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KZ-Sekretärin Irmgard Furchner gestorbenDie Berichte über betagte Nazis sind oft zu versöhnlich

Andreas Speit
Kommentar von Andreas Speit

Über manche Tote muss man etwas Schlechtes sagen, denn ihre Reue ist oft nicht recht glaubhaft.

Zeigte Reue, allerdings unklar wofür: die ehemalige Sektretärin des KZ Stutthoff Irmgard Furchner Foto: Christian Charisius/dpa

N ächstes Jahr hätte die ehemalige Zivilangestellte des Konzentrationslagers Stutthof, Irmgard Furchner, ihren 100. Geburtstag feiern können. Doch sie starb im Alter von 99 Jahren in einem Pflegeheim. Nüchtern war die Nachricht von ihrem Tod, aber sie hatte auch einen versöhnlichen Klang.

Dass der Bundesgerichtshof im vergangenen Jahr die Verurteilung Furchners wegen Beihilfe zu 10.505 vollendeten und fünf versuchten grausamen Morden bestätigte, wurde geradezu beiläufig erwähnt.

Bereits der Beginn des Verfahrens gegen Furchner vor dem Landgericht Itzehoe 2021 hatte zwiespältige Reaktionen hervorgerufen. Furchner, die als 18/19-Jährige zwischen 1943 und 1945 in der Kommandantur des KZ Stutthof bei Danzig tätig war und den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe bei den „organisierten Tötungsabläufen„unterstützte, stand als damals 95-Jährige vor Gericht.

Das warf die Frage auf, ob es nötig ist, eine so betagte Frau noch zur Rechenschaft zu ziehen. Muss nach all den Jahren noch ein solches Verfahren geführt werden? Diese Einwände kamen nicht nur aus den üblichen rechtsextremen Kreisen, sondern waren Ausdruck einer breiteren Diskussion.

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Im Land der Mörder, Nutznießer und Mitläufer wurde die Anklage offenbar als staatliches Pflichtprogramm empfunden. Die Opfer und ihre Angehörigen erschienen zwar an 40 Verhandlungstagen im provisorischen Gerichtssaal auf dem Gelände des China Logistic Center in Itzehoe, berichteten von den Morden durch Verhungern, Erschießen, Abspritzen und Vergasen. Aber wurden sie wirklich gehört?

Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann warnte bereits 1988, dass das kulturelle Gedächtnis, das von staatlichen Erinnerungsmotiven mitbestimmt wird, sich vom kommunikativen Gedächtnis, das von familiären Erzählnarrativen mitbestimmt wird, entfremdet.

Als Folge zeichnet sich ab, dass die Kinder und Enkel der deutschen Mehrheitsgesellschaft die Rolle ihrer Eltern und Großeltern in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft so verstehen, als hätten sie die Verbrechen weder begangen noch unterstützt oder gar davon profitiert.

Diese Sichtweise schlägt sich auch in den Nachrufen auf Furchner nieder. Oft verschweigen diese sogar, dass die Angeklagte zum Beginn des Prozesses mit einem Taxi aus dem Altersheim geflohen war.

Doch über manche Tote muss man Schlechtes sagen. Etwa, dass Furchner bei einer früheren Durchsuchung ihres Heimzimmers die Ermittlungen als „lächerlich“ bezeichnet und betont hatte, sie habe ein reines Gewissen: Sie selbst will von den Verbrechen nichts gesehen, gehört oder gerochen haben.

Im Prozess wurde bekannt, dass Lagerkommandant Hoppe auf der Flucht 1948 und 1949 bei Furchner in Schleswig aufgetaucht war – im Wissen, nicht verraten zu werden. Am Ende des Prozesses erklärte die KZ-Sekretärin: „Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“ Worte, die offen ließen, ob sie das Leid der Inhaftierten bereute – oder ihre Verfolgung durch die Behörden.

