bereits 1988, dass das kulturelle Gedächtnis, das von staatlichen Erinnerungsmotiven mitbestimmt wird, sich vom kommunikativen Gedächtnis, das von familiären Erzählnarrativen mitbestimmt wird, entfremdet.
Als Folge zeichnet sich ab, dass die Kinder und Enkel der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Rolle ihrer Eltern und Großeltern in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft so verstehen, als hätten sie die Verbrechen weder begangen noch unterstützt oder gar davon profitiert.
Diese Sichtweise schlägt sich auch in den Nachrufen auf Furchner nieder. Oft verschweigen diese sogar, dass die Angeklagte zum Beginn des Prozesses mit einem Taxi aus dem Altersheim geflohen war.
Doch über manche Tote muss man Schlechtes sagen. Etwa, dass Furchner bei einer früheren Durchsuchung ihres Heimzimmers die Ermittlungen als „lächerlich“ bezeichnet und betont hatte, sie habe ein reines Gewissen: Sie selbst will von den Verbrechen nichts gesehen, gehört oder gerochen haben.
Im Prozess wurde bekannt, dass Lagerkommandant Hoppe auf der Flucht 1948 und 1949 bei Furchner in Schleswig aufgetaucht war – im Wissen, nicht verraten zu werden. Am Ende des Prozesses erklärte die KZ-Sekretärin: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“ Worte, die offen ließen, ob sie das Leid der Inhaftierten bereute – oder ihre Verfolgung durch die Behörden.
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