Humanitäre Lage im Gazastreifen: „Gaza ist eine tickende Zeitbombe“
Israels neue Offensive gefährdet rund 400.000 Menschen im Norden von Gaza, sagt UNRWA-Sprecherin Juliette Touma – vor allem Alte, Frauen und Kinder.
taz: Frau Touma, die israelische Armee hat die Bewohner im Norden von Gaza am Samstag aufgefordert, die Gegend zu verlassen, da sie ihre Angriffe zu Boden und aus der Luft dort verstärken will. Wie ist die Lage?
Juliette Touma: Ja, dies ist der jüngste Vorstoß im nördlichen Gazastreifen, den wir erleben. Es gibt Schätzungen, dass bis zu 400.000 Menschen dort leben, darunter ältere Menschen, Frauen, Kinder und einfache Männer, abgeschnitten vom übrigen Gazastreifen. Dieser Teil des Gazastreifens hat im vergangenen Jahr am meisten gelitten, weil er nicht genügend humanitäre Hilfsgüter und Unterstützung erhalten hat und schon sehr früh von schweren Bombardierungen und schweren Militäroperationen der israelischen Armee betroffen war.
arbeitet seit 20 Jahren bei den Vereinten Nationen. Seit 2022 leitet sie die Kommunikationsabteilung des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), einer der größten UN-Agenturen der Welt.
Warum will die israelische Armee, dass dieses Gebiet erneut geräumt wird?
Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf diese Frage. Wir wissen, dass die israelische Armee bereits Dutzende solcher „Evakuierungsbefehle“ erteilt hat. Der Begriff ist unzutreffend. Praktisch und rechtlich gesehen handelt es sich um Zwangsräumungen: Den Menschen wird nur sehr, sehr wenig Zeit gegeben, ihre Sachen zu packen und zu fliehen – manchmal nur ein paar Minuten, manchmal Stunden. Dies ist in 90 Prozent des Gazastreifens immer wieder geschehen. Jetzt trifft es wieder den Norden. Die Menschen dort wurden bereits am 13. Oktober aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. Damals waren eine Million Menschen betroffen, seitdem wurden Dutzende von Evakuierungsbefehlen erteilt.
Die 400.000 Menschen, die sich noch im Norden aufhalten: Sind sie dort geblieben oder zurückgekehrt?
Beides. Im Norden liegt Gaza-Stadt, das wirtschaftliche Zentrum des Gazastreifens, in dem die große Mehrheit der Menschen lebte. Dort befanden sich die meisten Universitäten, Unternehmen, Banken und Krankenhäuser. Einige können nicht fliehen, weil sie alt, krank, schwanger oder körperlich behindert sind. Andere haben sich entschieden, ihre Häuser nicht zu verlassen.
Wie viele Menschen sind in Gaza gestorben? 99 Ärzte aus den USA, die in Gaza im Einsatz waren, haben einen Brief an Präsident Biden geschrieben. Sie gehen davon aus, dass dort bereits über 118.000 Menschen gestorben sind.
Wir gehen von den 42.000 Menschen aus, die nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza getötet wurden. Wir wissen aus anderen Konflikten, dass sich diese Zahlen nach Beendigung des Konflikts in der Regel als weitgehend korrekt herausstellen. Wir können diese Zahl derzeit nicht verifizieren. Die einzige Zahl, die wir mit Sicherheit kennen, ist die Zahl unserer Kollegen, die im vergangenen Jahr getötet wurden. 226 UNRWA-Mitarbeiter wurden im vergangenen Jahr getötet. Dies ist die höchste Zahl von UN-Mitarbeitern, die in der Geschichte der Vereinten Nationen ums Leben gekommen sind.
Wie steht es um die Gesundheitsversorgung in Gaza?
Sie steht kurz vor dem Zusammenbruch. Es ist ein Wunder, dass ein Drittel der Krankenhäuser noch in Betrieb ist. Wir betreiben unsere eigenen Kliniken, von denen 26 in Betrieb sind. Aber es kommt nur sehr wenig medizinisches Material nach Gaza, weder für die medizinische Grundversorgung noch für Notfälle oder kompliziertere Eingriffe.
