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Historikerin über Corona-Pandemie„Alle Stimmen sind wichtig“

Menschen haben die Pandemie sehr unterschiedlich erlebt. Ein Gespräch mit Historikerin Ute Frevert darüber, wie gemeinsames Erinnern gelingen kann.

März 2020, Teststelle in einem Berliner Hinterhof: Schutzausrüstung war während der Pandemie ein alltäglicher Begleiter Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

taz: Frau Frevert, wir wollen mit Ihnen über ein Thema sprechen, das viele Menschen gerne vergessen würden: die Corona-Pandemie. Denken Sie sich jetzt auch: „Ach nee, bitte nicht“?

Ute Frevert: Die Pandemie war eine sehr unangenehme Zeit, an die sich Menschen nicht gerne zurückerinnern. In meinem privaten Umfeld spricht niemand mehr darüber, auch gesamtgesellschaftlich ist sie kaum Thema. Dabei bedeutete sie für alle einen massiven Einschnitt, der sich in der biografischen Einordnung des vergangenen Jahrzehnts spiegelt. Auch ich teile Erlebnisse der letzten Jahre in die Zeit vor und nach Corona ein.

taz: Als wäre dazwischen ein Loch.

Frevert: Etwas einschneidend Unangenehmes und Belastendes eben. Viele Familien haben sich damals an den Streitfragen gespalten: Erscheint man beim Weihnachtsfest mit oder ohne Maske? Hält man sich an die Regeln oder setzt man sich über manche hinweg, weil sie einen nicht zu betreffen scheinen? Das hat für viel Ärger, Frust und Leid gesorgt.

Bild: Manfred Segerer
Im Interview: Ute Frevert

wurde geboren 1954, ist Historikerin und hat von 2008 bis 2024 das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin geleitet. Dort hat sie auch den Bereich zur Geschichte der Gefühle aufgebaut.

taz: Wo sind die Erinnerungen, wenn heute niemand über die Zeit sprechen will? In irgendeiner Schublade, die sich niemand zu öffnen traut?

Frevert: Um sich gemeinsam an eine solche Ausnahmezeit zu erinnern und ein kollektives Gedenken zu formen, braucht es Jahre und Jahrzehnte. Das kriegt man nicht sofort hin. Menschen, die Schlimmes erlebt haben, neigen zunächst dazu, ihre Erfahrungen für sich zu behalten, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen. Als erstes wollen sie in sowas wie eine Normalität zurückkommen. Oft entwickeln erst Kinder und Enkel eine Neugier, fragen nach und fangen mit der Gedächtnisarbeit an.

taz: Also beschäftigen wir uns erst 2045 wieder mit Corona?

Frevert: Das würde mich nicht wundern. Da bin ich allerdings nicht mehr dabei. Aber wer weiß, vielleicht werden die Texte, die ich darüber veröffentlicht habe, dann als Quelle benutzt.

taz: Sie forschen zur Geschichte der Gefühle. Warum sollte man sich als Historikerin und auch wir als Gesellschaft überhaupt damit beschäftigen?

Frevert: Emotionen, ob Angst, Dankbarkeit oder Wut, sind handlungsleitend. Gefühle motivieren oder demotivieren, durch sie agieren Menschen auf eine bestimmte Art und Weise. Ihrerseits versuchen politische, wirtschaftliche oder zivilgesellschaftliche Akteure, auf diese Gefühle Einfluss zu nehmen. Das ließ sich auch während der Pandemie beobachten. Rückblickend kann man klarer erkennen, wie das funktioniert hat und wodurch Angst, Vertrauen oder Misstrauen entstanden sind.

taz: Welche Gefühle haben die Pandemie geprägt?

Frevert: Anfangs gab es ein überbordendes Vertrauen für die Regierung, die unter Abwägung dessen, was sie wusste, die richtigen Entscheidungen zu treffen versuchte. Aber wo Vertrauen ist, stellt sich schnell auch Misstrauen ein. Mit der Zeit wuchsen die Zweifel: Sind derart rabiate Eingriffe in die Grundrechte und unsere individuelle Lebensführung tatsächlich gerechtfertigt?

taz: Müssen wir die Maßnahmen aus heutiger Perspektive neu bewerten?

