Grundsicherungsempfänger Artur Streit: Ein zu kleines Stück vom Kuchen
Artur Streit hat 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt und erhält nur die Grundsicherung. Jetzt demonstriert er regelmäßig vor der SPD-Zentrale.
Demnach sollen Menschen, die 35 Jahre gearbeitet und Pflichtbeiträge in die Rentenkasse eingezahlt haben, ohne Bedarfsprüfung monatlich bis zu 447 Euro mehr erhalten können. Auch Erziehungs- und Pflegezeiten würden eingeschlossen. Artur Streit ist einer von denen, über die sie sagen: „Wer Jahrzehnte hart gearbeitet hat, sollte eine anständige Rente bekommen, die deutlich über der Grundsicherung liegt. Damit sorgen wir für mehr Leistungsgerechtigkeit!“
Andreas Nahles hat das getwittert, Hubertus Heil sich ähnlich in Talkshows und anderen Gesprächen geäußert. Artur Streit, 59, bezieht diese Grundsicherung – und hat lange und hart gearbeitet. „Auf 30 Beitragsjahre komme ich mindestens“, sagt er, „vielleicht sogar noch auf ein, zwei mehr.“ Nach jetzigem Stand wird ihm das nichts bringen. Die Grundsicherung als Abschreckung soll bleiben, wie sie ist.
„Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ erhalten in Deutschland alle, von denen wegen ihres Alters oder aus gesundheitlichen Gründen nicht erwartet werden kann, mehr als drei Stunden am Tag zu arbeiten, um ihre „materielle Notlage“ zu verbessern. Der Regelbedarf orientiert sich an dem von Hartz IV, liegt seit Januar 2019 bei 424 Euro, und ist eine „bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistung“, die dann greift, wenn nichts anderes mehr da ist. Im September 2018 bezogen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 1,07 Millionen Menschen in Deutschland Grundsicherung. Seit der Einführung 2003 steigen die Zahlen, sind mittlerweile mehr als doppelt so hoch wie noch vor 15 Jahren.
Viele Renten könnten unberührt bleiben
Streit lässt seinen Zigarettenstummel zu Boden fallen, sieht ihm einen Moment lang hinterher. Dann schiebt er sich langsam aus seiner braunen Lederjacke. Erst den einen Arm, dann … wenn Streit etwas einfällt, das er dringend sagen möchte, hält er inne. „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Noch während er so dasteht, in der zur Hälfte ausgezogenen Jacke, mit dem einen Arm noch im Ärmel und dem zweiten Ärmel, der wie ein leerer Bogenköcher auf seinem Rücken liegt, zündet Streit sich die nächste Zigarette an.
„Aber er geht nicht weit genug. Ausgerechnet die besonders armen Rentner könnten leer ausgehen.“ Nach einigen Zügen wechselt er die Hand, damit er auch den zweiten Arm aus der Jacke schälen kann. „Es wird Zeit, dass in Deutschland wieder so über soziale Ungerechtigkeit gestritten wird wie gerade in Frankreich.“ Er streift sich eine gelbe Weste über.
Tatsächlich könnten viele Renten von Heils Plänen unberührt bleiben, wenn diese nicht auch das Studium oder Zeiten von Arbeitslosigkeit berücksichtigen. Noch ist ungeklärt, ob sie mitgemeint und die Grundsicherung so gegebenenfalls vermieden werden könnte. Warum aber beziehen immer mehr Menschen in Deutschland Grundsicherung? Florian Blank vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in Düsseldorf beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage.
Er sagt: „Weil das allgemeine Rentenniveau sinkt, holt die Grundsicherung von unten auf. Zugleich haben viele Menschen geringere Ansprüche, etwa wegen Arbeitslosigkeit. Immer weniger gelingt es daher, die Grundsicherungsschwelle zu übertreten.“ Genau das möchte Hubertus Heil nun ändern: Er möchte die gesetzliche Rente stärken, sodass der Abstand zur Grundsicherung größer wird.
Brüche im Lebenslauf
Also auch zu Menschen wie ihm, zu Artur Streit. Doch sieht so Leistungsgerechtigkeit aus? In Streits Lebenslauf steht ein zehnjähriges Psychologiestudium mit Abschluss als Diplompsychologe, 30 Jahre Sozialarbeit, zum Teil mit Festanstellung, zum Teil auf Honorarbasis. Als sozialpädagogischer Einzelfall-, Familien- und Schülerhelfer ging Streit in Familien, begleitete Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, half ihnen, unterstützte sie.
„Hatte heftige Fälle dabei“, sagt Streit. „Drogenabhängige Eltern, gewaltbereite Jugendliche, vernachlässigte Kinder.“ Diese Art der Familienhilfe ist heute größtenteils über freie Träger wie die Diakonie organisiert, war früher jedoch direkt bei den Jugend- oder Sozialämtern angesiedelt. Jene beschäftigten die Helfenden, darunter auch Artur Streit, überwiegend auf Honorarbasis. Er zahlte in diesen Jahren freiwillig in die Rentenkasse ein, viel aber war das nicht.
