Grünen-Parteitag in Leipzig: Zwei Linke für Europa
850 Delegierte legen sich fest: Ska Keller und Sven Giegold führen die Grünen in den Europawahlkampf. Wofür stehen sie?
Keller, 36, wird die deutschen Grünen also im Europawahlkampf anführen. Zusammen mit ihrem Co-Spitzenkandidaten Sven Giegold soll sie das ökologische, soziale und humane Europa verkörpern, dass sich die Grünen wünschen. Und im November, das ist absehbar, wird sie zum zweiten Mal als Spitzenfrau der europäischen Grünen gewählt. Die Frau mit kurzem Haar und Drachen-Tattoo auf dem Oberarm könnte jederzeit in einem Werbefilm für Europa auftreten.
Geboren in Guben, einer Kleinstadt an der polnischen Grenze, heute wohnhaft in Brüssel und Berlin, verheiratet mit einem Finnen. Die studierte Islamwissenschaftlerin und Turkologin spricht sechs Sprachen, neben Deutsch noch Englisch, Französisch und Spanisch, Katalanisch und Türkisch. Seit 2009 sitzt sie im Europaparlament, seit Ende 2016 ist sie Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion. Ihre Schwerpunkte im Europaparlament sind Migrations- und Handelspolitik, außerdem sitzt sie im Innenausschuss.
Ihre Leidenschaft für Europa begründet sie am Rednerpult auch mit ihrer Herkunft. Es habe lange gedauert, bis es eine Busverbindung über die deutsch-polnische Grenze gab – oder bis man für ein Telefongespräch nach Polen nicht mehr den Auslandstarif zahlen musste. „Als Ossi weiß ich, dass Demokratie erstritten werden muss. Und dass man sie immer wieder verteidigen muss“, schreibt sie in ihrer Bewerbung.
Über reichlich Selbstbewusstsein verfügt sie sowieso. Hat sie Angst vor der Konkurrenz durch Emmanuel Macron, der ja zusammen mit den Liberalen antritt? Nö, eher nicht. „Was Macron in Frankreich macht, hat wenig mit grüner Politik zu tun“, sagt sie. Da tue sich nichts in punkto Umweltschutz.
Etwas belehrend, aber immer präzise
Das Duo Keller und Giegold steht auch für das Ende grüner Flügelstreits. Beide werden den linken Grünen zugerechnet. Die traditionelle Logik, wonach die Realos und die Linken im Spitzenduo jeweils einen Kandidaten oder eine Kandidatin stellen, wird also ignoriert. So, wie es die Grünen schon im Januar dieses Jahres taten, als sie Annalena Baerbock und Robert Habeck in den Parteivorsitz wählten.
Sven Giegolds kleiner Sohn hat Kreidezähnchen. Sobald sie aus dem Kiefer wachsen, bröckeln sie weg. Führende Ärzte denken, dass die Belastung durch Chemikalien schuld ist. Er wolle sich mit der Chemielobby anlegen, sagt Giegold in seiner Bewerbungsrede. Die giftigen Chemikalien müssten aus dem Alltag raus. „Ich persönlich bin es meinem kleinen Sohn schuldig.“
Eigentlich ist Sven Giegold, 48, nicht der Typ für Emotionales. Der Sprecher der deutschen Grünen im EU-Parlament liebt trockene Fakten. Auf lockere Sprüche antwortet er sachlich, im näselnden Tonfall eines Schalterbeamten, etwas belehrend, aber immer präzise. Dass er die Krankheit seines Kindes auf dem Grünen-Parteitag in Leipzig erwähnt, zeigt, wie wichtig ihm die Sache ist.
Traumergebnis von knapp 98 Prozent
Die Grünen-Delegierten wählten ihn mit dem sozialistisch anmutenden Traumergebnis von knapp 98 Prozent. Giegold faltet auf der Bühne die Hände, er sieht aus, als fasse er es nicht. Dann schwenkt er neben Keller linkisch eine Europafahne, die ihm jemand nach oben reicht.
Giegold engagierte sich in den achtziger Jahren politisch in der Umweltbewegung. Später gründete er den deutschen Ableger von Attac mit – seit 2009 sitzt er für die Grünen im Europaparlament. Dort konzentriert der gläubige Protestant sich auf Wirtschaftspolitik, er arbeitete zum Beispiel maßgeblich am Green New Deal mit, der grünen Antwort auf die Finanzkrise.
Alle Parteien seien gegen die AfD und irgendwie für Europa, sagt Giegold. Aber wenn es darum gehe, schmerzhafte Sachen in Deutschland zu vertreten, duckten sich manche weg. „Ich möchte mich anlegen mit den Sonntagseuropäern.“ Giegold lobt in seiner Rede strategisch, etwa die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, die die Bechsteinfledermaus im Hambacher Forst rettete, oder die sozialen Errungenschaften.
Sein Credo: Europa könne man nur verbessern, wenn man Erfolge betone.
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