Frevert: Sicher, denn wir müssen aus den Fehlern lernen, um für die nächste Katastrophe gerüstet zu sein. Trotzdem finde ich es problematisch, rückblickend den Stab über alle damaligen Akteure zu brechen. Als Historikerin lernt man, wenn man sich mit vergangenen Szenarien und Situationen beschäftigt, sich auf den Wissensstand der damaligen Zeit zu begeben. Man kann nicht aus dem, was wir heute zu wissen meinen, das Handeln früherer Generationen be- und verurteilen. Das gilt auch für 2020.

taz: Als die Todeszahlen in die Höhe schossen, galt ab März 2020 ein Kontaktverbot, später im Winter gab es Ausgangssperren, Schulen mussten schließen und zwischenzeitlich durfte man in manchen Städten nicht mal mehr auf einer Bank im Park ein Buch lesen. Wie betrachten Sie das rückblickend?

Frevert: Die Politik musste sich auf die Wissenschaft verlassen und daraus ihre Konsequenzen ziehen. Aber auch die Wissenschaft lieferte nur begrenztes Wissen. Der Virologe Christian Drosten hat immer wieder darauf hingewiesen, dass das, was wir heute wissen, morgen schon als unzureichend oder überholt gelten kann. Mit diesem Mut zur Vorläufigkeit und Uneindeutigkeit kamen viele Menschen nicht zurecht. Gerade in einer Krisenzeit erwarteten sie klare, widerspruchsfreie Aussagen. Die aber konnte es nicht von Anfang an geben.

taz: Ein Problem, das weit über die Pandemie hinausgeht.

Frevert: Als deutlich wurde, dass selbst Virologen keine allwissenden Götter waren, bot das manchen einen Grund, sich vollständig von der Wissenschaft und ihren Ratschlägen für die Politik abzuwenden. Die Gesellschaft spaltete sich, Verschwörungstheorien kamen in Umlauf. Diese Entwicklung ist nicht durch Corona entstanden, aber sie hat sich in der Pandemie verschärft.

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taz: Dabei saßen wir alle mehr oder weniger im selben Boot.

Frevert: So haben es die meisten auch wahrgenommen, und es gab eine starke Solidarität. Man hielt sich an Regeln, um sich selber, aber auch andere zu schützen; Menschen kauften Gutscheine, um das Geschäft nebenan zu unterstützen, halfen der älteren Nachbarin bei den Einkäufen. Man bedankte sich bei den Pflegekräften, die Übermenschliches leisteten. Solidarität und Dankbarkeit waren überwältigende Gefühle und sie fußten auf dem Bewusstsein gemeinsamer Betroffenheit, über Klassen und Kulturen hinweg. Menschen auf der Sonnenseite des Lebens konnten genauso erkranken und sterben wie solche mit weniger Ressourcen.

taz: Nur ist die Solidarität dann von manchen Gruppen aufgekündigt worden.

Frevert: Mit der Folge, dass die Aggressivität auf allen Seiten wuchs. Vor allem, als es im Dezember 2020 den ersten Impfstoff gab.

taz: Bedeutete der Impfstoff für viele nicht eher eine große Erleichterung?

Frevert: Natürlich. Aber manche wollten sich nicht impfen lassen, was andere als Aufkündigung der Solidarität empfanden. Gleichzeitig stieg durch die Impfungen das Gefühl von: Was kann mir schon passieren? Wenn man sich weniger vulnerabel fühlt, nimmt auch die Bereitschaft ab, sich aktiv um Dritte zu kümmern.

taz: Wir waren also ab dem Zeitpunkt nicht mehr solidarisch miteinander, als wir uns sicherer fühlten?

Frevert: Das begann schon früher. Die Solidarität hielt nur etwa ein halbes Jahr an. Anschließend gab es immer mehr Misstrauen und Denunziationen: Der eine war unerlaubt auf der Straße unterwegs und sprach mit mehr Leuten, als er durfte. Der andere zog seine Maske im Supermarkt zu tief unter die Nase. Ich sage hier übrigens bewusst „der“. Frauen haben sich deutlich mehr an die Regeln gehalten als Männer. Besonders junge Männer, die ihre Unverwundbarkeit zeigen wollen.

taz: Viele junge Menschen haben stark unter den Maßnahmen gelitten, zugleich wurde von ihnen erwartet, besonders solidarisch mit den Alten zu sein. Auch da ist viel Frust entstanden. Wenn wir gemeinsam erinnern wollen, müssen wir nicht auch diese Gefühle anerkennen?

Frevert: Alle Stimmen sind wichtig und müssen in dieser Erinnerung ihren Platz finden. Das heißt aber nicht, dass sie das gleiche Gewicht haben. Das hatten sie in der konkreten Situation nicht, und das werden sie auch in Zukunft nicht haben können. Was trotzdem nottut, ist ein offenes Ohr für sehr verschiedene Probleme.

taz: Viele haben sich in ihren Gefühlen und ihrer Wahrnehmung zu irgendeinem Zeitpunkt isoliert gefühlt. Für die einen haben die Einschränkungen vielleicht zu anhaltenden psychischen Problemen geführt, den anderen fehlte die Solidarität für ihre Long-Covid-Erkrankung. Ist ein gemeinsames Erinnern da überhaupt realistisch?

Frevert: Gemeinsames Erinnern heißt ja nicht, dass alle das Gleiche erinnern. Nehmen wir die Weltkriege: Heutzutage gedenken wir am Volkstrauertag sehr verschiedener Erfahrungen und Opfergruppen. Für eine Gesellschaft ist es aber wichtig, überhaupt so einen Gedenktag zu haben und sich über das, was man erinnern will, auszutauschen. Bundespräsident Steinmeier hat ja 2021 auf eine offizielle Corona-Trauerfeier gedrängt …

taz: … das war in Berlin im Konzerthaus, es war eine Gedenkfeier für die in der Pandemie Verstorbenen. Zu dem Zeitpunkt waren schon über 70.000 Menschen mit dem Virus gestorben.

Frevert: Er hat damit erreicht, dass die ganze Gesellschaft hinschaut und sich mit dem Leid vieler Einzelner konfrontiert. Es sprachen Hinterbliebene, ganz unterschiedlich Betroffene, Kinder und alte Menschen. Es ging nicht um kritische Aufarbeitung der Regierungspolitik. Es ging darum, dass man diese Schicksale an einem Ort versammelt und sie gemeinsam betrauert.

taz: In welcher Form ließen sich solche Jahrestage wiederholen?

Frevert: Der Bundestag könnte einen Corona-Gedenktag ausrufen, verbunden vielleicht mit einer Ausstellung oder Installation, die den Stress, aber auch die Vielfalt der Erfahrungen und Betroffenheiten abbildet. Man könnte Lesungen aus Tagebüchern und Briefen veranstalten, um die Geschehnisse von damals in ihrer Vielstimmigkeit zu vergegenwärtigen. Man könnte öffentliche Gespräche darüber organisieren, welche Lehren wir als Gesellschaft, aber auch als Einzelne daraus ziehen.

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taz: Pandemien und Epidemien spielten vor Covid in unserem kollektiven Gedächtnis in Deutschland kaum eine Rolle. Das war eine neue Erfahrung. Warum erinnern wir uns nicht?

Frevert: Interessant ist der Vergleich mit der Spanischen Grippe, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs wütete und ungleich mehr Opfer forderte. Damals wurde nicht innegehalten, es gab keine offiziellen Trauerfeiern, keine gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung. Das lag vor allem daran, dass die existenzbedrohenden Krisen und Katastrophen in rascher Folge auf die Menschen einprasselten. Der Bruder starb auf dem Schlachtfeld, die Schwester an der Grippe, und der Tod war allgegenwärtig.

taz: Seit 2020 häufen sich auch bei uns die Krisen – Krieg in der Ukraine, Krieg in Nahost, die Klimakrise, und so weiter.

Frevert: Aber kaum eine dieser Krisen betrifft uns direkt und existenziell. Das tat nur Corona. Darauf waren wir, war die Gesellschaft nicht vorbereitet. Gerade deshalb ist es wichtig, zurückzuschauen und Bilanz zu ziehen – um für künftige Bedrohungen, die sicher kommen werden, gewappnet zu sein.

taz: Wie lässt sich das Gefühl der Solidarität aus den ersten Pandemiemonaten erhalten? Inwieweit können wir im Erinnern ein Gefühl des Zusammenhalts wieder stärken?

Frevert: Gefühle können nicht erhalten oder wiederbelebt werden, sie haben ihren eigenen Rhythmus. Aber man kann analysieren, woran die anfängliche Solidarität zerbrochen ist; man kann die Kipppunkte identifizieren, an denen der gesellschaftliche Konsens aufgekündigt wurde. Dabei sollten wir der Pandemie nicht zu viel aufbürden und sie nicht als alleinstehende Krise begreifen. Sie war eine besondere Herausforderung, aber nicht die Einzige, die diese Gesellschaft auszuhalten hat. Das hat Konsequenzen dafür, wie wir sie erinnern – Erinnerung ist nicht unschuldig.

taz: Wie meinen Sie das?

Frevert: Erinnerung ist immer selektiv und interessengeleitet. Wie wir was als Gesellschaft erinnern, hat mehr mit unserer Gegenwart und Zukunft zu tun als mit unserer Vergangenheit. Das Motto, unter dem wir uns an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust erinnerten, hieß: Nie wieder! Bei der Pandemie aber ist das nicht möglich, denn Pandemien sind, anders als Kriege und Verbrechen, nicht geplant und menschengemacht. Daher muss auch die Erinnerung an Corona eine andere sein als die an historische Katastrophen, die Menschen bewusst herbeigeführt haben.

taz: Wer entscheidet überhaupt, welche Erzählungen in das kollektive Gedächtnis einfließen? Dürfen das alle mitformen?

Frevert: Wenn Sie die Frage vor 100 oder 150 Jahren gestellt hätten, wäre die Antwort gewesen: entscheidend sind die Geschichten alter weißer Männer. Seit den 1970er Jahren haben sich die Geschichten demokratisiert, Vielstimmigkeit wird geschätzt. Wie die Stimmen am Schluss gewichtet werden, ist eine andere Frage.

taz: Aktuell wird die Pandemie in einer Enquete-Kommission des Bundestags aufgearbeitet. Reicht das?

Frevert: Dass es offizielle Einrichtungen gibt, die Geschehenes kritisch sichten und Verantwortlichen auf den Zahn fühlen, ist wichtig und Teil des demokratischen Prozesses. Indem ihre Arbeit medial vermittelt wird, nimmt auch die breitere Öffentlichkeit daran teil. Gesamtgesellschaftlich greift das jedoch zu kurz. Was außen vor bleibt, ist, wie sich die Gesellschaft, zusammengesetzt aus vielen diversen Einzelnen, verhalten hat: wie sich die Beziehung von Nähe und Distanz, von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verändert hat.

taz: Müssen sich Menschen bei anderen für ihr Verhalten in der Pandemie entschuldigen, um sich zu versöhnen?

Frevert: „Wir werden uns später für vieles entschuldigen müssen“, hat Jens Spahn als damaliger Gesundheitsminister gesagt. Das war wahrscheinlich die größte Weisheit, die er jemals von sich gegeben hat – aus dem Bewusstsein heraus, dass man der ungewohnten Herausforderung angesichts eines begrenzten Wissens immer nur unvollkommen und fehlerhaft begegnen konnte.

taz: Unabhängig von Jens Spahn, ist die Entschuldigung nicht auch Teil von Gedenken und Historie?

Frevert: In der Tat gehört die Entschuldigung seit drei, vier Jahrzehnten zum Ritual internationaler Geschichtspolitik. Staatsmänner entschuldigen sich für die Taten ihrer Vorgänger, um die Beziehungen zu jenen, bei denen man sich entschuldigt, zu verbessern. Wichtiger als eine Entschuldigung wären bei Corona Introspektion und kritische Reflexion auf allen Seiten – im Vorgriff darauf, dass die nächste Pandemie nicht auf sich warten lassen wird.

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1 Kommentar

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  • Spahns Satz mag weise sein, es war nur leider eine Weisheit im eigenen Interesse - denn Spahn ahnte wohl, was an Unions-Spezlwirtschaft ans Licht kommen und dass er u.a. den richtigen Punkt für den Masken-Stopp nicht hinbekommen würde.



    Ansonsten seien wir im Kleinen gnädig. Doch mit Ausnahmen.