Warum ist das so?
Der israelische Staat kontrolliert die Lieferungen in den Gazastreifen. Zu Beginn des Krieges riegelten die israelischen Behörden für zwei Wochen den gesamten Gazastreifen hermetisch ab. Dann wurde der Grenzübergang Rafah im Einvernehmen mit den Ägyptern geöffnet, um die Grundversorgung sicherzustellen. Seit Mai ist er geschlossen. Alle Einfuhren müssen von der israelischen Armee genehmigt werden. Vor dem Krieg fuhren täglich 500 Lastwagen über die Grenze nach Gaza, mit kommerziellen und humanitären Gütern. Diese Zahl haben wir an keinem Tag des Krieges mehr erreicht. Im November, während der kurzzeitigen humanitären Pause, kamen an einem Tag etwa 300 Lastwagen mit Hilfsgütern an. In den letzten zwei Monaten ist die Zahl auf 50 und 100 pro Tag gesunken. Das ist angesichts der humanitären Notlage absolut nichts.
Darum herrscht Hunger in Gaza?
Ganz genau. Zu Beginn des Jahres haben wir vor der Gefahr einer Hungersnot gewarnt, insbesondere im nördlichen Gazastreifen. Wir konnten diese Gefahr entschärfen, aber es herrscht immer noch Hunger in allen Teilen des Gazastreifens. Das ist kein Wunder, da nur sehr wenig humanitäre Hilfe ankommt – bei einer Bevölkerung von zwei Millionen Menschen, die schnell völlig abhängig von diesen Hilfsgütern geworden sind. In den Supermärkten und Geschäften gingen schon sehr früh die Vorräte zur Neige. Die Menschen haben nicht einmal mehr das Nötigste.
Vor einigen Monaten gab es Versuche, die Situation im nördlichen Gazastreifen zu verbessern: Die USA bauten einen Pier, der wieder abgebaut wurde, Deutschland ließ Hilfsgüter aus der Luft abwerfen. Hat das etwas gebracht?
All diese Versuche waren, offen gesagt, völlig unnötig. Der einfachste Weg, die Menschen im nördlichen Gazastreifen zu versorgen, besteht darin, Lastwagen den Grenzübertritt zu gestatten. Das UNRWA hat die Lastwagen, die Leute und die Logistik. Was wir brauchten, war die Erlaubnis der israelischen Armee. Im März verbot sie uns, Lebensmittel in den nördlichen Gazastreifen zu bringen. Es hätte nicht so kompliziert sein müssen. Die Vereinten Nationen haben eine Menge Erfahrung vor Ort. Sie brauchen den politischen Willen, um UNRWA die Arbeit in Gaza zu ermöglichen.
Im Gazastreifen breiten sich Krankheiten wie Polio aus. Was können Sie dagegen tun?
Nach 25 Jahren ist die Kinderlähmung in den Gazastreifen zurückgekehrt, nachdem sie bereits ausgerottet war. Das ist eine absolute Katastrophe und zeigt, wie schlimm die Situation ist. Mit Hilfe der Weltgesundheitsorganisation und Unicef haben wir in einer ersten Phase mehr als 560.000 Kinder unter zehn Jahren gegen Polio geimpft. Bald werden wir die zweite Phase der Kampagne starten, damit die Kinder ihre zweite Dosis erhalten. Erst dann sind die Kinder vor dieser lebensgefährlichen Krankheit geschützt.
Wie kann man mitten in einem Krieg Kinder impfen?
Die Vereinten Nationen haben sich mit den israelischen Behörden abgestimmt und erreicht, dass die Kämpfe in bestimmten Gebieten für zwei bis drei Tage unterbrochen wurden, damit unsere Teams die Kinder impfen konnten. Ein Waffenstillstand würde unsere Arbeit natürlich sehr viel einfacher machen. Und neue „Evakuierungsbefehle“, wie wir sie jetzt im Norden haben, sind nicht hilfreich. Wenn Menschen vertrieben werden, ist es für uns schwierig, herauszufinden, wo die Kinder geblieben sind.
