Herrlich, was sie „Umvolkung“ nennen: Jeder Fünfte migrationshintergründig
Es hat sich hierzulande viel geändert. 18,6 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund.
Das ist tatsächlich eine interessante Information, mit der das Statistische Bundesamt in dieser Woche die Medien zu füllen wusste: 18,6 Millionen Menschen in Deutschland seien solche mit – sogenanntem – Migrationshintergrund. Eine Ziffer, die im Vergleich mit 2015 um 8,5 Prozent gestiegen sei. Überwiegend sei dieser Wert auf die Ankunft von Flüchtlingen zurückzuführen, aber nicht allein sie seien es, die die Bundesrepublik „anders“ machten.
Anders als was, möchte man fragen. Grob gesprochen: Es hat sich viel verändert. Ältere wird das nicht wundern, Frauen und Männer, die seit den frühen sechziger Jahren Alltag in diesem Land verbringen. Nahm sich die Bundesrepublik noch vor einem halben Jahrhundert ethnisch monochrom aus – durchschnittliche Haarfarbe: straßenköterblond –, so war es damals kein Wunder, dass alle Menschen, die, als „Gastarbeiter“ neu im Land waren und irgendwie „mediterran“ aussahen, als Ausländer galten, als nicht zugehörig zum Deutschen.
Die Ethnisierung von allem, was deutsch ist, war vollständig – und das war auch deshalb kein Wunder, weil der deutsche „Volkskörper“ ja bis 1945 alles tötete, was angeblich nicht zu diesem passte.
Ein etwas grobpixelig gehaltener Blick auf deutsche (oder schwedische, französische, britische) Alltagsszenen belehrt: Im Vergleich zu früher hat sich der Look geändert. Jene, die einst als „Gastarbeiter“ galten, sind längst ansässig, sind Angehörige der jeweiligen Gesellschaft ihrer Länder.
Heutzutage wäre es einer glänzenden Schriftstellerin wie Astrid Lindgren – oder dem Deutschen James Krüss – nicht mehr möglich, die Hauptfiguren ihrer Erzählungen hellhäutig zu skizzieren: So sieht ja weder die schwedische noch irgendeine andere Wirklichkeit mehr aus. Das hauptsächlich hat sich geändert: Die „ethnisch“ purifizierten Gesellschaften sind längst multiphänotypisch gestrickt: Eine Schwedin kann Ayşe Larsson heißen, sofern sie den Familiennamen ihres Mannes angenommen hat; ein Deutscher wie ein Bernd Lehmann dereinst kann heute auch Gökhan Caymoğlu heißen.
Langweilige Exheimat
Das zu verstehen fällt den einen wie den anderen schwer. Die einen, den Urdeutschen, fällt es – öfters auch rassistisch begründet – schwer, im türkischstämmigen Nachbarn einen Deutschen zu erkennen, selbst wenn dieser seit 50 Jahren in, sagen wir: Bad Oeynhausen ansässig ist, die Kinder allen Bildung voraussetzenden Untiefen zum Trotz zum höchsten Schulabschluss gebracht hat und sich in einer der Parteien kommunalpolitisch einbringt. Und Letzterem ist es schwierig, sich anders denn als Türken zu identifizieren, obwohl er (oder sie) nur noch lose, oft langweilende Verbindungen zum Exheimatland hat.
Die Ethnisierung (oder: Kulturalisierung) steht der staatsbürgerlichen Integration mehr denn je im Wege – dabei rät schon ein Blick auf die jüngere historische Entwicklung, dass es ein indigenes Deutsches gar nicht gibt. Das sogenannte deutsche Volk, von dem – nur konservative oder völkische – Rechte delirieren, hat es streng genommen nie gegeben.
Bilder der Woche
Jede*r, der einen Familiennamen trägt, der auf -owski oder -czyk endet, gibt familiäre Wurzeln im polnischen Sprachraum zu erkennen, alle, die ein -sen oder -son tragen, hatten vor gar nicht langer Zeit im Skandinavischen ihre sogenannten Wurzeln. Insofern ist die nun veröffentlichte Zahl von den fast ein Fünftel Bürger*innen, die aktuell einen sogenannten Migrationshintergrund haben, falsch. Haben doch etwa 80 Prozent aller in Deutschland Lebenden einen Abstammungshintergrund, der in der Bundesrepublik in den heutigen Grenzen geografisch nicht zu finden ist.
