Israels Annexionspläne: Vorbereitet für die Landnahme
US-Außenminister Mike Pompeo gibt grünes Licht für eine Annexion von Teilen des Westjordanlands. Wagt Premier Netanjahu den Schritt?
Mit der in diesen Tagen anstehenden Vereidigung der neuen israelischen Regierung scheint es, als sei alles vorbereitet für Netanjahus geplante Landnahme. Auch die Regierungsvereinbarung zwischen Netanjahu und seinem Koalitionspartner Benny Gantz gibt grünes Licht. Ab dem 1. Juli kann der Ministerpräsident der Knesset die Annexion der Gebiete vorschlagen. Netanjahu weiß, dass er schnell handeln muss, wenn er ein neues Kapitel in der Geschichte eines „Groß-Israel“ schreiben will. Denn sollte Trumps demokratischer Herausforderer Joe Biden im November die US-Wahl gewinnen, wäre die Annexion, die Umfragen zufolge von mehr als der Hälfte der jüdischen Israelis begrüßt werden würde, wohl vom Tisch.
Doch auch andere Punkte könnten noch Sand ins Getriebe streuen. Zum einen kommt Druck von der internationalen Gemeinschaft. Die Vereinten Nationen warnten, dass mit einer Annexion „jede Hoffnung auf Frieden“ zwischen Israel und den Palästinensern zerstört werden könnte. Und die Außenminister der Europäischen Union wollen am Freitag miteinander beraten, um mögliche Reaktionen – darunter laut Medienberichten auch Wirtschaftssanktionen – auf eine Annexion zu erörtern. Sollte die EU tatsächlich ernsthafte Schritte einleiten, würde dies die israelische Wirtschaft empfindlich treffen.
Harsche Kritik an den Annexionsplänen kommt aber auch aus Israel selbst. Seit April führen Hunderte hochrangige Politiker und ehemalige Stabschefs unter dem Namen „Kommandanten für die Sicherheit Israels“ eine Kampagne, in der sie Gantz aufrufen, eine Annexion zu verhindern. Die Annexion würde „wahrscheinlich eine Kettenreaktion hervorrufen, die Israel nicht kontrollieren kann“, warnen sie. Sie würde „vermutlich zu einem Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde führen, was wiederum Israel zwingen würde, Kontrolle über das gesamte Westjordanland zu übernehmen.“ Die Folge wäre demnach, dass Israel die jüdische Mehrheit innerhalb der Landesgrenzen verliert – ein Szenario, vor dem viele Israelis Angst haben.
Eine wichtige Frage, die bislang kaum in der politischen Arena diskutiert wird, ist, welchen Status die Palästinenser*innen in den annektierten Gebieten erhalten würden. Menschenrechtsaktivist*innen vermuten, dass die Frage wie für Ostjerusalem gehandhabt werden könnte. Die in dem 1980 annektierten Stadtteil lebenden Palästinenser*innen haben in der Regel einen permanenten Aufenthaltsstatus und können beispielsweise an Kommunalwahlen teilnehmen, nicht aber das israelische Parlament wählen. Sie haben allerdings die Möglichkeit, sich für die israelische Staatsbürgerschaft zu bewerben, auch wenn die Hürden dafür hoch sind.
Ronni Shaked vom Jerusalemer Harry-S.-Truman-Institut für Friedensentwicklung ist mehr als alarmiert: „Die Likudunterstützer verstehen nicht, was eine Annexion bedeutet“, warnt er. „Eine Annexion kann eine Intifada im Westjordanland und einen Krieg mit dem von der Hamas regierten Gaza hervorrufen.“ Laut Shaked würde der Schritt sogar das Ende der Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien sowie aller Beziehungen mit arabischen Ländern bedeuten. „Vor allem aber wäre die Annexion das Ende von Israel als demokratischem Staat und der Sargnagel für die Zwei-Staaten-Lösung“, befürchtet Shaked.
Das sehen nicht alle so drastisch. Eine Annexion würde keine großen Veränderungen nach sich ziehen, meint der Haaretz-Journalist Gideon Levy. Die besetzten Gebiete seien de facto schon vor 52 Jahren annektiert worden. Levys Hoffnung ist vielmehr, dass eine offizielle Annexion „dieser Maskerade ein Ende setzen“ würde.
Scheitern könnte eine baldige Annexion jedoch auch noch an technischen Voraussetzungen. Trumps Nahostplan sieht vor, dass alle Siedlungen im Westjordanland sowie das Jordantal annektiert werden. Um die genauen Grenzen der zu annektierenden Gebiete festzulegen, reiste im Februar eine amerikanisch-israelische Delegation, der sogenannte Kartierungsausschuss, durch das Westjordanland. Kurz darauf zwang aber die Coronapandemie den Ausschuss, die Arbeit zunächst einzustellen. Was beispielsweise mit Teilen der palästinensischen Stadt Hebron passieren soll, in denen jüdische Siedler leben, ist eine von vielen offenen Detailfragen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen