Hoffnung als politisches Prinzip: Euphorie muss systemrelevant sein
Beim Anprangern von Missständen bleibt Freude oft auf der Strecke. Doch die Bilder nach der USA-Wahl zeigen, wie wichtig sie auch politisch ist.
W ann waren Sie das letzte Mal euphorisch? Ich meine so richtig, mit einem Gefühl, als würde vor Glück gleich der Brustkorb zerspringen, als könnte man durch die halbe Stadt rennen, irgendwelche Stufen hinauf, und als müsste man dann von da oben alle angestaute Luft herausschreien. Wann noch mal?
An irgendeinem Tag in der letzten Woche, nachdem das Konzept Zeit zu einem zähen Klumpen Hubba Bubba zusammengeschmolzen war, da war plötzlich Euphorie. So richtig, im Internet. Ich habe mich dabei beobachtet, wie ich ins Netz starrte und eine Frau sah, die mit müden Augen Videos anguckte von Menschen in den USA. Sie tanzten auf den Straßen. Fielen sich in die Arme. Schrien vor Glück. Nahmen Telefonhörer ab und weinten.
Ich brauchte kurz, um diese Bilder zu begreifen, weil sie so sehr mit der Sehgewohnheit der letzten Jahre brachen. Auf den Straßen tanzen, statt zu demonstrieren. Vor Glück schreien statt vor Wut. Die Bilder zeigten Menschen, die feiern, und zwar richtig. Sie feiern die Niederlage eines der mächtigsten Arschlöcher der Welt, sie feiern sich selbst und die Hoffnung. Ausgelassenheit, Erleichterung und Glück in einem Jahr, in dem wir diese Gefühle sonst mit Abstand und durch Plexiglasscheiben betrachten wie Exponate in einem Museum.
Als ich die Euphorie der anderen sah, wollte ich auch euphorisch sein. Das Problem ist aber, dass wir Euphorie nicht gut können – wir, die die Welt besser machen wollen. Wir sind so geübt im Anprangern von Missständen und im Durchblicken komplexer Zusammenhänge, dass wir kaum Sätze bilden ohne „andererseits“.
Realismus ist nicht genug
Das ist wichtig, weil wir die Komplexität verstehen müssen, um Schlechtes besser zu machen. Andererseits (!) steht das ewige Aber oft im Weg. Wir brauchen nämlich die Euphorie wie eine Pause. Wir brauchen Momente uneingeschränkter Freude, in denen wir die Bedenken kurz auf später verschieben.
Viele Weltbessermacher:innen sind „Ja, aber“-Profis. Es gibt was zu feiern, aber noch immens viel zu tun. Es ist nötig, diese Gleichzeitigkeit mal kurz aufzulösen. Tatsächlich kostet die ständige Suche nach dem Haken eine Menge Kraft. Wenn wir uns Zeit nehmen für sogenanntes Selfcare, warum nicht auch, wie die Journalistin Vanessa Vu mal schrieb, für Community Care?
Zur Gemeinschaftspflege gehört das Feiern von Hoffnung, das ist systemrelevant. Im nüchternen Deutschland wird Hoffnung oft kleingemacht. Der Vorwurf heißt Naivität und Realitätsferne. Aber wo ist die bessere Welt, wenn nicht zumindest etwas fern vom Ist-Zustand?
Realismus war nie genug, um die Welt besser zu machen. Hoffnung hat nicht zuletzt diejenigen, die das System am meisten ächtet, immer weitermachen lassen. Deshalb brauchen wir auch als Gemeinschaft Momente der Euphorie, in denen man die bessere Welt fühlen kann und sich erinnert, dass viel mehr drin ist als nur Durchhalten.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung
Jugend im Wahlkampf
Schluss mit dem Generationengelaber!
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene
Trump, Putin und Europa
Dies ist unser Krieg
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Russland und USA beharren auf Kriegsschuld des Westens