Es sind die Jahre, die ihm heute fehlen. Nur einen geringen Rentenbetrag bekommt Streit von dem, was er selbst eingezahlt hat, heraus. Den Großteil muss der Staat aufstocken. Streit seufzt. „Honorararbeit, Brüche im Lebenslauf, Zeiten von Arbeitslosigkeit – dann sieht es schlecht aus.“ Auf 35 Jahre zu kommen, ist ihm nicht gelungen, und in Zukunft, so glaubt er, würden das noch viel weniger Menschen schaffen. Vor allem nicht Akademiker wie er.
Streit sagt, sein Psychologiestudium war vielleicht ein Fehler. Weil die Arbeit, die er über so viele Jahre leistete, qua Qualifikation die eines Sozialarbeiters ist. Für jeden Job, den er in dem Bereich ausübte, benötigte der Berliner eine Sondergenehmigung. Das hat ihm oft Jobs verbaut. Und dann so vieles mehr: Streit hat keinen Führerschein, Jobs im Berliner Umland konnte er nicht annehmen. Für das Thema seiner Diplomarbeit fand er zunächst keinen Professor, der es betreuen wollte. Also studierte er länger als beabsichtigt. Noch heute zahlt Streit seine BAföG-Schulden ab. Der Plan, nach Thailand auszuwandern, scheiterte. Mit einer Weiterbildung, die er sich aussuchte, traf er die falsche Wahl.
Streit baute Anfang der 2000er einen freien Träger mit auf, wurde bei der „Initiative für Berliner Einzelfall- und Familienhilfe e. V.“ (Ibef) Geschäftsführer. Im Zuge der Auswirkungen der Berliner Bankenkrise kürzte der damalige SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin im Jahr 2003 das Budget für den ambulanten Kinder- und Jugendhilfebereich von 520 auf 380 Millionen Euro. Artur Streit verließ die Ibef, wollte auswandern. Nachdem er aus Thailand zurückgekehrt war, arbeitete er erneut als Familien- und Einzelfallhelfer, mal mit fester Anstellung, mal auf Honorarbasis. Dann wurde er krank, so schwer krank, dass er nicht mehr arbeiten gehen konnte. Lange Zeit war er krankgeschrieben, besuchte eine Reha, bezog Arbeitslosengeld und schließlich Hartz IV.
Artur Streit, bezieht Grundsicherung
Heftiger Wind vor dem Willy-Brandt-Haus stößt Streits Plakat um, der hebt es auf und stellt es zurück an den SPD-Würfel. Guckt es sich selbst noch einmal an, seine Forderung nach einem Hartz-IV- und Grundsicherungssatz von 511 Euro, die ganz oben auf seiner Liste steht. Das ist der Betrag, den die Hartz-IV-Kommission vor der Einführung des ALG II 2005 für ein menschenwürdiges Leben berechnet hatte. „Und 14 Jahre später sind wir, trotz Preissteigerung, gerade einmal bei 424 Euro angelangt.“ Und doch wäre er froh, wenn er heute noch auf Hartz-IV-Niveau wäre. Vergangenen April aber rieten ihm Jobcenter-Sachbearbeiter, statt Hartz IV Grundsicherung zu beantragen. Ein Fehler, wie Streit jetzt weiß. Denn bis dahin durfte er sich zum Regelsatz 100 Euro dazuverdienen.
Bei der Grundsicherung gilt diese Freibetragsregelung dagegen nicht. Streit sagt, 424 reichen – „zum Überleben, nicht zum Leben.“ Bekannte von ihm gingen Flaschen sammeln, die meisten arbeiteten nebenher schwarz. Er selbst gibt Nachhilfe, unterrichtet Schüler*innen in Englisch, Französisch, Mathe. 10,23 Euro brutto verdient er pro Stunde. Das jetzt für ihn zuständige Bezirkssozialamt Friedrichshain-Kreuzberg verlangt von ihm, 70 Prozent seines Gewinns abzuführen. Nur drei Euro bleiben ihm. Eigentlich wollte er sich von dem Geld einen neuen Computer kaufen. „Ohne wirke ich doch völlig aus der Zeit gefallen. Ich muss mich informieren können“, sagt Streit. Das sei jedoch „Vermögensbildung“, meint seine Sacharbeiterin. Auf taz-Anfrage meldet sich diese, trotz mehrfacher Nachfrage, nie zurück.
Streit überlegt nun, ob er nicht doch mehr als drei Stunden am Tag arbeiten könnte, oft aber geht es ihm zu schlecht. Er klemmt sein Plakat unter den Arm und geht. Er hebt die schweren schwarzen Schuhe immer nur knapp vom Boden und schlappt über den Asphalt.
Aber was wäre die Alternative? „Als Rentner weißt du, du bleibst auf diesem Niveau für den Rest deines Lebens. Ein Stück Kuchen in einem Café wäre nie wieder drin. Das ist unerträglich.“
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