„Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance: Aufstieg für Abgehängte
Unser Autor hat „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance beim Erscheinen positiv besprochen. Jetzt, da Vance als Trumps Vize nominiert ist, liest er das Buch erneut.
Wie kann ein Mann, der von tief unten kommt und über seine schwere Kindheit und Jugend ein grandioses Buch geschrieben hat, das auf Anhieb zum New York Times-Bestseller wurde, obwohl der Autor ein unbeschriebenes Blatt war, wie kann ein solcher Mann, der es geschafft hat, dem Schlamassel seiner Herkunft zu entkommen, den alten, längst ausgeträumten amerikanischen Traum noch einmal Wirklichkeit werden lassen und vom Tellerwäscher zum Millionär aufsteigen?
J. D. Vance ist 39 und wurde auf dem Parteitag der Republikaner von Trump zu seinem Vizekandidaten ernannt. „J. D. is kissing my ass, he wants my support“, wurde Trump zitiert, der mit dieser beiläufigen Bemerkung zu verstehen gab, dass er sich wie jeder autoritär denkende Machtmensch gerne mit Leuten umgibt, die ihm nicht widersprechen. Das hat viel mit Erniedrigung und einem Belohnungssystem zu tun, in dem Unterwürfigkeit, Hörigkeit und Vasallentreue die entscheidenden Charaktereigenschaften sind, die nötig sind, um in der politischen Hierarchie eines ganz auf Trump zugeschnittenen Systems aufzusteigen.
Für diese außergewöhnliche Karriere benötigt man eine opportunistische Ader, die über das übliche Maß hinausgeht. Hinter der Biografie von J. D. Vance verbirgt sich jedoch eine Geschichte, die er in seinem Buch „Hillbilly-Elegie“ niedergeschrieben hat, in dem sich nachlesen lässt, wie in der weißen Arbeiterschaft ein Milieu entstehen konnte, in dem die Abneigung gegen das politische Establishment so groß ist, dass man sogar gegen seine eigenen Interessen zu wählen bereit ist.
1984 in Middletown, Ohio aufgewachsen, erlebt Vance hautnah den Niedergang einer Region, die zum Rust Belt wurde, also zum verrosteten Eisen, das in besseren Zeiten dort einmal verarbeitet wurde. Die Leute verlieren ihren Job, sitzen in ihren noch nicht abbezahlten Häusern, resignieren, fangen an zu trinken, kriegen frühzeitig Kinder, und nicht selten landen sie irgendwann im Knast.
Die Erinnerung daran, dass man früher stolz auf seine Arbeit sein konnte, verflüchtigt sich, es bleibt ein grundsätzliches Misstrauen gegen jede Veränderung, jedes Versprechen und alles Neue. Die „Hillbillys“, d. h. die „Hinterwäldler“ aus den Appalachen, sind die Stammwählerschaft Trumps, hier ist das Land der Waffenlobby. Vance wächst in diesem Milieu auf. Die Mutter ist drogenabhängig und Alkoholikerin, hat ständig wechselnde Partner, der Vater ist verschwunden, der Sohn antriebslos, pummelig und ständig auf der Hut vor der nächsten Katastrophe, die jederzeit über ihn hereinbrechen kann.
Liest man die „Hillbilly-Elegie“ vor dem Hintergrund der Karriere noch einmal, fällt einem auf, dass der Bucherfolg auf einer gewissen Sozialromantik beruht, die durchaus mit Vance’ reaktionären Positionen als Trump-Vize in Einklang gebracht werden kann, und dafür muss man nicht mal wissen, dass ihm schon immer die Tränen gekommen sind, wenn er Lee Greenwoods Parteitagshymne „Proud to be an American“ hörte.
J. D. Vance erzählt in seinem Buch eine Geschichte, die sehr aufschlussreich ist, weil er damit zeigen will, dass die prekäre materielle Situation bestenfalls ein Teil der Erklärung für den Niedergang sein kann. Ausführlich legt er dar, wie er in einem mittelständischen Betrieb für Fliesen arbeitet. Die Bezahlung ist gut, die Arbeit allerdings körperlich anstrengend. Trotz hoher Arbeitslosigkeit gelingt es den Abteilungsleitern nicht, den von Vance vorübergehend ausgeübten Job mit einem festen Angestellten zu besetzen.
Einer seiner Kollegen ist 19 und hat kurz vor Vance angefangen. Vance nennt in „Bob“. Bobs Freundin ist schwanger und der Geschäftsführer bietet ihr „netterweise“ einen Job am Schreibtisch an, wo sie Telefonate entgegennehmen soll.
