Ein Leben voller Heimweh: Keine Flucht aus dem Kummer

Mit mehreren Nationalitäten und Kulturen aufzuwachsen bringt Vorteile mit sich. Ein Nachteil? Man kämpft ein Leben lang mit Heimweh.

Bluehende Kirschbäume mit Lampions

Sehnsuchtsmoment: Blühende Kirschbäume am Hanami-Fest im Frühling in Tokio Foto: Moritz Wolf/imageBroker/imago

Vor einigen Wochen lief ich meine abendliche Spazierrunde im Berliner Humboldthain. Als ich durch die Tore des Rosengartens ging und zwischen Gebüschen den gepflegten Blumengarten betrat, erblickte ich zwei kleine Mädchen. Vermutlich im Alter von drei bis fünf. Beide trugen rosa Sommerkleider und rannten kreischend an mir vorbei. Während ihr Lachen den Park umhüllte, blieb in meinem Hals ein Klumpen Schwermut stecken.

Mit mehreren Nationalitäten aufzuwachsen hat seine Vorteile. Hat die Familie genug Geld, Stabilität und Glück, wachsen die Kinder mit verschiedenen Kulturen und Sprachen auf. Sie haben dann ein breiteres Wissen über Geographie, Politik und Geschichte – aber auch Kunst, Musik und Film. In meinem Fall ist der Cocktail aus Japan und Deutschland zusätzlich vom Vorteil, denn die beiden Länder strotzen vor Privilegien.

Der Nachteil von so einem Leben ist, dass man stets Heimweh hat. Nach Orten, Lebensgewohnheiten und Menschen. Ich war acht oder neun, als ich zum ersten Mal realisierte, dass ich nun dauerhaft in Deutschland leben würde. In einem Land, in dem ich die Sprache nicht verstand. In der Umkleidekabine der Turnhalle brach ich in Tränen aus, ich muss das Wort Japan geschluchzt haben. Meine Mitschülerinnen umzingelten mich und fragten: „Hast du Heimweh?“

Der Begriff brannte sich ein in mein Vokabular wie eine Narbe.

Nicht am Leben der Familie teilhaben können

Es gibt keinen Tag, an dem Heimweh nicht auftaucht. Nach den kulinarischen Köstlichkeiten, die sich an Straßenständen aneinanderreihen. Nach den heißen Sommertagen mit singenden Zikaden und angenehmem Winter mit läutenden Tempelgongs.

Aber vor allem ist es die Familie, die fehlt. Großeltern, die jährlich schrumpfen. Cousins, die heiraten und Kinder kriegen. Die einzige Schwester, die man hat, die eigentlich immer hinter einem hergelaufen ist, die immer alles nachmachen musste – und auf einmal ist sie erwachsen und lebt acht Zeitzonen entfernt. Alle zwei Wochen halte ich mir meinen Sonntagmittag frei, um mit einem Brunch vor dem Bildschirm zu sitzen und Stunden lang zu plaudern, während sie beim Abendessen ist. Um dann von der Stille verschluckt zu werden, sobald sie auflegt.

Seit meinem letzten Aufenthalt in Japan hat meine Familie ein neues Leben gewonnen und ein anderes verloren. Die Freude und der Schmerz fühlen sich surreal an, solang die Geschehnisse nur über das Handydisplay verlaufen. Es erwischt einen alles auf einmal, sobald man sich sieht – oder eben nicht.

Keine Ruhe vom Vermissen

Beim Spazierengehen denke ich stets an den Moment der Landung. An beschleunigte Schritte, die am Flughafen in Tokyo zielstrebig gen Ausgang gerichtet sind. An den Moment, wenn ich in die erfreuten Gesichter blicke, die am anderen Ende der automatisierten Türen auf mich warten. Der Moment, an dem alles gut werden wird, weil ich endlich da bin nach so langer Zeit.

Nur wird es diesen Moment nicht geben, zumindest nicht so vollkommen, wie ich es mir wünsche, denn Heimweh verfolgt mich weiter. Er tritt ein, bevor ich überhaupt gelandet bin. Es ist die Wehmut über den Ort, den ich verlassen muss. Das Vermissen derjenigen, die ich in Deutschland zurücklasse. Freundinnen und Freunde. Eltern. Das nächtliche Tanzen an der Spree. Das Arbeitsumfeld, weil ich mit vielen tollen Menschen zusammen arbeite. Eine der Heimaten fehlt immer, wo auch immer ich mich aufhalte.

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In Tokyo und Hamburg aufgewachsen, Auslandsjahr in Shanghai. Studium in Berlin, Chongqing und Halle. Schreibt seit 2021 für die taz. Kolumnistin des feministischen Magazins an.schläge (Foto: Hella Wittenberg)

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