Halbzeit für Rot-Rot-Grün: Die Bilanz fällt durchwachsen aus
Was hat Rot-Rot-Grün von den Zielen im Koalitionsvertrag bislang umgesetzt? Und was nicht? Eine Bestandsaufnahme (Teil 1).
Halbzeit von Rot-Rot-Grün: Die taz.berlin nimmt das zum Anlass für eine Bestandsaufnahme: Was hat R2G in der ersten Hälfte der Legislaturperiode von den Zielen im Koalitionsvertrag in den Bereichen Digitales, Inklusion, Klima, Bildung, Soziales, Sicherheit, Verkehr, Wohnen, Arbeit und Kultur umgesetzt? Und was nicht? Hier die ersten fünf Ressorts:
DIGITALES
Berlin ist digitaler Spitzenreiter: Damit überraschte pünktlich zur R2G-Halbzeit eine Studie des Fraunhofer-Instituts. Denn etwa 60 Prozent der BerlinerInnen verlagern die Kommunikation mit den Behörden ins Internet, wodurch die Koalition ihrem erklärten Ziel, „Verwaltungsprozesse zu digitalisieren“, näher kommt. Auch ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im IT-Bereich seit 2017 um 20 Prozent gestiegen.
Laut Studie verfügt die Hauptstadt zudem über gut ausgebautes, schnelles Internet, das bald noch einmal an Tempo zulegen könnte. Seit 2018 stattet die Telekom im Auftrag der Senatswirtschaftsverwaltung das Stadtgefüge mit zusätzlichen Antennen für den neuen Mobilfunkstandard 5G aus – noch vor Bekanntgabe, an wen die Bundesnetzagentur die Lizenz vergibt. Das dürfte weitere Zukunftstechnologie-Unternehmen hierher locken, insofern sie Arbeitsräume finden: Der Plan von R2G, die Gewerbeflächen für „Zukunftsorte“ und „Inkubatoren“ auszuweiten, geht bei einem Leerstand von unter 2 Prozent aktuell nicht auf.
Dennoch kann der Senat einen Erfolg für das angestrebte „Innovationsnetzwerk“ der vollautomatisierten Industrie 4.0 verbuchen: Siemens kommt nach Spandau zurück. Das Unternehmen investiert 600 Millionen, um in Siemensstadt einen Innovationscampus entstehen zu lassen. Jedoch darf nicht auf neue Arbeitsplätze gehofft werden. In einem kürzlich dazu anberaumten Bürgerdialog erklärte ein Konzernsprecher, dass vorerst nur der Erhalt bestehender Beschäftigungsverhältnisse im Fokus stehe.
Von der digitalen Zukunftsmusik kommt in den Berliner Schulen nur wenig an. Viele Bildungsstätten sind nicht mal ans Breitband angeschlossen. Falls doch, müssen sich im Schnitt 5,5 SchülerInnen einen Computer teilen. Und in der Freizeit können sich die SchülerInnen und alle anderen BerlinerInnen auch nur bedingt ins kostenlose Internet einwählen. Das im Koalitionsvertrag vorgesehene „berlinweite Angebot an öffentlichen WLAN-Zugängen“ entspricht derzeit einem Teppich aus vielen Flicken, der aber kontinuierlich engmaschiger wird. Katharina Schmidt
INKLUSION
Den Koalitionsvertrag durchackern ist kein Spaß, aber beim Thema Inklusion lässt sich doch ein gewisser Ehrgeiz entwickeln: Mehr als ein Dutzend konkreter Vorhaben sind formuliert, in die mindestens sieben der zehn Senatsverwaltungen inhaltlich involviert sein sollten. „Die inklusive Gesellschaft ist die Leitidee der Politik der Koalition“ heißt es auf Seite 94.
Zur Erinnerung: Eine Gesellschaft ist dann inklusiv, wenn sämtliche Lebensbereiche so gestaltet sind, dass sie allen Menschen gleichberechtigt zugänglich sind. Bund und Länder sind gemäß UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. In Berlin gibt es mehr als 625.000 Menschen mit anerkannter Behinderung. Tendenz steigend – wir werden alle älter.