„Beide machten ihren Job sehr schlecht“, schreibt Vance. Die Freundin erscheint nur jeden dritten Tag oder zu spät, Bob fehlt einen Tag in der Woche und verschwindet viermal am Tag für längere Zeit auf der Toilette. Bob hatte also vermutlich keine Lust zu arbeiten. Er ist die personifizierte Erinnerung an Vance’ eigene Jugend.
Keine echte Sympathie für Abgehängte
Aber wie geht Vance damit um? Ein Kollege und Vance stoppten die Zeit, die Bob auf dem Klo verbrachte, und riefen dann quer durch die Lagerhalle die rekordverdächtige Zeit. „Schließlich wurde Bob entlassen“, schreibt Vance lapidar. Kein Wunder bei solchen Kollegen, könnte man hinzufügen, denn Vance hatte im Kleinen nichts anderes gemacht als Bild, der es immer eine Schlagzeile wert ist, wenn sich ein derartiges Obstruktionsverhalten der „faulen Unterschicht“ anprangern lässt.
Vance hegt für die Abgehängten also doch nicht Sympathien, wie er in seinem Buch immer wieder behauptet, sondern nur, wenn sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Nicht sehr einfühlsam schreibt er: „Die Leute an Orten wie Middletown reden ständig darüber, wie hart sie arbeiten. Man kann durch die Stadt gehen, in der dreißig Prozent der jungen Männer weniger als zwanzig Stunden in der Woche arbeiten, und keinen einzigen Menschen finden, der sich seiner eigenen Faulheit bewusst ist.“
Faulheit oder Unlust sind jedoch keine Kategorien, mit der sich eine rationale Politik begründen lässt, weil man damit ganz schnell bei Nazi-Begriffen wie „Sozialschmarotzer“ landet, bei Fremdenphobie und der Aussortierung „unwerten Lebens“.
Genau das steht aber auf der politischen Agenda Trumps, wenn er die „Massendeportation“ von 10 bis 17 Millionen bislang geduldeten Einwanderern ohne Papiere verspricht, die wie selbstverständlich auf dem republikanischen Parteitag als „Mörder“ und „Vergewaltiger“ beschimpft werden, faktisch jedoch vier Prozent der arbeitenden Bevölkerung stellen, die im Jahr 2021 31 Milliarden an Steuern erwirtschafteten, die ihnen direkt vom Lohn abgezogen werden.
Ullstein, der bisherige Verlag der deutschen Übersetzung „Hillbilly-Elegie“, hat sich nach der Nominierung von J. D. Vance als Trumps Vizepräsidenten-Kandidat entschlossen, die Lizenz nicht zu verlängern. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 2016 habe sich Vance von Trump distanziert. „Inzwischen agiert er offiziell an dessen Seite und vertritt eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“, teilte der Verlag mit. Der Münchner Verlag Yes-Publishing hat die Lizenz erworben und bringt das Buch am 15. August neu auf Deutsch heraus.
Obwohl sie eine andere Einstellung zur Arbeit haben als „Bob“ und im Sinne von Vance vorbildlich sind, steht Ihnen das Glück nicht zur Seite, weil sie nicht den richtigen Pass haben.
J. D. Vance hatte das Glück. Er besitzt nicht nur den richtigen Pass, die Marines machen aus dem antriebslosen Jugendlichen einen Mann, der weiß, was er will, er absolviert an der Law School in Yale ein Jurastudium, er hat den richtigen Förderer (den Investor Peter Thiel aus Silicon Valley), wird Anwalt und gründet schließlich eine Familie. Für einen Drogenabhängigen hingegen, schreibt Vance selbst, besteht das Glück darin, an einer Überdosis Heroin zu sterben.
Insofern handelte es sich bei J. D. Vance um eine gelungene Resozialisierung für einen bestimmten traditionellen Lebensentwurf, der nicht jedermanns Sache ist. Verholfen zu diesem kometenhaften Aufstieg haben ihm die Strukturen der WASP, der White Anglo-Saxon Protestant, wie die alte Oberschicht an der Ostküste des Landes heißt, deren Werte er zunächst teilte.
Nach seiner Wandlung zum Trump-Fan und Ernennung zum Vizepräsidentschaftskandidaten ist man versucht, vielleicht doch eher von einer misslungenen Resozialisierung zu sprechen, weil er sich letztlich doch nie von seiner Redneck-Vergangenheit gelöst hat und immer noch so denkt wie der White Trash.
Vance hat in seiner Parteitagsrede versprochen, die Aufstiegschancen der Bewohner dieser Armutsregionen zu erhöhen. Wie das aussehen wird, kann niemand sagen, da er die Verlierer aus seiner Heimat vor allem durch die Brille desjenigen sieht, der es geschafft hat, die soziale Stufenleiter hochzuklettern, d. h. die meisten sind dann doch eben selber schuld, wenn sie der Armut nicht entkommen und nicht den kranken Ehrgeiz eines J. D. Vance aufbringen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt