piwik no script img

Heimweh und SehnsuchtVier Jahre und vier Monate

Früher wurden spätestens alle zwei Jahre die Koffer gepackt. Mittlerweile ist die letzte Reise nach Hause lange her – zu lange.

Das Meer und das Salz, sogar in der Luftröhre Foto: Brett Meliti/Unsplash

V ier Jahre und vier Monate warst du nicht zu Hause. Du schreibst diesen Satz in deiner Küche. Zuvor drückte sich die Sehnsucht durch deine Nasenlöcher wie Salzwasser, wenn dir im Meer eine Welle ins Gesicht klatscht. Es brennt etwas und es bringt deine Atmung durcheinander. „Nicht so schlimm“, denkst du, weil du das Meer liebst und auch das Salz, sogar in der Luftröhre.

Vier Jahre und vier Monate sind eine lange Zeit. Du warst noch nie so lange weg, beziehungsweise warst du noch nie so lange nicht da. Deine Mutter seufzt jeden Sonntag „vielleicht nächstes Jahr“ in den Hörer. Früher habt ihr jedes zweite Jahr die Koffer gepackt: Handcreme in Sandalen, Multivitaminbrausetabletten in die Zwischenräume, Aufgabegepäck 18 Kilo, schwerer hin und leichter zurück.

Ein ganzer Tag von Haustür zu Haustür, der tiefste Schlaf in einem Bett ohne Matratze, das nach der ersten Nacht einen blauen Fleck auf deiner Hüfte hinterlässt. Zwischen Ayis Fingern fällt eine Apfelschalenspirale auf den gläsernen Tisch. Um 家 zu schreiben, musst du j-i-a tippen und das erste vorgeschlagene Zeichen auswählen, oder du setzt zehnmal den Stift an.

In deiner Abwesenheit wurden zwei Kinder geboren und ein Erwachsener ist gestorben. Ob er tatsächlich weg ist, wenn du das nächste Mal in der dunklen Erdgeschosswohnung Straßenschuhe gegen Plastikschlappen tauschst, ist unklar. Du kannst es nicht überprüfen, ohne eine lange Kette an Hürden abzuarbeiten – bürokratische, finanzielle, politische. Eigentlich willst du aber gar nichts überprüfen. Du fragst dich, ob du jetzt Flugangst hast.

Auf der Suche nach vergessenen Szenen

Die Erinnerung läuft im Kreis, ab und zu läufst du die Innenseite deiner Augenlider ab, suchst nach vergessenen Szenen, vorsichtig, du rationierst einen Vorrat, von dem du nicht weißt, wann er erschöpft ist. Niemand will das noch hören, immer das Gleiche: Hitze. Zu kalte Klimaanlagen. Melonen. Alte Leute, die frühmorgens in der Mall Handflächen durch die Luft schieben. Du, die du dir genüsslich die Zungenspitze an der Brühe in den Xiaolongbao verbrennst. Lilafarbenes Licht und Whitney Houstons Stimme aus schlechten Lautsprechern. Niemand will das noch hören, am wenigsten du selbst.

„Vor mehr als vier Jahren“, hast du neulich geantwortet, als jemand dich fragte: „Wann warst du das letzte Mal da?“, um dich danach zu mustern, als hätte sich für jedes Jahr einer deiner Körperteile in Luft aufgelöst. Tags darauf hast du angefangen jeden Morgen Reissuppe zu essen, nicht als könnte der Brei deine Entfremdung aufhalten.

Du bist dir nicht sicher, ob nun die Welt eine andere geworden ist oder doch vielmehr du in ihr, weil du aufgehört hast dich regelmäßig nach Osten zu strecken und jetzt verknotete Muskeln zwischen den Schulterblättern trägst. Gegen Halsschmerzen in einem viel zu kalten August gurgelst du mit Salzwasser und verschluckst dich mit Absicht, weil du das Meer liebst, sogar in der Luftröhre.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Fern von zu Hause - noch nie hat mich ein Text zu diesem Thema so angepackt wie dieser Text. Vielleicht will er gar nicht "packen", nur "ruhig" etwas zur Sprache bringen. Aber "etwas" ist dafür schon zu stark. Es muss auch den Leser packen, wenn es sich"wirklich" mitteilen will. Das muss es, Umschreibung ist unmöglich geworden:



    *Gegen Halsschmerzen in einem viel zu kalten August gurgelst du mit Salzwasser und verschluckst dich mit Absicht, weil du das Meer liebst, sogar in der Luftröhre.*

    Ein starker Text.

  • Wenn Flüge niht mehr klimaschädigend sind, werden häufige Reisen in die alte Heimat vertretbar sein.

    • @meerwind7:

      Wenn ich das richtig verstehe, sind Flüge in die Heimat, sofern die Heimat China heißt, zur Zeit nicht wegen es Klimas passe, sondern wegen der Auflagen: nur Impfungen mit Sinovac werden anerkannt, aber das gibt es hier nicht. Ohne Sinovac muss man 2 Wochen in Quarantäne - auf eigene Kosten, berechnet werden 3000,- Euro, ohne Ausgang und ohne Wenn und Aber.



      Korrigiert mich, wenn das falsch ist.

  • auch wenn im Kommentar kein ich Bezug aufkommt,



    so ist es doch irritierend, wenn von



    "die letzte Reise nach Hause lange her –zu lange"



    gesprochen wird.



    Was ist "zuhause", was ist "Heimat"?



    Benötigt man in der globalisierten Gesellschaft den Bezug jedes Jahr?



    Dann wird man wohl die CO2 verursachende Mobilität noch lange alleine zu dem Zwecke "nach Hause" zu fahren, fliegen, benötigen.

    • @fly:

      Wenn man "Zuhause" seine Familie hat, dann ist ein jährlicher Besuch für die meisten üblich. Auch wenn man für sich eine neue Heimat gefunden hat, nichts ersetzt die Wiedersehensfreude wenn man die Oma in den arm nimmt oder den kleinen Cousin, der viel zu viel gewachsen ist...