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Andreas Speit
Autor
Rechtsextremismusexperte, Jahrgang 1966. In der taz-Nord schreibt er seit 2005 die Kolumne „Der Rechte Rand“. Regelmäßig hält er Vorträge bei NGOs und staatlichen Trägern. Für die Veröffentlichungen wurde er 2007 Lokaljournalist des Jahres und erhielt den Preis des Medium Magazin, 2008 Mitpreisträger des "Grimme Online Award 2008" für das Zeit-Online-Portal "Störungsmelder" und 2012 Journalisten-Sonderpreis "TON ANGEBEN. Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" des Deutschen Journalistenverbandes und des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt. Letzte Bücher: herausgegeben: Das Netzwerk der Identitären - Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten (2018), Die Entkultivierung des Bürgertum (2019), mit Andrea Röpke: Völkische Landnahme -Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos (2019) mit Jena-Philipp Baeck herausgegeben: Rechte EgoShooter - Von der virtuellen Hetzte zum Livestream-Attentat (2020), Verqueres Denken - Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus (2021).
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20 Kommentare

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  • Ohne das Urteil bewerten zu wollen frage ich mich, wie hätten wir uns, nicht einmal volljährig, verhalten? Hätten wir damals unter den gegebenen Umständen diese Stelle im Sekretariat ablehnt, mit allen möglicherweise damit verbundenen Konsequenzen ? Ich weiß es einfach nicht, weil ich eben nicht dieser Situationausgesetzt war oder bin und in einer freiheitlichen Demokratie lebe.

  • Das zwiespältige Gefühl kommt wohl auch daher, dass man den Eindruck hat, erst hat man die Haupttäter der KZs (SS Leute etc.) laufen lassen und jetzt will man bei einer Sekretärin Konsequenz zeigen, die das zweifelhafte Glück hatte, lange genug zu leben. Ja, ich finde Strafgerichtsurteileauch im hohen Alter, richtig und notwendig aber trotzdem bleibt das unbefriedigende Gefühl, dass die Meisten Täter des NS Staates davon gekommen sind.

  • Wenn ich einfach mal nachrechne wird man die DDR Verbrechen wohl erst nach 2070 aufarbeiten.

  • Wie man hier im Forum gut erkennen kann, gibt es leider immer noch diese Verharmloserseelen, die den Täter zum Opfer machen wollen. Kein Deutscher wurde gezwungen, im KZ oder Vernichtungslager Dienst zu tun und es gab daher auch keine Bestrafungen, wenn sie sich Tötungsbefehlen widersetzten. Dies ist die deutsche Lebenslüge der Nachkriegszeit. Es ist im Übrigen auch eine Verhöhnung all derjenigen, die sich damals für die Menschlichkeit entschieden haben und eben nicht bei der Vernichtung mitgemacht haben. Das kann und muss ich von einer 18-jährigen erwarten. Diese Leute werden immer noch mit einer Verve verteidigt, weil es eben unbequem ist anzuerkennen, dass man auch anders hätte handeln können.

    • @K2BBQ:

      Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Sie wüssten, wie Sie sich damals verhalten hätten? Das kann heute niemand, der diese Zeit (zu unserem großen Glück) nicht mitmachen mußte.



      Vielleicht wären gerade Sie einer der größten Unterstützer des Naziregimes gewesen...wer weiss es?



      Wir können heute nur dafür sorgen, dass wir diese Zeiten aufarbeiten und dafür sorgen, dass soetwas nie, nie wieder passiert.

  • Die armen Greise und Greisinnen, die da bedauert werden, verbrachten unbehelligt ihre besten Jahre in Freiheit, obwohl sie dabei halfen, dass Millionen ermordet wurden, denen diese schönen Jahre vorenthalten wurden. Niemand war bereit, in der Lage, was weiß ich, diese gewissenlosen Täter und Täterinnen früher zur Rechenschaft zu ziehen. DAS ist die Schande. Und nicht händisch beim Morden mitzuwirken, spricht nicht von der Verantwortung frei. Ich glaube gerne, dass Menschen im gleichen Alter heute genau solche Schuld auf sich laden würden. Das macht es nicht besser. Es zeigt nur, dass diese Gesellschaft nichts gelernt hat.

  • Die Kleinen wollte man dann am Ende noch hängen, weil man vorher die Großen hat laufen lassen. In den Fällen der in den vergangenen Jahren angeklagten Sekretärinnen, Hilfskräfte, subalterner Ränge ging es der deutschen Justiz nicht um Recht oder gar Gerechtigkeit: Nachdem die Täter aus den eigenen Reihen endlich tot waren, konnte man so tun, als ob die deutsche Justiz beider Staaten jetzt aber wirklich mal so richtig gegen die Altnazis vorginge. Juristisches Selbstbeweihräucherung, sonst nichts.

    • @mumba:

      Stimmt. Selbstbeweicherung der Justiz.

    • @mumba:

      Dem ist schwer zu widersprechen. Leider.

  • Man muss ja die Würde des Menschen beachten. Auch ein verurteilter Mörder wird in der Haft medizinisch behandelt, wird am durchgebrochenen Blinddarm behandelt und wenn es sein muss mit dem Hubschrauber ins nächste Krankenhaus verlegt. Menschen im Alter von Frau Furchner haben eine äußerst eingeschränkte Belastbarkeit. Es passiert immer wieder, dass Personen dieses Alters einige Tage nach ihren Geburtstagsfeierlichkeiten an Erschöpfung versterben. Menschen diese Alters müssen ihre Zeit für sich und ihr nahendes Ende verwenden dürfen. - Man muss auch Unterschiede machen: Wer 1920, 1925 , 1930 , 1935 geboren und danach sozialisiert wurde, wurde in unterschiedlichen Stufen der Gleichschaltung sozialisiert, die als wichtigstes Ziel die Aberziehung der Selbstreflexion hatte.



    Eine der Schlüsselfragen ist ja, wo war die Justiz vor 30 oder 50 Jahren ? Fritz Bauer hat die Antwort gegeben : '" Wenn ich mein Büro verlasse betrete ich Feindesland."



    Ein weiteres Problem dieser Gerechtigkeit : Eine Person mit einer Lebenserwartung von 2 Jahren erhält nicht eine 2 - jährige sondern eine lebenslange Freiheitsstrafe.



    Bei Irmgard Furchner und anderen ist die Justiz zu spät gekommen.

    • @Hans - Friedrich Bär:

      Die Justiz ist hier zu späte gekommen, weil bis 2011 der Rechtsgrundsatz galt, dass nur direkte Täter verfolgt werden konnten. Die Taten der Helfershelfer galten bis dahin als verjährt.



      Das hat dazu geführt, dass sich die überwältigende Mehrheit dieser Mittäter zu Lebzeiten nie hat verantworten müssen. Und ja, das war offensichtlich genau so gewollt.



      Es hat also "nur" diejenigen getroffen, denen im Gegensatz zu den Millionen von Opfern ein langes Leben beschert war. Dafür sind 2 Jahre dann am Ende och recht milde, oder?

  • Tja, wer weiß, was ein Andreas Speit als 18-/19-jähriger zu der Zeit gemacht hätte? Vielleicht wäre er begeistertes Mitglied der HJ gewesen? Niemand von uns, die die Gnade der späten Geburt erfahren durften, kann sagen, wie wir uns damals verhalten bzw was wir gemacht hätten. Wir können uns nur für das schämen, was damals passiert ist und dafür kämpfen, dass so etwas nie wieder passiert. Aber niemand von uns kann sagen, dass er damals wie Sophie Scholl oder andere Kämpfer gegen das Nazi-Regime aufgestanden wäre.

    • @WederLinksNochRechts:

      Es geht aber vor allem darum, wie man als älterer Mensch mit seiner Vergangenheit umgeht.

  • Vielleicht weil hier ein Leben von 99Jahren auf zwei Jahre im Alter von 18/19 Jahren eingedampft wird.



    Ein Alter in dem wir sonst geneigt sind auch Böses zu vergeben.

    • @Dromedar:In:

      Sie hat bis zum Schluss, 80 Jahre lang, nicht eingesehen, was denn bloss alle von ihr wollen. Gegen so alte Täter wurden beim kleinsten Anzeichen von Reue lediglich symbolische Strafen verhängt, also finde ich das Argument ihres damaligen Alters nicht ganz so zwingend.

  • Hölle:+1



    Wirklich erheblich erschreckender finde ich, dass die geistigen Erben der Nazis noch immer von Steuergeldern finanziert ihre menschenverachtende Ideologie weiterverbreiten können, weil die Politiker für ein Parteiverbot zu feige sind !



    Nie wieder ? - Wäre schön gewesen...!

  • Wie würden sich heutige 18-19-Jährige in einer ähnlichen Situation verhalten? Würden sie mitmachen aus Angst vor Konsequenzen bei einer Verweigerung? Würden sie rechtzeitig erkennen, dass sie sich an einem Verbrechen beteiligen? Ich halte die Beantwortung dieser Fragen für wichtig, damit solche staatlich initiierten kollektiven Verbrechen nie wieder geschehen können.

    Nach heutigen Maßstäben unterliegen solche Taten angesichts des Alters der Angeklagten dem Jugendstrafrecht. Es musste zwangsläufig wegen der Beteiligung an einem Mord angeklagt werden, weil alles Andere bereits verjährt wäre.

    Was mich jedoch ärgert, ist, dass viele geistige Wegbereiter, sei es als Juristen oder Verwaltungsbeamte, die durch die Ermöglichung, Unterstützung und Kenntnis solcher Verbrechen ebenfalls als mitschuldig zu betrachten wären, wenn auch vielleicht weniger direkt, ohne jede Konsequenzen nach dem Krieg weitermachen konnten.

  • Wenn wir das aus heutiger Sicht betrachten, würde eine 18-19 Jährige Sekretärin überhaupt in Haft kommen, wenn im Zimmer hinter ihr gemordet wird? Das ist durchaus eine ernste Frage, die ich mir stelle. Man würde ja sagen, sie sei in diese schlimmen Zeiten reingewachsen, schlechte Jungend, durch die Erziehung verdorben. Täterschutz ist durchaus ein sehr ausgeprägtes Phänomen hier, umso mehr, je jünger die Angeklagten sind. Aber nach oben gibt es wohl auch eine Grenze.

    Persönlich finde ich die Fälle unerträglich. Weil sie einfach viel zu spät sind. Die Leute haben 70-80 Jahre wahrscheinlich ein tolles Leben gehabt. Eine gerechte Strafe kann man gar nicht mehr geben, wenn man sowieso nicht weiß, ob die Person im nächsten Moment einfach umkippt. Andere sind ja schon längst nicht mehr zu kriegen.

  • Das geht mir auch manchmal durch den Kopf.



    Ich denke dann immer an den vorzüglichen Dokumentarfilm "Im toten Winkel" über Hitlers Sekretärin Traudl Junge, die nach dem Krieg unbehelligt in München lebte.

    Die hatte sich immer darauf herausgeredet, sie sei damals ja noch so jung und unerfahren gewesen.



    Nach dem Film gibt es noch einen (von Traudl Junge gesprochenen) "Epilog":



    Sie sagt (sehr überlegt und kühl-zurückhaltend, aber nachdenklich und zum Schluss sehr fest) so in etwa:

    "Neulich bin ich hier am Denkmal für die Geschwister Scholl vorbeigegangen. Ich glaube, zum ersten Mal in meinem Leben bin ich stehen geblieben und habe mir durchgelesen, was da stand.



    Da hab ich gelesen, dass die Sophie Scholl so jung war, wie ich - sogar noch jünger."



    Pause

    "Seitdem weiß ich, dass Jugend und Unerfahrenheit eben doch keine Entschuldigung sein können."

    • @Oliver Korn-Choodee:

      Der Vater von Sophie Scholl war im Widerstand und selbst inhaftiert. Das wusste seine Tochter. Das ist etwas anderes als angepasste Elternhäuser. Das Denkmal hat, so verstehe ich den Nachsatz von Traudl Junge, seinen Zweck erfüllt.