Weil Inklusion alle Lebensbereiche und damit auch alle Verwaltungen betrifft, soll eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe ein Konzept zur Umsetzung der behindertenpolitischen Leitlinien entwickeln. Diese tagte allerdings in den Jahren 2017 und 2018 gerade zweimal. Die Verwaltungen arbeiteten nicht zu, nicht alle brächten sich gleichermaßen ein, und manche schickten Menschen ohne Entscheidungskompetenz in die Arbeitsgruppe, klagten die Behindertenbeauftragten von Land und Bezirken in einem offenen Brief Ende 2018. Die „Leitidee“ Inklusion – sie liegt in der Koalition offenbar nicht obenauf.
Bei der Abfrage weiterer Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag ergibt sich noch ein anderes Problem: Verantwortungsdiffusion. Wenn quasi alle zuständig sind, fühlt sich keiner verantwortlich.
Dafür zwei Beispiele: Die Entwicklung eines Konzepts zur Mobilitätssicherung von Menschen mit Behinderung obliegt doch sicher der Verkehrsverwaltung. Die verweist „zuständigkeitshalber“ aber auf die Integrationsverwaltung, die prompt zurückverweist. Befragt zum geplanten Aufbau einer Datenbank für barrierefreie medizinische Angebote fühlt sich wiederum die Gesundheitsverwaltung nicht zuständig und verweist auf die Landesbehindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf. „Das passiert leider immer wieder“, klagt diese. Dabei habe sie als Stabsstelle weder entsprechende Kompetenzen noch Ressourcen.
In anderen Bereichen hat sich mehr bewegt: Landeswahlgesetz, Landespflegegesetz und Schulgesetz wurden zugunsten von Menschen mit Behinderung novelliert, Fördergelder für den Umbau zu barrierefreien Taxis bereitgestellt, der barrierefreie ÖPNV ist zumindest in Sicht.
Aber ein inklusiver Geist weht beileibe nicht durch die Regierung. Das liege auch an der fehlenden Sichtbarkeit des Themas, sagt die Landesbehindertenbeauftragte. „Ein Problem, über das nicht berichtet wird, ist kein Problem.“ Diese Ansage geht dann wohl an uns. Manuela Heim
KLIMA
Symbolisch hat R2G in Sachen Klimaschutz schon groß gepunktet: Im Mai 2017 beschickte der Vattenfall-Konzern das Heizkraftwerk Klingenberg letztmalig mit dem Klimakiller Braunkohle. Die Schornsteine am Spreeufer gegenüber dem Plänterwald produzieren zwar im Winter weiter dicke Dampfwolken, befeuert wird das Kraftwerk aber inzwischen mit Erdgas, das eine bessere CO2-Bilanz hat.
Das war auch schon die leichteste Übung. Denn um das noch unter Rot-Schwarz aufgestellte Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2050 zu erreichen, müssen die Kohlendioxid-Emissionen im Land gegenüber 1990 um 85 Prozent reduziert werden. Das ist ambitioniert und kann nur funktionieren, wenn auch die umfangreiche Steinkohle-Verbrennung so bald wie möglich endet, mit der in großem Umfang Strom und Fernwärme produziert werden.
Für die KlimaschützerInnen vom Bündnis Kohleausstieg steht fest: „Spätestens im Jahr 2025 muss der letzte Steinkohle-Kraftwerksblock vom Netz genommen werden.“ Aber so schnell wird es nicht gehen, zumal nicht der Senat die Kohleschaufel schwingt, sondern der Vattenfall-Konzern. Mit dem zusammen hat die Landesregierung eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, wie Berlin bis 2030 steinkohlefrei werden kann. Beschlossen ist bereits, dass Vattenfall 2020 den Block C des Heizkraftwerks Reuter in Siemensstadt durch eine sogenannte Power-to-Heat-Anlage ersetzt. Die anderen beiden Steinkohle-Kraftwerke – Moabit (siehe Foto) und vor allem die riesige Anlage Reuter West – sind ein deutlich größerer Brocken.
Noch in der ersten Hälfte dieses Jahres soll die Studie vorliegen. Ihr Entstehen wird von einem „Begleitkreis“ beobachtet, in dem Politik, Umweltverbände und Industrie vertreten sind. Dort stritt man sich letztens um die Frage, ob im Gegenzug zum Kohleausstieg die Müllverbrennung ausgeweitet werden solle. De facto wird jetzt schon im BSR-Kraftwerk Ruhleben mehr Abfall „thermisch verwertet“ als genehmigt. Grüne wie der Abgeordnete Georg Kössler wehren sich dagegen, dass die ebenfalls von Rot-Rot-Grün beschlossene „Zero Waste“-Strategie zugunsten des Klimaschutzes aufgeweicht wird.
Darüber hinaus wurde im Rahmen des Berliner Energie- und Klimaschutzprogramms 2030 (BEK) viel in Bewegung gesetzt – über Erfolge lässt sich noch wenig sagen. Unter anderem arbeiten die Senatsverwaltungen für Wirtschaft und Energie sowie für Umwelt und Klimaschutz an einem „Masterplan Solar City“, zur Bestückung der Berliner Dachflächen mit Photovoltaik oder Solarthermie. Auch eine Strategie zur energetischen Sanierung aller öffentlichen Gebäude ist in der Mache.
Immer noch nicht richtig abgehoben hat das Stadtwerk, obwohl es bezahlbaren und kommunalen Ökostrom anbietet. In jeglicher Hinsicht gut fürs Klima ist die kürzlich erfolgte Vergabe des Berliner Stromnetzes an die landeseigene BerlinEnergie, die die Energiewende beim Netzausbau aktiv vorantreiben will. Allerdings wird wohl Vattenfall als aktueller Betreiber den Wechsel noch jahrelang durch Klagen hinauszögern. Claudius Prößer
BILDUNG
Das Ressort von Senatorin Sandra Scheeres (SPD) ist wahrlich kein Ponyhof: Mangel an Kitaplätzen, LehrerInnen, ErzieherInnen und zu wenige (intakte) Schulgebäuden obendrein – das sind lange gewachsene Probleme. Dennoch, wenn Eltern keinen Kitaplatz finden oder ihrem Kind in der Schule die Decke auf den Kopf fällt, werden sie unwillig: In einer Forsa-Umfrage zu den Beliebtheitswerten der Senatsmitglieder rangierte Scheeres zuletzt auf dem letzten Platz.
Tatsächlich fällt ihre Halbzeitbilanz durchwachsen aus; Scheeres größtes Problem: Bildungspolitik ist ein schwerer Tanker, das Umsteuern dauert. Es dauert, bis die neuen Schulen fertig sind – selbst wenn man die Bauzeiten mit vereinfachten Planverfahren und standardisierten Fertigbauten halbiert hat. Und auch wenn die Unis ihre Studienplatzkapazitäten, wie im Koalitionsvertrag versprochen, „massiv erhöht“ haben auf plus 50 Prozent Studierende im Lehramtsmaster. Bis die fertig studiert haben, dauert es eben.
Hinzu kommt, dass Scheeres zwar oft die richtigen Schräubchen dreht, aber eben nicht immer das ganz große Rad. Beispiel Quereinsteig: Die Betreuung der in den vergangenen zwei Jahren massenhaft eingestellten QuereinsteigerInnen in Kita und Schule, sie hat sich verbessert. Es gibt jetzt einen einwöchigen Crashkurs vor Jobbeginn, und ein Patenprogramm in den ersten Schulwochen. Die Kitas haben mehr Anleitungsstunden für die SeiteneinsteigerInnen bekommen.
Doch lösen mehr Betreuung und auch eine umstrittene Brennpunktzulage – 300 Euro Gehaltsbonus für die Arbeit an Schulen in schwieriger Lage –, kein grundsätzliches Problem. Schulen in benachteiligten Kiezen haben überproportional viele, nicht voll ausgebildete PädagogInnen. Die mögen jeder für sich großartig sein, müssen aber selbst ihren Beruf erst noch erlernen – und dabei vom Start weg mit einer herausfordenden Schülerschaft umgehen. „Jede Schule soll Ausbildungsschule werden“, hatte Scheeres im Januar appelliert, doch bei dem Appell ist es vorerst geblieben.
