Kommentar Grünen-Parteitag in Leipzig: Wunschdenken schadet nicht

Ihr Programm könnte den Staatenbund tatsächlich nach vorne bringen. Die Grünen feiern auf ihrem Parteitag Europa – und sie tun gut daran.

Vier Politiker*innen der Grünen

Berauscht vom Europawahlkampf: Annalena Baerbock, Ska Keller, Sven Giegold und Robert Habeck Foto: dpa

Die Grünen sind ganz bei sich. Was auf dem Parteitag in Leipzig zu spüren war, ist heitere Gelassenheit, viel Selbstbewusstsein und Lust aufs Gestalten. Sven Giegold, der Spitzenkandidat für die Europawahlen, betont, dass man die Erfolge Europas wertschätzen und loben müsse, um es zu verbessern. Das ist der richtige Akzent, um Menschen für die oft als abstrakt empfundene EU zu interessieren. Gerade von links hört man oft die These, die neoliberale EU müsse abgerissen werden, bevor sie wiederaufgebaut werden könne. Die Grünen feiern Europa, und sie tun gut daran.

Sie beweisen einmal mehr, dass sie sich nicht mehr wegen Kleinkram ineinander verbeißen. Manchmal kippt der grüne Pragmatismus allerdings ins Absurde. Beispiel Winfried Kretschmann: Der grüne Ministerpräsident aus Baden-Württemberg provozierte in Abwesenheit mit harschen Interviewaussagen zur Flüchtlingspolitik: „Junge Männerhorden“ gehörten in die Pampa geschickt. Spitzengrüne deuteten Kretschmanns Verachtung fürs Parteiprogrammatik kurzerhand zum Plädoyer für dezentrale Unterbringung um. Nichts darf die schöne Geschlossenheit stören.

Dennoch: Das grüne Europaprogramm könnte den Staatenbund – würde es Wirklichkeit – nach vorne bringen. So wirbt die Partei etwa für einen Klimapass. Industriestaaten, die für den Klimawandel verantwortlich sind, sollen Geflüchtete aus Staaten aufnehmen, die durch steigende Meeresspiegel bedroht sind. Diese Logik ist einfach, aber richtig. Dass In­dus­triestaaten die Folgen ihres immensen Ressourcenverbrauchs bis heute ignorieren, ist ein fortgesetzter Skandal.

Es reicht längst nicht mehr, Konzepte zu fordern, die die Erderwärmung abbremsen. Politik muss die realen Folgen managen. Die Grünen sind die einzige Partei in Deutschland, die sich dieser Aufgabe ernsthaft stellt. Nun kann man immer zynisch sagen, dass solche Beschlüsse nicht umsetzbar sind. Aber Resignation bedeutete das Ende fortschrittlicher Politik. Ein bisschen Wunschdenken, das haben die Grünen verstanden, schadet nicht.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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