Dennoch zeigen die Zahlen, dass das deutsche Volk ein anderes geworden ist. Und das ist, was Rechte fürchten. Sie sprechen demgemäß im Zusammenhang mit den neuen Bürger*innen, die als Flüchtlinge jüngst kamen (und noch kommen) von „Umvolkung“ der Deutschen – und wer das Deutsche als indigen Lupenreines verstehen will, muss das auch so sehen.
Tupperdosendichte Grenze
Unsereins sieht das natürlich anders. Gesellschaften erneuern sich stetig, in puncto Bevölkerung vor allem – einzig abgesehen von Nordkorea, wo es nicht einmal Wanderarbeiter*innen aus dem benachbarten China möglich ist, dortselbst neue Wurzeln zu schlagen, so tupperdosendicht ist die Grenze in den Norden verschlossen. Aber Deutschland? Mitten in Europa, unentwegt im Strudel von Völkerwanderungen und Wanderarbeitsströmen – was mal innerkontinental eine Größe war, ist es nun in globaler Hinsicht. Wer jetzt und in Zukunft hier zu leben beabsichtigt, wird das zum größten Teil auch können.
Wie sehr jede aktuelle Statistik in die Irre (der spontanen Wahrnehmung eine*s jede*n) führt, belegt auch, dass im heutigen Alltagsbewusstsein von Kindern Hühnerfrikassee, das einst Hugenotten im 18. Jahrhundert bei ihrer erwünschten Einwanderung nach Preußen brachten, nur als deutsche Speise empfunden wird; vielmehr Spaghetti, Döner und Falafel als deutsche Imbisse gelten, ja, als deutsches Futter, nicht als italienisch, türkisch oder arabisch. Und wenn von „Ausländern“ sogenannt indigene Deutsche als „Kartoffel“ abfällig bezeichnet werden, verkennt dies doch zugleich, dass der Erdapfel ein kulturell hübsch appropriiertes Gemüse war, das erst über den kolonialen Rücktransport aus Chile und Venezuela unter anderem nach Mitteleuropa gebracht wurde.
Im südbadischen Oberrimsingen feiern sie ein großes Fest. Was ist es, das ein Dorf zusammenhält? Das steht in der taz.am wochenende vom 5./6. August. Außerdem: Das Bienensterben könnte uns alle ins Verderben führen. Manche wollen deshalb Bienen im Baum halten. Letzte Rettung oder Schnapsidee? Und: Der Schweizer Martin Suter ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Ein Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Kurzum: Kultur ist ein flüssiges Ding, sie verändert sich durch Mixturen unentwegt. Das, was Rechte im Übrigen am meisten sorgt, ist die Vermischung. Dass also indigene Deutsche mit extürkischen Deutschen zum Schnackseln kommen – und ethnisch neue Deutsche hervorbringen. Und das auch noch im Massenmaßstab: Gut, das! Mit sexuell Hybridisierendem ist schon viel ethnisch gesinnter Rassenwahn ausgehebelt worden.
Das eigentliche, falls man überhaupt von einem solchen sprechen möchte, Problem ist nicht die Quote der migrantischen oder nichtmigrantische Deutschenzahl, sondern das konkrete Zusammenleben. Sehr wohl muss vermerkt werden, dass gerade mittelschichtige Deutsche pikiert darauf achten, dass ihr Nachwuchs nicht mit den aufstiegswilligen neuen Deutschen (in spe) auf eine Schule geht. Segregation wird also das Thema sein müssen, also die klassenmäßig organisierte Fähigkeit, sich gegen die Ansprüche der eben eingewanderten Deutschen zu verwahren – in „Gated Communities“ oder, viel wahrscheinlicher, durch eine Schulwahl, die die Ayşes und Gökhans ausschließt.
Eine staatsbürgerlich verantwortliche Politik hat also als Utopie keine Gerechtigkeit zu versprechen, sondern mehr Gemeinsinn, Gemeinschaft, Inklusion. Eine Politik, die dem Einwanderungsland Deutschland die nötige Hitze verpasst, um den neuen Bürger*innen Aufstiege zu ermöglichen. Die Rate von gut 18 Prozent aktuell migrantionshintergründiger Deutscher wird jedenfalls nicht zu halten sein – sie wird größer werden. Ist das nicht eine lebendige, eine prima Aussicht?
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