Leistungsfähiger sollen Schulen werden, auch das stand im Koalitionsvertrag. Die Abschlüsse sollen besser werden. Tatsächlich gab es zuletzt aber wieder mehr SchülerInnen ganz ohne Abschluss.
Als Reaktion hatte Scheeres im Januar eine „Qualitätsoffensive“ angekündigt: mehr Deutsch- und Mathestunden, mehr Leistungskontrollen. Das ist richtig, aber wenn die Ressourcen insgesamt nicht stimmen, dreht man damit eben nur wieder am Schräubchen: In den Schulhorten hat sich der ErzieherInnen-Schlüssel nicht verbessert. Es gibt zwar mehr Schulsozialarbeit, aber eben auch mehr verhaltensauffällige und überhaupt mehr Kinder. Die Bedingungen, unter denen die zusätzlichen Deutschstunden stattfinden, ändern sich nicht. Anna Klöpper
SOZIALES
Hier hat sich R2G viel Gutes vorgenommen – und einiges auch umgesetzt. Anfang 2018 wurden zum Beispiel die Mietkostenzuschüsse angehoben. Folge: Weniger Menschen müssen umziehen, weil ihre Wohnung zu teuer ist fürs Jobcenter oder Sozialamt, oder müssen einen Teil der Miete mit ihrem Regelsatz selbst bezahlen.
Weniger erfolgreich ist die Koalition, Wohnungslosen zu einer Wohnung zu verhelfen, etwa Flüchtlingen. Die Vermittlungszahlen des Landesamts für Flüchtlinge sind 2018 gegenüber 2017 gesunken. Und obwohl der Senat wie angekündigt veranlasst hat, dass auch Flüchtlinge einen WBS bekommen können, hapert es an deren Ausstellung, sagt der Flüchtlingsrat.
Auch der Neubau von Modularen Unterkünften für Flüchtlinge (MUF) geht nicht so schnell wie geplant – wegen Streitereien um Grundstücke, Baupfusch etc. Dafür sollen die Containerdörfer, die R2G erst gar nicht wollte, länger als die vorgesehenen drei Jahre stehen bleiben. Und: Schneller als geplant sollen MUF und Containerdörfer allen Wohnungssuchenden mit wenig Geld offen stehen. Positiv auch: Zur Halbzeit von R2G gibt es mehr Wohnraum für Flüchtlingsfrauen – für sie und ihre Kinder wurden zwei Heime eingerichtet, ein Drittes ist fast nur mit Frauen und Kindern belegt.
Noch nicht Realität ist der im Koalitionsvertrag versprochene „Heim-TÜV“, der die Qualität von Heimen – für Flüchtlinge und Obdachlose – sichern soll. Seit Juni 2018 läuft ein „Pilotprojekt Beschwerdemanagement“, 2020 soll es flächendeckend losgehen.
Doch um die Qualität aller Heime zu sichern, braucht man einen Überblick, wo es überhaupt welche Plätze gibt. Den hat Berlin bei den Obdachlosen bis heute nicht, weil das die Bezirke machen. Die Koalition hat sich daher die „gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung von Wohnungslosen (GStU)“ vorgenommen. Damit sollen dann – irgendwann – alle bedürftigen Menschen in „qualitätsgeprüfte und bedarfsgerechte Unterbringungen“ vermittelt werden, so die Sozialverwaltung. Weil man aber jetzt schon weiß, dass es zu wenig Heimplätze gibt, soll zugelegt werden. Ziel sind u. a. 100 Notschlafplätze für Familien (aktuell gibt es 30), und 50 Notplätze für Frauen (aktuell 40). Die Kältehilfe wurde schon ausgebaut auf 1.200 Plätze in diesem Winter.
Weitere Maßnahmen wurden auf zwei Strategiekonferenzen beschlossen, aber größtenteils noch nicht umgesetzt. Dazu gehört eine Zählung der Obdachlosen und mehr Mitarbeiter in den bezirklichen Wohnhilfen. Susanne Memarnia
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