Identitätspolitik beim Buchpreis: Kann Spuren von Urteil enthalten
Ronya Othman und Juliane Liebert werfen einer Buchpreis-Jury vor, nach Herkunft des Autors geurteilt zu haben. Und machen dabei selbst einen Fehler.
A ls Journalistin muss ich ziemlich viel Finger still halten. Was von dem, was ich weiß, mache ich öffentlich? Was löse ich aus? Wer geht als Verlierer*in vom Platz?
Seit einiger Zeit aber geht es in unserer Branche zu wie im Boulevard: als Whistleblowing um der höheren Werte willen, wird aus privaten Nachrichten oder halbprivaten Unterhaltungen ungefragt zitiert. Aus dem Geheimnisverrat von Insidern staatlicher Apparate ist das Verpfeifen von Kolleg*innen geworden. Das Private ist politisch. Recherche ist boomer.
Es ist die #metooisierung der politischen Debatte, die auf Reaktion in sozialen Medien zielt: „Kenn ich“, „Genau so!“, „Kotzsmiley“, „Hab es echt satt“, „Galgenemoji“.
Die Autor*innen Ronya Othman und Juliane Liebert haben das nun leider auch getan. Sie werfen der Jury des HKW (Haus der Kulturen der Welt) und deren Leitung vor, in der Auswahl für den Internationalen Literaturpreis 2023 keine literarischen Kriterien, sondern politische angewendet zu haben, konkret: Herkunft und Hautfarbe.
#metooisierung der politischen Debatte
Was ein überfälliger Beitrag über die Rolle identitätspolitischer Kriterien im literarischen Jurybetrieb hätte werden können, ist leider verunglückt. Um den Befund zu beweisen, zitieren sie unnötigerweise Aussagen von Kolleg*innen der Jury, die nicht öffentlich arbeitet. Jurymitglieder werden anonym zitiert. Die Zitierten wurden nach eigenen Angaben vorher nicht mal informiert. Das ist seitens der Autor*innen unkollegial und journalistisch unanständig.
Vorausgesetzt ihre Darstellung stimmt, hätten die beiden Autor*innen natürlich trotzdem sehr recht mit ihrer Empörung. Belege für ihre Behauptung, ihre Erfahrung sei kein Einzelfall, bringen sie allerdings nicht. Glaubhaft ist es natürlich, denn allzu oft wird heute Kunst, auch Literatur, so behandelt wie eine Tomate: Bevor wir sie kaufen, schauen wir uns die Deklaration ihrer Herkunftsregion an und kontrollieren, ob sie garantiert pestizid- und glutenfrei ist. Auf den Klappentexten der Romane wird das Deklarationsetikett mit Herkunftsland geklebt und mit dem Verweis auf „postmigrantisch“ politisch korrekte Literatur garantiert.
Identität ist zur Leitwährung für kulturelles Kapital geworden. Mir aber drängt sich eine andere Frage auf: Jenseits der Kritik an identitätspolitischen Kriterien – wie können die beiden Autor*innen von sich behaupten, dass sie als Einzige in der Jury mit rein literarischen Kriterien aus rein literarischen Motiven heraus die Texte bewertet haben?
Niemand ist frei von Urteilen
Ich bin selbst Mitglied einer Jury, die den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verleiht. Ich stolpere in dieser Funktion eigentlich permanent über meine eigenen Füße, ertappe mich dabei, mit Vorurteilen an die Bücher heranzugehen, frage mich, wie ich das abstellen kann, wie ich unter Kolleg*innen dastehe, wenn ich für diesen oder jene Autor*in abstimme. Frage mich, ob ich das Buch nur deswegen so scheiße finde, weil mich das Social-Media-Verhalten des Autoren gruselt oder weil er mal einen Meinungsbeitrag veröffentlicht hat, den ich politisch unterirdisch fand.
Und selbstverständlich laufen die Diskussionen auch in unserer Jury irgendwann immer genauso unpolitisch wie die über den ESC-Entscheid. Sind Jurys, die „objektiv“ über Kulturbeiträge zu richten haben, angemessen? Niemand ist frei von Vorurteilen, eigenem Geschmack und völlig unabhängig in seinem Urteil. Ich jedenfalls kann mir das Etikett „garantiert gluten-, äh, vorurteilsfreie Richterin für die Kunst“ nicht ankleben.
Auf den Etiketten von Tomaten fehlt eine Angabe: Ob die Arbeitsbedingungen für die Menschen, die sie gepflanzt, geerntet und verpackt haben, den Regeln von Mindestlohn, Arbeitszeit und Würde entsprachen. Auf den Deklarationsetiketten der Jurys fehlt der Hinweis: Kann Spuren von subjektivem Urteil enthalten.
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