Wie sieht die Schulsituation in Gaza aus?
Derzeit gehen etwa 650.000 Kinder nicht zur Schule. UNRWA ist weltweit die einzige Organisation der Vereinten Nationen, die eigene Schulen betreibt. Es sind die einzigen Schulen im Nahen Osten und in Nordafrika, die den Grundsätzen der Vereinten Nationen von Frieden, Toleranz und Neutralität verpflichtet sind. Leider können die Kinder in Gaza nun schon das zweite Jahr in Folge nicht zur Schule gehen. Dies ist eine tickende Zeitbombe.
Inwiefern?
Je länger die Kinder nicht zur Schule gehen, desto schwieriger ist es für sie, den Rückstand aufzuholen, und desto größer ist die Gefahr, dass sie ausgebeutet oder früh verheiratet werden, insbesondere die Mädchen, oder von bewaffneten Gruppen rekrutiert werden. Wir wissen das aus vielen anderen Konflikten, sei es in Somalia, Irak, Jemen, Afghanistan oder Syrien. Dies erhöht das Risiko, dass sich Ressentiments und Extremismus verfestigen. Im Hinblick auf die Stabilität in der gesamten Region wäre es ein Gewinn, wenn diese Kinder wieder zur Schule gehen könnten. Dies erfordert einen Waffenstillstand.
Israel verweigert Philipp Lazzarini, der das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) leitet, jetzt die Einreise. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Nachdem er den Gazastreifen während des Krieges viermal besucht hatte, wurde ihm im März zum ersten Mal die Einreise nach Gaza untersagt. Nun haben ihm die israelischen Behörden seit mehr als vier Monaten kein Visum mehr erteilt, sein letztes Visum lief am 10. Juni ab. Er kann also nicht mehr nach Israel und in das besetzte Westjordanland einschließlich Ostjerusalem reisen. Es ist absolut notwendig, dass er unsere Projekte dort überwacht und unsere Mitarbeiter besucht. Nun hat die israelische Regierung auch UN-Generalsekretär António Guterres die Einreise verweigert.
Der israelische Außenminister Katz erklärte ihn zu einer „unerwünschten Person“. Warum?
Da müssen Sie ihn fragen. Wir erhalten nie eine Begründung oder Erklärung, wenn eine Einreise verweigert wird.
Im Frühjahr erhob Israel den Vorwurf, UNRWA-Mitarbeiter seien in das Hamas-Massaker vom 7. Oktober verwickelt gewesen. Zu Recht?
Nein. Insgesamt wurden 19 Mitarbeiter beschuldigt, es gab eine interne Untersuchung dazu. In einem Fall lagen keine Beweise vor, die die Behauptungen stützen. Dieser Mitarbeiter ist wieder bei der Agentur beschäftigt. In neun weiteren Fällen reichten die Beweise nicht aus, um die Verwicklung der Mitarbeiter zu belegen. Die Untersuchung in diesen Fällen ist nun abgeschlossen. In den verbleibenden neun Fällen könnten die Beweise – sofern sie authentisch sind und sich bestätigen – darauf hindeuten, dass die UNRWA-Mitarbeiter an den Anschlägen vom 7. Oktober beteiligt waren.
Welche Konsequenzen haben Sie gezogen?
Der Generalkommissar des UNRWA hat beschlossen, dass diese neun Mitarbeiter nicht für das UNRWA arbeiten können. Ihre Veträge werden gekündigt. Es ist aber wichtig, dies ins Verhältnis zu rücken: Allein im Gazastreifen arbeiten rund 13.000 Menschen für die UNRWA. Wir sprechen also von sehr, sehr wenigen Mitarbeitern, gegen die diese Vorwürfe erhoben wurden.
Bei einem israelischen Luftangriff im Libanon wurde kürzlich der Lehrer, Ex-Schulleiter und Chef der Lehrergewerkschaft, Fateh al-Sharif, getötet. Israel beschuldigt ihn, ein Hamas-Führer im Libanon gewesen zu sein. Stimmt das?
Das UNRWA hat die betreffende Person vor mehr als sechs Monaten beurlaubt. Gegen ihn wurde ermittelt, weil er den Grundsatz der Neutralität verletzt haben soll. Jetzt ist er tot und die Untersuchung ist vertraulich, so dass wir nicht mehr sagen können. Aber wir haben nie etwas darüber gehört, dass er ein Mitglied der Hamas war, und schon gar nicht, dass er ein Befehlshaber war, wie jetzt behauptet wird.
Die israelische Regierung will UNRWA jetzt zur „Terrororganisation“ erklären und per Gesetz verbieten. Was wären die Konsequenzen?
Das wissen wir nicht. Im Moment konzentrieren wir uns darauf, den Staat Israel dazu zu bringen, von dieser Idee abzurücken. Die Frage ist: Wenn es das UNRWA nicht mehr gibt, wer würde sich dann um die palästinensischen Kinder kümmern? Ihnen eine Ausbildung geben? Ihre medizinische Grundversorgung sicherstellen? Lebensmittel, Bargeld und medizinische Grundversorgung bereitstellen? Wer wird das tun? Und wie soll das geschehen?
Warum geht Israel so gegen UNRWA vor?
Es geht darum, den palästinensischen Flüchtlingen ihren Flüchtlingsstatus zu entziehen. Dieser Status geht jedoch auf zwei sehr unterschiedliche Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen zurück: Erstens die UN-Resolution 194, zweitens die UN-Resolution 302. Mit Letzterer wurde eine Agentur eingerichtet, um die palästinensischen Flüchtlinge zu betreuen. Das UNRWA hat kein Mandat zur Rückkehr oder Wiederansiedlung von Flüchtlingen. Es hat nichts mit der Resolution 194 zu tun. Dies ist sehr wichtig, um zu unterscheiden. Das UNRWA-Mandat wird oft mit dem Recht auf Rückkehr verwechselt. Das ist ein großer Fehler. Das UNRWA hat nicht das Mandat, die palästinensischen Flüchtlinge zurückzubringen, sondern nur, ihnen Dienste anzubieten, bis eine gerechte Lösung für ihre Notlage gefunden ist.
Könnte das UNRWA nicht in das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR integriert werden?
Jede Änderung des UNRWA-Mandats muss von der Generalversammlung der Vereinten Nationen genehmigt werden. Deren 194 Mitglieder müssten über einen solchen Vorschlag abstimmen.
Das UNRWA betreibt auch Flüchtlingslager im Westjordanland, im Libanon, in Jordanien und in Syrien. Warum?
Wir haben die Aufgabe, den palästinensischen Flüchtlingen zu helfen, bis das Flüchtlingsproblem gelöst ist. Das ist unser Mandat.
UNRWA-Chef Philipp Lazzerini sagt, wenn Israel das UN-Hilfswerk verbiete, wäre das eine Bedrohung für den Multilateralismus weltweit. Warum?
Es könnte andere Länder dazu ermutigen, das Gleiche zu tun, die lebenswichtige Arbeit der Vereinten Nationen zu behindern und zu stoppen: heute in Bezug auf den Staat Israel, morgen könnte es ein anderes Land und ein völlig anderer Kontext sein. Das ist richtig. Es wäre ein sehr gefährlicher Präzedenzfall.
Deutschland hat seine Zahlungen an UNRWA, die es Ende Januar kurzzeitig ausgesetzt hatte, wieder aufgenommen und jetzt sogar erhöht.
Ja, alle Geberländer sind wieder mit an Bord, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten. Das UNRWA hat seit Beginn des Krieges auch über 150 Millionen US-Dollar an privaten Spenden erhalten, vor allem durch Einzelspenden. Das ist die höchste Summe, die wir je von privaten Spendern erhalten haben, und das ist ein Beweis für die weltweite Solidarität und das Vertrauen, das die Menschen dem UNRWA und seiner lebensrettenden Arbeit im Gazastreifen und anderswo in der Region entgegenbringen.
Kann das UNRWA ohne die Vereinigten Staaten auskommen?
Es ist sehr schwierig, denn die USA waren historisch der größte Geber. Wir hoffen daher, dass sie ihre Finanzierung wieder aufnehmen werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf